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2. Eine Winterfahrt ins Gebirge.

Von J. C. Heer.

Wie haben sich die Zeiten geändert! – Als Johann Winckelmann, der seinem Jahrhundert die erhebende Schönheit der Bildwerke des klassischen Altertums offenbarte, bei prächtigem Wetter über die Alpen nach Italien fuhr, ließ er die Vorhänge der Fenster seiner Kutsche zuziehen, damit die unschönen, häßlichen Formen der Berge sein Auge nicht beleidigten.

In unserer seltsamen Zeit aber gibt es Käuze, die aus lauter Lust an den Bergen mitten im Winter aus dem molligen Behagen der Städte aufbrechen und ins wilde Hochland ziehen.

Wir waren eine kleine Gesellschaft solcher Käuze.

In München heulte der Schnee- und Regensturm durch die Straßen, naß und verdrießlich klatschte er die Flocken an die Wagen der elektrischen Bahn, und kein guter Mensch hätte einen Hund ins Freie gejagt.

An solchem Tag pilgerten wir in die bayrischen und Tiroler Berge.

Es schneit, und die Räder der Eisenbahn singen unter uns: »Närrische Leute – närrische Leute!« Sie singen es von München bis Starnberg. Da reißt auf einen Augenblick der Wolkenschleier, der dicker als ein Fuhrmannsmantel ist, und ein flüchtiger Strahl Wintersonne setzt den Schnee in Rembrandtbeleuchtung. Frischbeschneite Tannen, schwarze Wellen, dunkle wogende Nebel und ein Streifen hoffnungsreichen Silberlichts! – Poesieverklärte Melancholie, Geist von jenem Geist, der in diesen Wassern Frieden und Stillung der Schmerzen gesucht hat. Wir kommen in die Waldlandschaft, wo die märchenhaften Erinnerungen an den schönheitsdurstigsten und unglücklichsten aller Schwärmer walten, die je den königlichen Purpur getragen haben, in das geheimnisvolle Reich Ludwigs II., der, obwohl bald anderthalb Jahrzehnte tot, dem Volk dieser Gegend noch ein Lebendiger ist. Die Bauern vom Starnberger- zum Walchensee würden kaum überrascht sein, wenn am späten Abend eine Stafette unter die Türe träte: »Mit Fackeln an die Straße, Majestät fährt um Mitternacht zum ›Jäger am See‹!« Und freudig wie einst stellten sie sich an den Weg und warteten die langen Stunden, bis der König im sausenden Viergespann voll Pracht und Herrlichkeit auftauchte, mit einem leichten Nicken des dunklen Lockenhauptes grüßte und im nächsten Augenblicke verschwände in der Nacht. – – –

Der Lichtstrahl auf dem See ist erloschen, nie wieder fährt der König durch die Aufgebote der treuen Bauern, es schneit, es regnet, und vom Starnberger- zum Kochelsee singt die Eisenbahn: »Närrische Leute – närrische Leute!«

Im lieblichen Kochel gibt es ein Wirtshaus, das seinen altertümlichen Giebel, seine balkongeschmückte Mauerfront mit den kleinen Fenstern breit und stattlich gegen die Straße kehrt, und darin lassen sich ein paar trübe Stunden, in denen das Wetter nicht weiß, was es will, wohl verbringen. Hübsche alte Bauernhäuser mit weißgetünchten Mauern, braunem Holzwerk und halbverwaschenen Heiligenbildern und allerlei Heimeligem schauen in die Fenster des Gasthauses; durch die Stille des kleinen Dorfes klingt hell der Hammer des Schmieds von Kochel und weckt das Gedenken an jenen tapfern Vorgänger, der, von sieben Söhnen begleitet, mit der Losung der Bauern »Lieber bayrisch sterben als kaiserlich verderben!« in die Schlacht von Sendling gezogen ist und am Weihnachtstag des Jahres 1705 darin mit allen sieben den Tod gefunden hat.

Der Chef unserer Reisegesellschaft aber, ein Architekt, der eine schöne deutsche Stadt mit Prachtgebäuden schmückt und dabei ein kühner Bergsteiger ist, gibt die Parole aus: »Auf nach Walchensee!«

Die Bauern, die neben uns ihr Bier trinken, schütteln die Köpfe. Wer mag bei dem himmeltraurigen Wetter nach dem Walchensee fahren, wo es gewiß noch trauriger ist!

»Auf nach Walchensee!« – Es ist drei Uhr nachmittags. Die Glöckchen am Hals der Rosse erklingen, und im leichten Regen verlassen wir die Idylle von Kochel und fahren im Schlitten auf der Straße, die sich an seinem See dahinzieht, und grüßen die schmuckvollen Landhäuser des Ufers. Da geschieht etwas Sonderbares! Während es noch regnet, beginnen Streifen des Sees in einem Licht zu leuchten, von dem man nicht weiß, woher es kommt. Wie flüssiger Saphir schmiegt sich die Flut in die Buchten, türkisne Flächen erschimmern inmitten des Sees. Allmählich hört es auf zu regnen und zu schneien, unsere Schlitten biegen die Windungen und Zickzacke der Straße empor, die vom Kochelsee zwischen den Felsschroffen des Kesselberges und den Waldgehängen des Herzogstandes nach dem volle zweihundert Meter höher gelegenen Walchensee steigt und sich nicht nur an Schönheit der Anlage, sondern auch an Romantik der Umgebung mit mancher berühmten Hochalpenstraße messen kann.

Und plötzlich entwickelt sich ein entzückendes Schauspiel. Wie von einer unsichtbaren Hand beherrscht, teilen sich die Wolken und Nebel über den Ufern des Kochelsees. Aus dem öden Moor, das sich mit baufälligen Torfhütten und verkrüppelten Föhren vom flachen Ufer des Sees gegen das alte Kloster Benediktbeuren zieht, bricht in hellen Flammen unterirdisches Feuer. Jedes Bäumchen, jeder Grasbusch brennt, über die Breite hin wandern die Lohen wie alles zerstörender Präriebrand, zugleich erglüht der See in Pfauenfederglanz, in metallischen grünen und blauen Tönen, die Fels- und Waldschroffen, die darein tauchen, werfen ultramarine Schatten; hinter Schlehdorf, dessen Häuser in elektrischer Helle stehen, ragen in einen Horizont so dunkelblau wie der dunkelste Enzian traumfern und schemenhaft hohe Berge, und alle Lichter spielen so eigenartig, daß ein Maler, der diese sanfte, stimmungsreiche Abendlandschaft in einem Gemälde wiedergäbe, kaum gläubige Beschauer finden würde.

An der Straße stehen die schweigenden verschneiten Tannen, in ihrem Halbdunkel rauscht der weiße Wasserfall, und die Felsen des Kesselberges sind im sinkenden Tag so beleuchtet, als ströme Licht aus ihnen selber hervor.

Langsam entzieht uns der Kochelsee seine Farbenphantasien, die Schlitten gleiten über die Paßhöhe, und vor uns dehnt sich zwischen düstern Waldbergen, an die sich schwarze Nebel wie Riesendrachen krallen, der Walchensee.

Selten noch habe ich einen so schweren Traum der Natur gesehen, wie diesen tannenumkränzten See im Winterabend. Träg wie Blei, finster wie das böse Gewissen, hoffnungslos wie die Seele des Verdammten liegt seine Fläche, kein Licht zuckt, kein Ton klingt über die schwermütige Flut.

Es ist ein wahrer Trost, daß da, wo die Straße an seine Ufer tritt, ein paar Häuser stehen, der Weiler Urfeld mit dem »Jäger am See«, dem malerischen Gasthaus, um das die Erinnerungen an König Ludwig schweben.

Wir fahren dem Ufer entlang nach dem Dörfchen Walchensee. Über den schwarzen Wassern gaukelt die Silbersichel des Mondes hilflos in ziehenden Wolken, doch im klaren Westhimmel wandelt die Venus als helleuchtender Riesenstern über See und Tannenwipfel und weist uns das Ziel.

Gedämpft geht das Gespräch in der Nacht, aber ich weiß jetzt, warum der Walchensee so todestraurig daliegt wie jene Fluten der Unterwelt, an denen die abgeschiedenen Seelen weinen. Jenseits des Dörfchens Walchensee steht in öder Einsamkeit ein uraltes Klösterchen am Ufer. Da hat, wenn das Volk recht spricht, ein ungekrönter Fürst, der noch unglücklicher gewesen ist denn König Ludwig, als stiller Mönch gelebt, Herzog Johann von Schwaben, der den Stahl gegen das geheiligte Haupt des Kaisers, seines Ohms, erhob. Und auf den See, der Parricida nicht verschlang, fiel der Fluch. Einst muß er gegen den Kochelsee ausbrechen und die ganze Niederung mitsamt München ertränken in seinen Fluten.

Mitsamt München! – Man denke, mitsamt der großen schönen Stadt, wo es so viel Schönes, Feines und Zierliches und so viel lebenslustige Menschen gibt, die gern noch lange nicht sterben möchten. Das ist selbst dem Walchensee zu viel, und nun brütet er Tag und Nacht: »Muß ich wohl? – Muß ich wohl nicht?« – Beim Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 glaubten die Münchner nichts anderes, als jetzt sei der Walchensee durch den Felsenriegel des Kesselberges gebrochen, und zur Beruhigung seiner Wellen las man in der Stadt jeden Tag eine Messe, und alljährlich senkte man einen goldenen Ring in die Flut. So erzählt das Volk.

Unheimlich ist im Winterabend der Walchensee, aber das Gasthaus zur »Post« im Dörfchen Walchensee ist ein lieber heimeliger Ort, die Stube mit den efeuumrankten kleinen Fenstern, mit der Zier der Hirschgeweihe und der runden Bilderschützenscheiben, behaglich durchwärmt vom Lachen der liebenswürdigen Wirtin und eines Paares fröhlicher Mädchen.

Verwetterte Söhne der Waldwildnis spielen Karten; plötzlich aber erhebt sich einer von ihnen und begrüßt unsern Reisechef als Kameraden aus dem Deutsch-Französischen Krieg: »Bei Sedan und Champigny war i dabei!«

Wir bitten ihn, daß er erzähle.

»Eigentli hot's mer nit gut g'foll'n,« versetzte der Holzhauer, »nur wie wir Bayern in der Nacht nach Stuttgart kommen sind, da hot's mer g'foll'n. Es sind am Bahnhof Kübel voll Glühwein g'standen und tränkt hoben's uns.« Er strich sich über die Brust, und nach einer Weile fügte er mit verklärtem Blick bei: »Ja, das war a Gaudi!«

Bei Zitherklang, Almliedersang und einem Tänzchen vergehen die Stunden rasch, und schon läutet es vom Klösterchen seeherüber Mitternacht. Ein wundervoller Sternenhimmel spannt sich über die finstere Flut, und der Orion funkelt wie ein Diamantengürtel. Die ewigen Sterne versprechen einen sonnenreichen Dreikönigstag, und der ist ein hohes Fest im Waldgebirge.

Wir begehen ihn mit der Besteigung des Herzogstandes und sind auf dem Wege nach Urfeld.

Zwar kann auch die Sonne den Walchensee nicht erhellen, er ist und bleibt eine schwermütige Seele, er findet auch im Morgenschein kein frohes, inniges Lächeln, und die Tannen, die von seinem Rand abgestürzt mit kahlen Stämmen und Ästen wie ausgereckte Gerippe in die dunklen, doch durchsichtigen Tiefen der Wasser hangen, verstärken den Ernst seines Bildes; aber das Dörfchen Walchensee an einsamer Bucht, das nur ein halbes Hundert Bewohner zählt, ist mit dem weißen Kirchlein, mit dem schlanken Turm, den eine zierliche Zwiebelkuppel krönt, ein Örtchen wie ein schönes Lied. Die Glocken des Kirchleins erheben ihre Stimmen; über die Fluten her kommen die Bewohner ferner Gehöfte, die den Gottesdienst in Walchensee besuchen wollen, in feierlichen Gruppen auf ihren starken Booten gefahren, und drüben beim Klösterchen tritt eine Hirschfamilie aus dem verschneiten Walde und trinkt aus dem See. Ist das nicht ein Bild voll Poesie?

Plötzlich überschlagen es die zwischen den Bergen wallenden Nebel, und wie wir schon von Urfeld auf dem bequemen Reitweg, den Ludwig II. hat anlegen lassen, gegen den Herzogstand steigen, ziehen seine grauen Tücher durch den schneeschweren Wald, dessen tiefe Stille nur durch das schütternde Klopfen eines Spechtes unterbrochen wird. Gerade über uns am Stamm einer alten Buche hämmert das muntere Tierchen. Eine Lichtfülle schwebt an uns vorbei. Der Nebel wird silbern, ein Flimmern, ein Fluten, ein rosiges Scheinen geht durch das Grau, der Bann der Wolken ist gesprengt, wir sind in lichtvoller, klarer Luft, und schneeduftiger Hauch weht aus einem Himmel, so blau wie erster Frühlingstag.

Herrlich ist das Wandern im lichtdurchwirkten Wald. In unserm Weg ist wohl die Spur eines Vorgängers mit knietiefen Tapfen eingezeichnet, uns aber trägt der über Nacht gefrorene Pfad leicht bergan, und links und rechts liegt unberührt die stille, feierliche, vom Himmel gefallene Welt des frischen Schnees. Schwer haben sich unter ihm die Kronen gebogen, die Äste der mächtigsten Tannen hangen nahe am Stamme, und demütig neigen sich die Büsche. Ein Atemzug der Luft! Da klirrt ein sprühfeiner Nadelregen durch das Schweigen, und der Boden bedeckt sich mit tausend Diamanten. Oder eine Tanne bewegt sich wie im Traum, eine Schneeflocke gleitet nieder und setzt sich wie ein Schmetterling auf ein bauschiges Gebüsch. In strahlender Reinheit dehnt sich der Schnee in der Waldlichtung. Da und dort eine Kuppel, unter der ein Tännling schläft. Sonst nichts!

Zwei Stunden sind wir gestiegen, silbern überstäubt ragen die jähen kahlen Gipfelfelsen des Herzogstandes, der Wald bleibt unter uns, auf öden Halden seufzt der Wind, der den Schnee zu fast mannshohen Schwaden zusammentreibt – eine Stunde noch, und das heimelige Schutzhaus unter dem Gipfel, ein in warmen Tönen gehaltener Holzbau der Sektion München des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, ist erreicht.

Ein Welschtiroler und seine Frau wirtschaften hier in mustergültiger Weise, und gern ruhen wir eine Weile bei den freundlichen Leuten. Seit dem 1. Oktober zeigt das Fremdenbuch des Herzogstandes über siebenhundert frische Namen, an der Weihnacht allein haben sich dreißig Besucher darein geschrieben, ein Zeugnis, wie die, welche im Winter zu Berge ziehen, doch eine sehr ansehnliche Gemeinde bilden.

Und wir bereuen es gewiß nicht, daß wir ihr angehören.

Ein Meer von Sonne strömt um den Herzogstand, sein Gipfel, ein schräges Dreieck, auf dessen 1760 m hoher Spitze ein kleiner Pavillon steht, glänzt wie eine silberne Platte und bedrängt mit seinem Leuchten das Auge.

Ein halbstündiger Kampf mit dem hohen Schnee, dann stehen wir auf der freien Spitze.

Auch um sie spielen die Erinnerungen an Ludwig II. An der Stelle des kleinen Pavillons besaß er sein schönes Berghaus mit großen Aussichtsfenstern und liebte es, die Nächte in der weiten Gebirgseinsamkeit zu verträumen. Und weckte ihn, mit einer roten Garbe über die Berge flutend, der erste Sonnenstrahl, so glitt sein Blick über sein Königreich. – –

Ein königliches Schauspiel! – Doch auch dasjenige, das wir genießen, ist reicher Lohn für die Mühen des Aufstieges.

Unendlich breit wie das Meer dehnt sich unter uns der Nebel über die bayrische Hochebene dahin, wir spähen vergeblich, ob wir nicht wenigstens die Frauentürme von München mit ihren bierkrugähnlichen Kuppeln erblicken, die sonst deutlich im Gesichtskreis des Herzogstandes liegen, in der Tiefe ist nichts hell als der dunkle Walchensee mit dem waldigen Eiland der Sassau, mit dem von Gehöften besäten, breiten Tal der Jachenau, und wenn ein Windstoß in das leuchtende, von den Bergen blau überschattete Meer der Nebel fährt und die Wolkenballen wie gescheuchte Herden durch die Lücken der Berge treibt, so schwebt auch ein Stück Kochelsee mit anmutig bewegtem Uferband, auf dem miniaturkleine Häuser stehen, aus dem Grausilber der Tiefe und flattert wie ein loses Blatt in Sonne und Schatten.

Sonst ist gegen das Flachland hin alles Nebel. Warum furcht kein Schiff diese Wellen, warum schreitet kein Wanderer über das einsame Feld? Ja, zum Wandern fest dehnt sich die endlose Platte, und der Gedanke, daß Städte und Dörfer darunter liegen, daß Hunderttausende unter dieser Decke atmen und leben, hat etwas Ungeheuerliches. Sie können doch nur Schatten sein, die am Styx auf und nieder schreiten, ihr Gedächtnis muß ausgelöscht sein, sonst würden sie von einem tiefen Heimweh nach Sonne und blauem Himmel ergriffen aufsteigen zu unserer Insel des Lichts.

Richtig, dort in der Tiefe wuseln zwei Wanderer gegen das Schutzhaus hinan und wollen mit uns in die strahlenden Berge schauen.

Als Uferlandschaft des wallenden Meeres, als gewaltige Marken, an die umsonst die Wogen branden, ragen im weiten Südbogen Haupt an Haupt, Gipfel an Gipfel die bayrischen und Tiroler Alpen vom Kaisergebirge zur Zugspitze, die Loferer Steinberge, die Berge am Achensee, das Karwendel- und Wettersteingebirge, und über die hohen Berge heben die höchsten ihre Häupter, der Großglockner, die beiden Venediger, Sonnenjoch und Mittagspitze und der Dreitorspitz. Unter kobaltblauem Himmel stehen sie in ihren Silbertalaren wie die erhabenen Gestalten, die aus nebelgrauer Vorzeit das Weltdrama zum Lichte führen.

Erquickend, befreiend ist der Blick in die sonnenvolle Winternatur, ihr Atem reiner als der Duft der Blumen, ein Lebensfunke springt in unsere Nerven über, und zarte Fühlfäden der Seele, die im Brodem der Tiefe eingeschlummert sind, spielen wieder.

Beim Imbiß im Schutzhaus loben die beiden Wanderer, die eben angelangt sind, mit uns den Winter der Höhe, der wie ein verjüngendes, stählendes Bad um Leib und Seele fließt. Sie kommen von München. »Da schneit und regnet es,« erzählen sie, »was vom Himmel fallen mag.«

Wie die Nacht einbricht, sind wir schon wieder im Dörfchen Walchensee, und hat uns der Herzogstand ein entzückendes Bild der winterlichen Natur geboten, so gibt uns das Örtchen ein ebenso köstliches Schauspiel aus dem Winterleben des Volkes.

In der Dämmerung gleiten über den See her Kahn um Kahn, Straße herauf, Straße herunter kommen mit klingendem Spiel Schlitten gefahren, und als wäre es Markt, so füllen sich die Stuben des Gasthauses zur »Post« mit festlichem Volk aus der weiten Runde, selbst vom Starnberger See im Unterland und von den Grenzdörfern Tirols. Bei der lustigen Musik zweier ländlicher Geiger sitzen die verwetterten Bauern aus dem Wald breit und stämmig an den Tischen, neben ihnen prahlen die kecken Burschen, die den grünen Filz mit dem Gemsbart oder der Feder des Spielhahns geschmückt haben und das reiche Uhrgehänge spielen lassen; die Mädchen, mit Troddelhut und weißem buntgeblümten Mieder, senken ihre Blitzaugen schämig in den Schoß, und in die Ecke gedrängt recken schaulustige Kinder die Köpfe.

Alle zusammen sind ein prächtiges Völkchen, das Defregger Modell stehen könnte, die Alten mit ihren Charakterköpfen, die Jugend mit ihren schöngeschnittenen Zügen, so der Bursch mit dunkellockigem Haar und einem Gesicht wie eine Bronzefigur, der die Markstücke in der Tasche klimpern läßt und mit schweifendem Augenpaare fragt: »Was kostet München? – ich kaufe die Stadt.«

Die fröhliche Gesellschaft trank Bier; die einen kauften es in Humpen, die andern gleich in Fäßchen, und nun kam, was die Männer und Frauen alle nach Walchensee gelockt: die Kerzen eines zimmerhohen Christbaums, der mit Nüssen, Äpfeln, Heringen, ländlichem Backwerk und allerlei Figürchen behangen war, erflammten neben einem mit etwa hundertfünfzig Gaben besetzten Tisch, Bauern und Burschen drängten sich um die Lose feilbietende Wirtin, die Taler, Fünf- und Zehnmarkstücke flogen ihr zu, und im Nu waren die fünfzehnhundert Nummern mit ihren vielen Nieten und wenigen Treffern vergeben. Ein Ausrufer, der seine Rede mit allerlei Humor und Witzen auf Ledigsein und Ehestand würzte, verteilte die Gaben, deren kostbarste, ein Kruzifix, unter einer Glasglocke war. Unendlicher Jubel, wenn einem zierlichen Dirndl eine Tabakpfeife zufiel oder ein klobiger Holzhauer eine rosafarbene Mädchenschleife erhielt. Doch ist zu sagen, daß die meisten Gaben dem Bedürfnis der Leute im Wald trefflich angepaßt waren und ein Stück nützlichen Hausgerätes bildeten.

Am höchsten stiegen Kauflust und Stimmung der Burschen und Bauern, als der redegewandte Auktionator Zweig um Zweig von dem großen Christbaum schnitt und zur Versteigerung brachte. Jeder wollte den Seinen daheim, der Mutter, Schwester oder Geliebten, als Gruß vom Dreikönigstag in Walchensee ein geschmücktes Ästchen mit ein paar Kerzen, mit ein paar goldenen Nüssen und einem kleinen Wachsengel bringen, und wie groß dabei der Eifer war, lehrten uns die mißbilligenden Blicke, als wir, die Fremden, einige Zweige für das Wirtschaftsgesinde erstanden, und daß selbst der leergeplünderte Stamm des Baumes von einem Bauer noch mit fast fünf Mark ersteigert wurde.

Der Christbaum auf der »Post« zu Walchensee ist eben der einzige gesellige Anlaß, der das einsame Winterleben der Bauern im Hochland festlich unterbricht.

Gern hätte sich nun die Gesellschaft dem Tanzvergnügen hingegeben; doch erlebten wir die späte Nachtstunde nicht mehr, wo durch die Heimfahrt einzelner Gäste Raum für den Schuhplattler wurde. Am Morgen um neun Uhr aber, als wir wieder in die Wirtsstube traten, saß noch eine ganze Schar Bauern und Burschen trinkfest an den Plätzen, die sie am Abend schon eingenommen hatten, und einer der Musikanten schlug die Gitarre und blies dazu kunstgerecht eine Mundharmonika.

Behüt' euch Gott, ihr trinkbaren Männer, und dich, liebliches Walchensee!

Jagende Schlitten tragen uns durch das Waldland in die hohen Berge hinein, die wir vom Herzogstand gesehen, aus dem Sagenreich des Königs Ludwig in das des Kaisers Max, durch die malerischen Dörfer des Walgaus an der grünen Isar nach Mittenwald, dem alten malerischen Ort unter den Schroffen des Karwendel- und Wettersteingebirgs, in den Flecken, über dem noch ein Hauch jener Zeiten webt, wo die Frachtwagen der blühenden Handelsstadt Augsburg durch seine Straßen nach dem Brenner und nach Bozen rollten. Mittenwald ist ein kleines, ins Bergland verzaubertes Nürnberg, die alten Häuser sind mit Fresken reich bemalt, mit zierlichen Erkern, Vorsprüngen und Eisenornamenten geschmückt; in den Wohnungen aber ist die Kunst zu Hause, der Ort ist die sangreiche Urheimat der Bergzither und seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, da Matthias Klotz, ein wanderlustiger Sohn des Berglandes, die Fertigkeit des Geigenschnitzens aus Italien brachte, ein bayrisches Cremona. Fast unter jedem Dach befindet sich eine Werkstätte, wo die edle Haselfichte zersägt und zerschnitzt wird, bis das Holz den holden Ton der Saiten mitempfindet und nachklingen läßt. Bei der Hauptkirche erhebt sich das schöne Denkmal des Gründers der Industrie; wie er, wandern die Mittenwalder heute noch hinaus in die Forste und schlagen mit der Axt an Stämme und horchen, welchen Ton sie geben, und ist der malerische Flecken im Winter ein gar stiller Ort, so wird doch, was die fleißigen Bewohner bauen, einst klingen in Lust und Leid, Herzen erheben, Herzen erschüttern, und wenn in der Weltferne die Geige singt, so bebt durch sie ein Ton des Heimwehs nach der Bergeinsamkeit, wo sie zum erstenmal erklungen ist.

Jetzt aber, grüß Gott, du heiliges Land Tirol! »Hob'n die Herr'n wos zu verzoll'n, hob'n Sie Zigarr'n?« fragt der grün uniformierte Grenzwächter zu Scharnitz, jenseits der Isar, und zwingt sein bärtiges gutmütiges Gesicht zu einem martialischen Ausdruck. Wir haben nichts zu verzollen, aber während unsere Schlitten den Seefelder Schloßberg hinauffahren, erzählt mir der Senior unserer Gesellschaft, wie er vor mehr denn vierzig Jahren an der Seite eines Jugendfreundes auf seiner Italienreise diesen Weg gegangen. »Und wir kamen in ein Gasthaus, da hing über der Treppe im ersten Stock ein lebensvolles Christusbild, in der alten Wirtsstube spielten vier Männer Karten, ein junger Mönch in weißem Gewand schaute ihnen ins Spiel, und die junge Wirtin ging ab und zu.«

Da hielten wir vor der »Post« des altertümlichen Dorfes Seefeld, das himmelhoch auf einer Terrasse des Inntales liegt.

Und siehe da! – Über der Treppe im ersten Stock hängt das lebensvolle Christusbild, in der alten Wirtsstube spielen vier Männer Karten, ein junger Mönch in weißem Gewand schaut ihnen ins Spiel, und die Wirtin geht ab und zu. Gerade wie es der Erzähler geschildert hat.

»Steht in Seefeld die Zeit still? – seit jener Einkehr ist doch mein Freund gestorben – und mein dunkles Haar ist weiß geworden!«

Bewegt spricht es mein Nachbar.

Da blickt er der Wirtin ins Gesicht – es ist die gleiche wie vor vierzig Jahren, aber sie ist nicht mehr jung, auch ihr Haar glänzt silbern, auch in Seefeld stehen, so stark es den Anschein haben mag, die Zeiten nicht still. Sie wandern – sie wandern! Doch war das Bild ein überraschender Zufall.

Ein herrlicher Abend. Die Tiroler Berge hüben und drüben vom Inn vor und hinter uns stehen in Glanz und Gloria, zwischen fernen Spitzen sinkt die Sonne als ein rotglühendes Rad, und das grenzenlos tiefe Inntal ist vom silbernen Nebel erfüllt, als liege ein mattleuchtender See im Grund.

Beinahe endlos bedünkt uns die Niederfahrt in das Tal; doch erreichen wir Innsbruck noch am gleichen Abend, und am anderen Tag trägt uns die Eisenbahn über Wörgl und Rosenheim nach München. In München stürmt, schneit und regnet es, und wie sie uns in Gebirgsausrüstung vom Bahnhof kommen sehen, denken wohl die hastig eilenden Gänger auf der Straße: »Närrische Leute!«

Uns aber wirft die Winterfahrt einen freundlichen Schein wie Gipfelleuchten, wie flammender Christbaum in die grauen Tage, die uns noch vom Frühling trennen.

J. C. Heer, Blaue Tage. Wanderfahrten. Konstanz 1904, E. Ackermann.


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