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4. Sieben Monate auf der Zugspitze.

Von J. J. Enzensperger, dem ersten Beobachter des Zugspitzobservatoriums.

Wenn man in nahezu 3000 Meter Seehöhe sein Heim aufgeschlagen habe – eine für europäische Verhältnisse und überhaupt für unsere Breiten immerhin ganz anständige Ziffer – und dadurch die Qualifikation als »höchster« Einwohner des Deutschen Reiches besitze, so lebe man unter nicht gewöhnlichen Umständen und könne also auch von Ungewöhnlichem berichten – so meint wohl mancher und ist etwas enttäuscht, keine spannende Erzählung mit merkwürdigen Ereignissen und allerlei Abenteuern zu vernehmen: aber im Zeitalter des Telephons, der Funkentelegraphie und – der dauerhaftesten Konserven unterscheidet sich die Lebensführung auch in Zugspitzhöhe weder geistig noch körperlich allzusehr von der in den Gefilden der nahen bayerischen Residenzstadt.

Am 19. Juli des Jahres 1900 wurde der vom Deutschen und Österreichischen Alpenverein mit Unterstützung der k. b. Staatsregierung auf dem Gipfel der Zugspitze in 2964 m Höhe errichtete Turmbau in Anwesenheit einer glänzenden Versammlung dem Staate übergeben; mit diesem Tage begann auch in den Räumen des Turmes das mit dem amtlichen Titel »Kgl. b. Meteorologische Hochstation Zugspitze« der Meteorologischen Zentralstation München unterstellte Observatorium seine Tätigkeit; kurze Zeit vorher schon war die hohe Warte von dem Schreiber dieser Zeilen bezogen worden, der es als besondere Gunst des Schicksals betrachtet, als erster den Posten eines wissenschaftlichen Beobachters auf diesem vor allen anderen Berg-Observatorien der Erde durch seine günstige Lage ausgezeichneten Punkte ausfüllen zu können. Seitdem sind sieben Monate verflossen, ein Zeitraum, der es wohl erlaubt, über die Eigentümlichkeiten eines ständigen Aufenthaltes in solchen Höhen ein Urteil zu fällen. Ich sehe hier mit Absicht von einer zu weit führenden Darstellung der Zwecke und der Ausrüstung des Observatoriums ab und will vorerst nur noch einige Worte den örtlichen Verhältnissen widmen.

Den Westgipfel der Zugspitze verbindet mit dem um zwei Meter niedrigeren Ostgipfel ein schmaler, zerrissener Grat, dessen nördliche, senkrechte Wand den ungeheuren, 2000 m hohen Steilabsturz zum Eibsee krönt; der südliche Abhang wird von einer stark geneigten schiefen Ebene gebildet, einer zutage tretenden Schichtfläche, die weiter unten, ebenfalls in senkrechten Wänden zum Zugspitzblatt mit seinen beiden Fernern abbricht. Durch Absprengen der obersten Schärfe des Verbindungsgrates ist ein kleines, längliches Plateau geschaffen worden, auf dem seit dem Jahre 1897 das »Münchner Haus« steht; einerseits an dieses Unterkunftshaus, andererseits an den Westgipfel gelehnt, erhebt sich der stolze Turmbau: von quadratischem Grundriß, neun Meter hoch, überragt er die Spitze mit der Sohle seiner Plattform noch um einen Meter, stellt also den höchsten Punkt des Deutschen Reiches dar. Das Erdgeschoß besteht aus meterdickem Bruchsteinmauerwerk und wird als Vorratsraum für Lebensmittel und Brennmaterial benützt. Von den beiden folgenden Stockwerken (Holzkonstruktion aus Fachwerk mit zehnfacher Isolierung) dient das erste, ein vier Meter im Lichten messender, gemütlich ausgestatteter Raum als Wohnzimmer, das zweite als Laboratorium. Eine Treppe mit Fallucke führt von hier auf die Plattform, auf der weitere Instrumente Aufstellung gefunden haben. Die mit ungeheuerer Wucht an den exponierten Bau anprallenden Stürme haben natürlich besondere Vorsichtsmaßregeln, wie die Anbringung durch sämtliche Stockwerke gehender Eisenanker und Versicherung mit übergelegten Drahtseilen nötig gemacht.

In diesen engen und bescheidenen Räumen, aber angesichts einer gewaltigen Natur und schon durch den Beruf in innigster Fühlung mit ihren Erscheinungen spielt sich das Wirken dessen ab, der hier im Dienste der Wissenschaft einen kurzen, vielbelebten Sommer und einen langen, einsamen Winter zu verbringen hat. Mehr als für die Großzahl der übrigen Menschen hängen Wohl und Wehe dessen, der in den Hochregionen der Alpen seine Zelte aufgeschlagen, von der Natur ab, in der er weilt. Darum mag es gerechtfertigt erscheinen, hier wenigstens den klimatischen Hauptfaktor, die Temperaturverhältnisse, auf der Zugspitze nicht ganz außer acht zu lassen. Die mittlere Jahrestemperatur Der durchschnittliche Luftdruck beträgt nahezu zwei Drittel des normalen Barometerstandes in Meeresniveau. auf der Zugspitze ist rund -6° (in München  7,4°), ein Betrag, den man in Europa nur im äußersten nordöstlichen Rußland trifft; auf dem gleichen Längenkreis müssen wir bis Spitzbergen wandern, um eine auf Meereshöhe liegende Örtlichkeit von derselben durchschnittlichen Jahrestemperatur zu finden, während es auf den Kontinenten der südlichen Halbkugel überhaupt keinen derartigen Ort gibt. Das Zugspitz-Klima ist also im ganzen genommen ein arktisches, zeigt aber von diesem in sehr wesentlichen Einzelheiten beträchtliche Abweichungen. Während der arktische Temperaturgang sich durch sehr große jährliche Wärmeänderungen auszeichnet, großer Winterkälte also verhältnismäßig bedeutende Sommerwärme gegenübersteht, bilden Gleichmäßigkeit der Kälte und relativ außerordentlich geringe Sommerwärme die Eigenart des Zugspitzklimas. Seit dem 10. Oktober vorigen Jahres (1900) bis heute (Februar 1901) ist hier die Mitteltemperatur des Tages unter dem Nullpunkt geblieben und wird sich voraussichtlich bis zum Juni nicht wieder darüber erheben, während auch im verflossenen Hochsommer Minimaltemperaturen bis zu -7° keine Seltenheit waren. Die durchschnittlichen Juli- und Augusttemperaturen der Zugspitze betragen  1,8° (gegen eine Julitemperatur von  17,2° in München); eine tiefere Julitemperatur hat man in Meereshöhe auch im höchsten Norden der nördlichen Halbkugel nicht gefunden. Dagegen stehen die winterlichen Kältegrade den arktischen wesentlich nach; nach den am Sonnblick Gipfel und meteorologische Beobachtungsstation in der Großglocknergruppe der Hohen Tauern (3103 m). gemachten Erfahrungen dürften die tiefsten je gemessenen Kältetemperaturen nur wenig über -30° hinausgehen. Das sind Temperaturen, wie sie in sehr strengen Wintern auch im süddeutschen Flachland schon aufgetreten sind; jedoch sind sie für die Zugspitze normal, werden also fast in jedem Winter erreicht, andererseits tritt solche Kälte auf Berggipfeln bei heftigen Stürmen, in den Niederungen dagegen als Strahlungskälte bei windstillem Wetter ein, was natürlich in den Wirkungen auf die Lebewelt einen gewaltigen Unterschied bedeutet.

Mit dem Erfrieren – eine Befürchtung, die einst eine übermitleidige Dame zu mir äußerte, die mitten im August in ein gehöriges Schneegestöber geraten war – steht es also nicht sehr schlimm. Naiver als diese Besorgnis war schon die Frage eines anderen Touristen, wer mir im Winter die Lebensmittel überbringe. Regelmäßiger Postbotengang von Partenkirchen zur Zugspitze existiert freilich noch nicht und dürfte auch noch lange im Schoße der Zukunft liegen. Doch nicht umsonst erwähnte ich oben, daß wir unter anderem auch im Zeitalter der Konserven leben, und als ich den Fragesteller die Schätze meiner Vorratskammer sehen ließ, war auch er über mein körperliches Wohl völlig beruhigt. Auf den bedenklichsten aller Zweifel, was ich denn im Falle einer Erkrankung anfange (im Sommer hatte ich jeden Tag wenigstens zehn Predigten über dies Thema anzuhören), war meine stetige Antwort: » Krank werden ist nicht erlaubt«. Ich sehe auch wirklich nicht ein, wie man in dieser herrlichen, staub- und bakterienfreien Luft seine Gesundheit verlieren soll. Und für den Fall einer Verunglückung – da habe ich meine eigenen ketzerischen Gedanken, die ich lieber für mich behalte!

Ich komme zu einer weiteren Frage, derjenigen, die ich im Sommer durchschnittlich zwanzigmal im Tage zu hören bekam: Ja, da müssen Sie doch vor Langeweile sterben! Indes, zur Langeweile fehlt mir schon das Nötigste – die Zeit. Die Ablesung der Instrumente zu den festgesetzten Zeiten, das Instandhalten und Ausbessern der Registrierinstrumente, die Wolkenbeobachtungen, die Führung des meteorologischen Tagebuches, die rechnerische Verwertung der Beobachtungen, die photographischen Arbeiten – von den Freuden des Photographierens an einem Orte, wo jeder Tropfen Wasser aus Schnee geschmolzen und filtriert werden muß, weiß ich ein Lied zu singen –, der telephonische Verkehr mit der Zentrale in München, also alle die mannigfaltigen eigentlichen Berufsarbeiten, nehmen schon einen erklecklichen Teil des Tages in Anspruch. Aber außerdem muß der Beobachter auf der Zugspitze noch eine Vielseitigkeit besitzen, die zu dem modernen Gesetz der Arbeitsteilung in geradem Gegensatze steht. Im Nebenberuf ist er Koch, Stubenmädchen, Waschfrau, Schlosser, Schmied, Zimmermann, Telephonarbeiter, Telegraphist, Elektrotechniker, Mechaniker, Uhrmacher, Skiläufer, Schneeschaufler, Kaminkehrer, Holzhacker und Gott weiß was noch alles. In meinen ältesten Tagen noch werde ich mit Vergnügen daran zurück denken, wie ich beispielsweise mit dem wackeren Sonnweber Michl, dem Urbilde eines Tirolers, den ganzen Turm (um die Blitzgefahr durch den vermehrten Ausgleich zwischen Erd- und Luftelektrizität zu verringern) in ungezählte Lagen Stacheldraht einwickelte – natürlich zum größten Gaudium der anwesenden Touristen, die sich in verfehlten Mutmaßungen über den Zweck unseres Beginnens erschöpften –, oder wie wir, an schwankenden Seilen über dem schauerlichen Schlunde des Bayerischen Schneekares hängend, an der Außenwand des Turmes die zentnerschweren Stücke des eisernen Windschirmes aufstellten. Manche andere, namentlich häusliche Verrichtungen zählen ja für einen gebildeten Mann nicht zu den Annehmlichkeiten; aber für Zimperlichkeiten ist in hochalpinen Regionen keine Stätte; wer es für des Mannes unwürdig erachtet, einmal ein Hemd selbst zu waschen, der denke daran, daß auch Nansen – wenn Kleines mit Großem verglichen werden darf – auf seine kühnste Fahrt Johansen und keine Waschfrau mitgenommen hat. Dagegen fehlt es nicht am täglichen geistigen Brot der Zeitung. Die Liebenswürdigkeit meiner Kollegen in München sorgt auf telephonischem Wege dafür, daß ich prompt von allem Wissenswerten unterrichtet werde. Von den wirklich wichtigen Ereignissen drang die Kunde meist früher zu mir als zu der Mehrzahl der Münchner Einwohnerschaft, von der »Provinz« ganz zu schweigen. Sogar der Volkszähler hat mich am 1. Dezember nicht vergessen.

Wohl entbehre ich in meiner selbst gewählten Einsamkeit manche Freuden, die das Leben verschönern: mir flicht keine Frau himmlische Rosen ins irdische Leben, wenn mir auch mehr als ein weibliches Wesen – leider meist anonym – die Bereitwilligkeit aussprach, meine Einsamkeit für einige Wochen und wenn es hoch kam, für einige Monate, zu versüßen; Theater und Konzerte und alle Freuden der Geselligkeit kenne ich längst nur mehr vom Hörensagen. Aber ich tausche dafür Genüsse ein, wie sie unter Millionen nur wenigen beschieden sind. Kein Hasten und Drängen und Lärmen stört meine Ruhe, kein Lokomotivpfiff, kein Glockengeläute dringt an mein Ohr, keine trostlose Mietkaserne wehrt den Ausblick in Gottes freie Natur, ich brauche ja nur an ein Fenster zu treten, um eines der herrlichsten Bilder auf dieser Erde in mich aufzunehmen. »Hoch vom Dachstein her« bis zum Altvater Sentis und den fernen Bergen des freien Graubündens liegt eine Bergeswelt vor mir ausgebreitet, in der alle Landschaftselemente vom Lieblichen zum Erhabenen, vom Ruhigen zum Wildbewegten, vom Grotesken zum Majestätischen vertreten sind. Weithin dehnt sich, mit unzähligen Ortschaften besät, der Plan der bayerischen Hochebene, darinnen wie geschmolzenes Blei die Becken der großen Seen, darüber am äußersten Horizont, in duftiger Bläue verschwimmend, die langgezogenen Ketten des Schwarzwaldes und Bayerischen Waldes. In weichem Flusse der Linien schmiegen sich an die Ebene die dunkelbewaldeten Vorberge, durch das wilde Klippengewirre der Kalkalpen schlängelt sich so manches Tal, so manche Straße, die den inneren Blick in graue Vergangenheit zurückführt, wo der Tritt römischer Kaiser deutscher Nation hinüberdröhnte zum alten Lande deutscher Sehnsucht, das mit vielen seiner stolzesten Bergesrecken herüberschaut zu meinem erhabenen Standpunkt. Antelao und Civetta, die Königin Marmolata, die wundersame Burg des Sellastockes, die zackigen Türme der Geißlergruppe und des Langkofels grüßen aus dem Zauberreich der Dolomiten, in langer Reihe aufgeschlossen, enthüllen mir die Schnee- und Eiswüsten der Zentralalpen vom Großglockner bis zum Ortler und den hehren Domen der Berninagruppe ihre Geheimnisse.

In immer neuer, ewig wechselnder Farbenpracht steigt die Sonne über den Horizont, und verläßt sie ihre Tagesbahn, so bauen die Wolken in grandiosen Formen eine zweite, noch vielgestaltigere, vergängliche Bergeswelt über die festgefügte der Wirklichkeit. Und wenn die Täler und Ebenen oft wochenlang unter feuchter, lähmender Nebelschicht begraben liegen, daß Mensch und Tier gedrückt, stumpf in der Tretmühle des täglichen Lebens dahinschleichen, dann ragt mein Gipfel hoch in den wolkenlosen Äther, während unter mir die Wellenkämme der Wolken über grundlosen Tiefen wogen und branden und sich dehnen wie die Unendlichkeit des Weltmeeres, dann mag ich wohl mit gutem Rechte von der höchsten Zinne meines Heims auf alle die Herrlichkeit hinabsehen mit den Gefühlen jenes samischen Königs.

Das sind die Tage, an denen Mutter Natur mir lächelt: aber erst im Zorne enthüllt sie ihre ganze Größe und Majestät. Was weiß der Bewohner des Flachlandes, der Täler von dem dämonischen Schrecken, der ungebändigten Wut, mit der die entfesselten Elemente auf freier Bergeshöhe hausen! Wie sanfter Flötenklang gegen vollen Orgelton steht der Wind der Ebene gegen den Sturm des Hochgebirges. Keine menschliche Kraft vermag ihm standzuhalten, wenn er heulend und sausend und brausend daherfährt und mit der Riesenfaust an den Grundfesten rüttelt, daß der Turm im Innersten erzittert; das Knattern und Krachen des Donners, das Zucken der Blitze, das Dröhnen der Steinschläge, das fahle Glimmen und Leuchten der Elmsfeuer vermählt sich in tollem Wirbel mit dem Stöhnen und Jammern der Windsbraut zu einer urgewaltigen Symphonie, der gegenüber die Künste aller Tonmaler nur als schwächlicher Abklatsch der Natur erscheinen.

Wie sollte der, dem es vergönnt ist, so dem Herzschlag der Natur zu lauschen, nicht beneidenswert und nicht dankbaren und fröhlichen Gemütes sein? Liebevolle Geister im Werdenfelser Landl haben zwar die Märe aus den Fingern gesogen, ich säße wie weiland die Völker Israels an den Gewässern Babylons weinend auf meinem Turme und traure und wehklage ob meiner Verlassenheit. Ein schönes Bild, Malern wärmstens als Vorwurf empfohlen, aber leider der Wahrheit ermangelnd!

Ich darf diese Zeilen nicht schließen, ohne des treuen Gefährten meiner Einsamkeit gebührend zu gedenken. Das ist Putz, der Hund – für mich der Hund. Er ist ein merkwürdiges Tier, sozusagen ein Überhund, von dem aber auch alles weit über das Maß der Alltäglichkeit hinausragt: die Kleinheit seiner Gestalt, die Größe seiner Intelligenz, sein Mangel an äußerer Schönheit, die Undefinierbarkeit seiner Rasse, sein Mut, seine Gefräßigkeit, vor allen anderen Eigenschaften aber seine unglaubliche Kletterfertigkeit und sein – Glück. Im November nahm ihn ein abbrechendes Schneeschild mit sich bis hart an einen Abgrund, der früher schon ein Menschenleben gekostet; im Dezember begrub ihn samt seinem Herrn eine Lawine von ungefähr 20 000 Kubikmetern Inhalt, ohne daß es beiden etwas geschadet hätte; im Januar brach er durch eine Schneewächte und stürzte vierzig Meter tief ins österreichische Schneekar ab: welchen Unfall ihm der Monat Februar noch bringen wird, darauf bin ich selbst gespannt. Das obenerwähnte Dezemberabenteuer führt mich übrigens noch auf einen Punkt, ohne dessen Erwähnung eine Schilderung der äußeren Lebensbedingungen, unter denen der Meteorologe auf der Zugspitze weilt, unvollständig wäre. Wohl ist der höchste Gipfel unseres deutschen Vaterlandes durch Drahtseilanlagen und Wegverbesserungen ein im Sommer leicht zugänglicher Berg geworden. Aber im Winter, wenn ein weißes Leichentuch sich über alle Unebenheiten und Klüfte legt und Pfade und Drahtseile spurlos überdeckt, dann schüttelt der Riese die Ketten wieder ab, in die ihn die Menschlein schlugen und zeigt sein wahres Angesicht. Der Schnee des Hochgebirges ist ein tückischer, wandelbarer Geselle; die örtliche Lage, die Schwankungen der Lufttemperatur, Dauer und Stärke der Sonnenstrahlung, vor allem Wind und Maß der Verdunstung führen rapide Zustandsänderungen von außerordentlicher Mannigfaltigkeit herbei, zu deren Erkenntnis und richtigen Beurteilung es einer langen alpinen Erfahrung bedarf. Mit jedem neuen Schneefall gewinnen die Spitze und der von ihr zum Platt führende Grat ein von der früheren Gestalt völlig verschiedenes Aussehen; die Lawinengefahr besonders auf der bekannten großen Sandreiße und den anschließenden Plattenlagen ist durchaus nicht zu unterschätzen. Andererseits bietet gerade der Winter hier oben dem, der Mut mit Vorsicht zu vereinen weiß und das nötige Können besitzt, in freien Tagesstunden oder zauberischen Mondnächten Gelegenheit zu Skifahrten von unvergleichlicher Schönheit auf die das Platt umrahmenden Berggipfel. Wenn aber mein dereinstiger Nachfolger nicht über ein ziemliches Maß von Bergkenntnis verfügt, so kann ich ihm keinen besseren Rat geben, als sich nach dem ersten großen Schneefall sechs bis sieben Monate lang in den Turm einzusperren, ein Zustand, über dessen Annehmlichkeit oder auch nur Erträglichkeit sich immerhin streiten läßt.

Wenn ich meine bisherigen Erfahrungen über den Aufenthalt auf der Zugspitze zusammenfasse, so kann dies mit kurzen Worten geschehen: viel Licht und wenig Schatten! Mit Wehmut denk ich schon jetzt an die kommenden Sommertage, wenn ich die herrliche, reine, kühle Luft meiner Hochregion mit den heißen, staubigen Gefilden der Ebene vertauschen muß, wenn es Abschied nehmen heißt von der liebgewonnenen Stätte, an die sich für immer die Erinnerung an eines der schönsten Jahre meines Lebens knüpfen wird.

Zugspitze mit Eibsee. Nach einem Gemälde von E. T. Compton. Mit Genehmigung von Hanfstaengls Nachfolger, Berlin.

»Das Wetter.« Jahrg. 18, Heft 3.


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