Theodor Fontane
Fünf Schlösser
Theodor Fontane

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Zu Beginn des Oktobers war Karl von H. abermals in Berlin und nahm, wie das Jahr zuvor, seine sprach- und naturwissenschaftlichen Studien wieder auf. Aber auch diesmal oft unterbrochen, weil die mit jedem Tage mehr zutage tretende Schwäche des Vaters ihn allwöchentlich nach Liebenberg rief. Endlich, am 3. April 1816, erlag der Alte seiner langwierigen und schmerzhaften Krankheit, und der erst einundzwanzig Jahr alte Sohn übernahm die Güter. Ob selbständig oder zunächst noch unter Vormundschaft, erseh ich nicht mit Bestimmtheit aus den schriftlichen Überlieferungen.

Diese werden überhaupt jetzt ärmer und kärglicher und gestatten uns, sein Leben nur noch in den Hauptzügen zu verfolgen. Ich gebe daraus das Wichtigste.

Der große Besitz, der ihm zugefallen war, vergrößerte sich noch. 1819 starb der »tolle Vetter von Häsen«, 1830 »Onkel Wylich«, und die Hinterlassenschaften beider ließen seine rheinischen und märkischen Güterkomplexe nicht unerheblich anwachsen.

Auch sein Barvermögen wuchs. Am 18. Juni 1821 (Jahrestag der Schlacht bei Belle-Alliance) erfolgte seine Vermählung mit Emilie Henriette Louise Mollard, einer reichen Erbin. Prediger Wilmsen von der Parochialkirche traute das junge Paar.

Einige Jahre später wurde K. von H., unter dem Titel »Ritterschaftsrat«, eines der leitenden Mitglieder des mittelmärkischen Kreditinstituts und fungierte 1839 als Vorsitzender bei der Versammlung der Deutschen Land- und Forstwirte zu Potsdam.

In noch voller Manneskraft traf ihn die Revolution von 1848, deren Prinzipien er, trotzdem er einem gemäßigten Liberalismus zuneigte, von Anfang an bekämpfte. Nicht nur war er der ersten einer, die, durch Beisteuerung bedeutender Mittel, die »Kreuzzeitung« ins Leben riefen, er schuf auch sieben Jahre später (1855) die »Berliner Revue«, die die seitdem immer einflußreicher gewordene Lehre proklamierte: »daß die sozialen Institutionen die politischen erzeugen und beherrschen«. 1863 trat er von der »Revue« zurück und beteiligte sich, von ebendieser Zeit an, an der Herausgabe der »Jahrbücher für Gesellschafts- und Staatswissenschaften«, deren Entwickelung und Gedeihen er bis zuletzt mit besonderem Interesse verfolgte.

Diese seine publizistische Tätigkeit aber sekundierte nur seiner parlamentarischen. Er war von 1849 bis 52 Mitglied der Ersten, von 1852 bis 61 Mitglied der Zweiten Kammer und wurde 1864 oder 1865 in das Herrenhaus berufen, an dessen Sitzungen er bis zu seinem Tode teilnahm.

In vorstehendem hab ich kurz einige Daten gegeben.

Überblick ich, auf diese gestützt, die Gesamtheit seines Lebens, so teilt es sich in zwei scharf geschiedene Hälften: in eine sportsmännisch-landwirtschaftliche bis 1848 und in eine politisch-parlamentarische nach 1848. Über beide Hälften ein paar Worte noch, auf die Gefahr hin, ein oder das andere zu wiederholen.

Von Hertefeld hatte schon im Sommer 1814, wie sich seinen aus London mitgeteilten Briefen unschwer entnehmen läßt, eine Vorliebe für England gefaßt und trat, als er zwei Jahre später die Güter übernahm, in intime, durch sein ganzes Leben hin fortgeführte Beziehungen zu diesem Lande. Was ihn anzog, ist im einzelnen nicht zu spezifizieren, in allem erschien es ihm vorbildlich. Er sah in England nichts, gleichviel ob es ein Großes oder Kleines, ein Materielles oder Geistiges war, in dem er nicht freudig und neidlos eine höhere Kulturstufe begrüßt hätte. Die gesellschaftliche Form, die Freiheit der Institutionen, die Detailausbildung in Technik und Handwerk – alles war besser, alles, vom Stiefel bis zum Hut, von der kleinsten Nadel bis zur größten Maschine. Zumeist aber empfand er diesen Unterschied auf dem Gebiete der Agrikultur: Bodenbestellung, Ackerbau, Viehzucht, alles erfolgte nach einem wissenschaftlichen Gesetze, von dessen Vorhandensein man im Preußischen noch kaum eine Ahnung hatte. Dies wirkte derart auf ihn ein, daß er sich das Ziel einer allmählichen wirtschaftlichen Anglisierung stellte. Ganz wie Thaer in Möglin, der ebenfalls durch England angeregt worden war, entschied er sich für die neuen Grundsätze der Fruchtfolge, der Kreuzung und richtete seinen Sinn insonderheit auf Besserung des Viehstandes, auf Veredlung des Pferdes. In letzterer Aufgabe fand er alsbald seine höchste Befriedigung, und was anfangs nur den Zweck gehabt hatte, der Landwirtschaft zu dienen, entwickelte sich mehr und mehr zum Sport. Er begann Vollblutpferde zu trainieren und war unter denen, die die seitdem zu so großem Flor und Ansehen gekommenen Berliner Rennen ins Leben riefen. Eins derselben führt noch jetzt den Namen »Hertefeld-Rennen«. Auch kann es als unzweifelhaft gelten, daß er dem Lande durch diese mehr als zwanzigjährigen Anstrengungen erhebliche Dienste geleistet hat. Aber freilich auf seine Kosten. Er gab Unsummen hin, ohne jemals, ein paar Ausnahmen abgerechnet, infolge großer Rennsiege die Rechnung ausgeglichen zu haben.

Es kann nicht überraschen, daß seiner Rennpferdepassion eine verwandte sportsmännische Leidenschaft entsprach. Er pachtete Heiden und Wälder, um große Jagden abzuhalten: Hetzjagden, Jagden mit der Meute, Treibjagden, zu denen dann aus der Nachbarschaft, aber mehr noch aus Berlin eine reiche Zahl von Geladenen erschien: Generale, Minister, Prinzen und als eigentlichster bienvenu Professor Franz Krüger, der berühmte Tier- und Schlachtenmaler, der sein Erscheinen in jagdlich illustrierten Briefen anzumelden pflegte.

So ging es durch Jahrzehnte hin, bis der März 48 einen Strich durch all dies machte. Von Hertefeld gab Wettrennen und Fuchsjagden auf und warf sich mit gleichem Eifer auf politische Dinge. Von der Tribüne her wirken und durch die Macht seiner Rede hinreißen zu können würde den Ehrgeiz seines Lebens erschöpft haben. Aber dies blieb ihm versagt. Er hatte nicht die Gabe der Rede, geschweige die Macht derselben, und mußte sich damit begnügen, mit der Feder tätig zu sein.

Er tat dies, wie schon angedeutet, in den mannigfachsten publizistischen Organen, abgesehen von einem ganzen Heer von Broschüren und Aufsätzen, zu denen er den Anstoß gab.

Auf seiner politisch-publizistischen Höhe stand er, als er der Zweiten Kammer angehörte. Das war von 1852 bis 61. Im erstgenannten Jahre ließ er Denkschriften und Promemorias erscheinen, die für unser gesamtes Verfassungsleben, insonderheit aber für die Neugestaltung der Ersten Kammer einige Bedeutung gewannen und, wenn ich recht unterrichtet bin, an oberster Stelle zwar nicht durchweg befolgt, aber doch im einzelnen zu Rate gezogen wurden.

»Es deutet verschiedenes darauf hin«, so schrieb er in einem dieser Promemorias, »daß es Absicht Seiner Majestät und der Staatsregierung ist, eine fundamentale Umgestaltung unserer jetzigen (1852) Ersten Kammer eintreten zu lassen. Es läßt sich auch mutmaßen, auf welche neue Grundlage hin die Umgestaltung erfolgen soll. Ihre zwei wichtigsten Punkte werden sein: 1) die jeweilige Ernennung durch Seine Majestät und 2) eine erst zu schaffende erbliche Pairie.

Gegen beides unterhält ich Bedenken, und zwar

1) Gegen die Ernennung.

Ernannte Pairs entbehren der Kraft, dem Herrscher und der Staatsgesellschaft eine wirkliche Stütze zu sein. Dies läßt sich historisch nachweisen. Es fehlt eine stützende Kraft überall da, wo die historische Begründung fehlt. 1848 nahm die Februarrevolution von den auf Lebenszeit ernannten Pairs Louis Philipps so wenig Notiz, daß das souveräne Volk (das die Deputiertenkammer doch wenigstens der Ehre würdigte, sie durch Gewalt zu beseitigen) an dem Palais Luxemburg vorüberging. Es blieb unbestürmt. Es dachte niemand an die Pairs.

2) Gegen eine erst zu schaffende erbliche Pairie.

Eine erst zu schaffende ›erbliche Pairie‹ findet in Preußen zwei Hindernisse: a) die Ernennung von Pairs, die den Besitz haben, aber des historischen Hintergrunds vielleicht entbehren; b) die Nicht-Ernennung von Pairs, die den historischen Hintergrund haben, aber eines ausreichenden Großgrundbesitzes entbehren. Es muß das notwendig, und zwar ganz besonders in den Stammprovinzen der Monarchie, zur Verletzung der Rittergutsbesitzer und des in ihnen vertretenen altständischen Elementes führen. Und nun dies ständische Element selbst! Es ist zwar durch eigene wie fremde Schuld tief gesunken, aber es steckt noch Lebenskraft darin und kann sich wieder erholen. Vergleicht man die jetzigen Rittergutsbesitzer mit ihren Vätern und Großvätern vor fünfzig Jahren, so bemerkt man, daß Güterschacher, Leichtsinn, Verschwendung und Bankerott damals viel häufiger waren als jetzt. Einzelne sind untergegangen, allein der Stand, der im Boden wurzelt, ist nicht vernichtet.

Ein anderer Übelstand« (so fährt er fort) »ist der, daß eine lediglich auf Grundbesitz basierte ›erbliche Pairie‹ den Geldkapitalbesitz ausschließt. Darin liegt aber eine Gefahr. Geldkapital ist unleugbar auch eine Macht, und diese Macht zur Opposition gegen ein neues Institut herauszufordern will uns nicht ratsam erscheinen. Unter allen Umständen indes sind weder Grundbesitz noch Geldkapital daran gewöhnt, sich durch einige hervorragende Spitzen, die nur von obenher ernannt, aber nicht durch Nächst-Interessierte gewählt wurden, für vertreten zu erachten. Im Gegenteil, der größere, nicht ernannte Teil würde sich gegen ein Institut wenden, durch das er sich erniedrigt glaubt. Sind diese Prämissen richtig, so folgt daraus, daß eine Wahl auch für eine Pairskammer nicht ganz auszuschließen ist.«

 

Soweit Hertefeld. Auch über den Modus dieser Wahl verbreitet er sich im weiteren Verlauf seines Promemorias und wünscht danach etwa 90 Großgrundbesitzer und 45 Großkapitalisten in der Ersten Kammer zu sehen, von denen diese wie jene durch eine mindestens dreißigfache Zahl ihrer eigenen Gruppe gewählt sein müssen.

Es ist auf diese seine Vorschläge, wenigstens direkt, nicht eingegangen worden, und, wie hinzugesetzt werden muß, glücklicherweise nicht. Er versah es nämlich in einem wichtigen Punkte, darin, daß er »Großgrundbesitz« und »historischen Hintergrund« als halbe, ja der Mehrzahl der Fälle nach als ganze Gegensätze faßte. Dieser Gegensatz fiel aber teils fort, teils wurd er umgangen.

Um es zu wiederholen, er drang nicht durch. Unter allen Umständen aber zeigen Denkschriften wie diese, mit welchem Ernst und welch historischer Sachkenntnis er an die großen Tagesfragen herantrat. Und namentlich dies letztere verdient hervorgehoben zu werden. Er war von einer außerordentlichen Informiertheit, und so wenig glänzend sein erster Schulgang unter Magister Greifs Leitung gewesen sein mochte, so hervorragend war nichtsdestoweniger sein Wissen, ganz besonders die Menge seines Wissens. Er gehörte zu jenen Glücklichen, denen alles, was sie sehen und hören, auf immer im Gedächtnis bleibt. Außerdem aber war er von einer wahren Leseleidenschaft ergriffen, und nichts erschien, und wenn es das scheinbar Weitabliegendste gewesen wäre, von dem er nicht Notiz genommen hätte. So kam es, daß er, mit den verschiedensten Künstlern und Gelehrten bekannt und befreundet, mit jedem in seiner Sprache zu reden vermochte. Selbst mit Philologen. Er war »in allen Sätteln gerecht« und doch weder rechthaberisch, noch streitsüchtig, noch prätentiös. Es lag vielmehr umgekehrt in seiner Natur, immer die liebenswürdigsten Formen zu wahren, und zwar einerseits, weil er humoristisch, andrerseits, weil er ohne Wissensüberschätzung war. Es galt ihm viel, aber es bedeutete ihm nie die Hauptsache.

Seine glänzendste Seite war seine Wohltätigkeit. Er besaß einen wahren Helfedrang und half im großen und kleinen. Unter andrem rührt die Bestimmung von ihm her, daß alle Tagelöhner auf seinen Besitzungen Anspruch auf freien Doktor und freie Medizin haben, infolgedessen ein unglaublicher Medizinkonsum in Liebenberg und Umgegend eingerissen ist.

Als er starb, fanden sich neben vielen andern Legaten auch 30 000 Taler vor, aus denen, unter allmählicher Heranziehung »ausstehender Gelder«, ein Stiftungsfonds, einerseits zu Dotierung alter Liebenberger Beamten, andrerseits zur Unterstützung augenblicklich in Bedrängnis geratener Familienmitglieder, gebildet werden sollte. Diese »Heranziehung ausstehender Gelder« geschah, und wenige Jahre später war, mit Hilfe derselben, der ursprüngliche 30 000-Taler-Fonds auf 100 000 Taler angewachsen, was, bei dem natürlichen Hange der Menschen, sich ihrer eingegangenen Verpflichtungen nicht zu erinnern, einen Maßstab dafür abgeben mag, welche Höhe der Stiftungsfonds eigentlich hätte gewinnen müssen. Der alte Hertefeld half nämlich immer »auf Wort« und nahm es nie genau mit der Ausstellung von Schuldscheinen.

In den letzten Jahren seines Lebens schritt er zur Gründung eines Familien-Fideikommisses, auf dessen nähere Festsetzungen ich an anderer Stelle zurückkomme.

Den 17. Februar 1867 starb er.Nach einer mir gewordenen Zuschrift muß es heißen: »den 27. Februar«. Ich lasse diese Zuschrift die mir auch nach andrer Seite hin bemerkenswert erscheint, hie folgen. »Dieser Karl von Hertefeld« (so heißt es darin) »starb am siebenundzwanzigsten Februar 1867 und wurde den 3. März in dem am Ostgiebel der Kirche befindlichen Familiengewölbe beigesetzt. Die letzten von ihm geschriebenen Zeilen, aus der Nacht vom 25. zum 26. Februar, sind an mich gerichtet, und ich bewahre dieselben als einen Schatz. Ebenso werd ich den Sterbetag des von mir hochverehrten Herrn von H., dessen Beamter ich von 1843 an bis zu seinem Tode war, immer als einen Trauertag ansehen. Ottermann, Rechnungsführer; Priemern bei Seehausen in der Altmark.« – Es hat etwas Erquickliches, dergleichen zu lesen, weil es Zeugnis ablegt von einem in unsren alten Provinzen immer noch vorhandenen gesunden Sinn, der sich freimütig zu Dank bekennt und, die Ordnungen Gottes als das hinnehmend, was sie sind, auf Nivellierung und »Egalité« verzichtet. Jeder ist was an der Stelle, wo er ist wenn er überhaupt was ist. Bescheidenheit und Demut hindern keinen. Aus dem Templinschen und Ruppinschen und nicht zum wenigsten aus der Hauptstadt selbst waren am Begräbnistage viele Hunderte zur Erweisung der letzten Ehre herbeigekommen, an ihrer Spitze die Kriegervereine von Zehdenick und Oranienburg, und hatten, vom Schloß bis zur Kirche hin, Spalier gebildet. An der Spitze des Zuges schritten sieben Geistliche, von denen der Zehdenicksche die Trauerrede hielt. Er gedachte des Verstorbenen als eines treuen Patrioten, eines Vaters seiner Untergebenen, eines immer bereiten Helfers der Armen, Witwen und Waisen. Und dabei hob er unter großer Bewegung aller derer, die die Gruft umstanden, hervor, daß er, als er dem nun in Gott Ruhenden in seiner letzten Lebensstunde noch eine Witwe zur Unterstützung empfohlen habe, nicht nur der altgewohnten Herzensgüte, sondern auch noch dem schönen und christlichen Worte begegnet sei: »Machen wir's gleich, Pastor; ich habe nicht viel Zeit mehr zu verlieren.« Und so sei sein letztes irdisches Tun jenes Wohltun gewesen, das überhaupt sein Leben ausgemacht habe.

So der Geistliche.

Danach aber trugen sie den zinnernen Sarg, dem man oben, nach Sitte des vorigen Jahrhunderts, eine Glasplatte gegeben, in die Gruft und setzten ihn an die Seite seiner ihm im Tode voraufgegangenen Gattin.

Und damit war der letzte Sproß des alten clevischen Geschlechts der Hertefelds zu seinen Vätern versammelt!


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