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Es sind jetzt zwanzig Jahre, daß ich, gleich bei Beginn meiner Arbeiten über Ruppin und Rheinsberg, zum ersten Male nach Hoppenrade kam. Ein Freund, der es schon oberflächlich kannte, hatte für jenen Tag die Führung übernommen, und nicht ohne Neugier und Erregung war es, daß ich nach dem »verwunschenen Schlosse« hin aussah, als wir in unserer hin- und herschwankenden und noch altmodisch in C-Federn hängenden Halbchaise die große Rüsterallee hinauffuhren. Aber der Gegenstand unserer Neugier verbarg sich bis zuletzt und wurd erst sichtbar, als wir unmittelbar vor ihm hielten. Er lag da wie herrenloses Eigentum. »He, holla!« Und der Kutscher knipste begleitend mit der Peitsche.
Niemand aber kam, uns zu begrüßen, freilich auch niemand, uns den Zutritt zu wehren, und so halfen wir uns denn schließlich selbst, öffneten die nur angelegte Tür und stiegen, an einer mit Silber und Schildpatt ausgelegten alten Fluruhr vorbei, die breite, flachstufige Treppe hinauf, deren schöngeschnitztes und noch wohlerhaltenes Geländer uns auf den Reichtum hinwies, der dies alles einst ins Leben gerufen. Auf den Reichtum und den guten Geschmack.
Und nun waren wir oben und gingen von Zimmer zu Zimmer. Alle standen auf, und in jedem einzelnen erkannten wir immer wieder dasselbe Durcheinander von Glanz und Verfall, das uns schon unten im Erdgeschoß entgegengetreten war. Überall Deckenbilder und Holzgetäfel, Supraporten und Ledertapeten, aber dazwischen Spinnweb und abgefallener Kalk oder im unausgesetzten Sonnenbrand trüb und buntglasig gewordene Fensterscheiben, aufgerissene Dielen und durchgeregnete Stellen an Fries und Decke. Ganz zuletzt erst kamen wir in einen großen saalartigen Raum, durch den die Drähte verschiedener Klingelzüge gezogen waren, aber die Drähte hatten ihre Spannung verloren und hingen entweder schlaff und schräg an der Wand hin oder lagen einfach am Fußboden entlang. Einige Neugierige, die hier vor uns ihren Besuch gemacht haben mochten, hatten sich drin verfitzt und auf die Weise das Bild der Unordnung und Wirrnis nur noch gesteigert. In ebendiesem Saale lag auch eine tote Schwalbe, die mutmaßlich durch den Rauchfang gekommen war und den Ausgang nicht hatte finden können.
Ich fragte, wer das alles gebaut und bewohnt habe? Der Freund aber zuckte nur mit den Achseln und setzte zu vorläufigem Troste hinzu: »Vielleicht, daß wir's unten von den Wänden lesen.«
Und damit stiegen wir wieder treppab und gingen ein paar lange Korridore hinunter auf einen entfernteren Schloßflügel zu, darin sich die Schloßkapelle befinden sollte. Hier aber, während im oberen Stock alles aufgestanden hatte, fanden wir die Türe sorglich geschlossen und mußten, im Fall uns wirklich an einem Einblicke lag, einen Meier oder Verwalter oder sonstigen Majordomus von Schloß Hoppenrade zu finden suchen. Und wir fanden ihn auch in Gestalt eines auf einer Parkwiese mit Grasmähen beschäftigten Tagelöhners, der sich schließlich, nach einigem Parlamentieren, mit jener dem Märker eigentümlichen Mischung von Geneigtheit und Abgeneigtheit bestimmen ließ, uns ins Schloß zu folgen und die Kapellentür aufzuschließen.
Die Kapelle selbst hatte den Umfang und fast auch das Ansehen eines Rokokosaales. Pfeiler und Decke waren weiß und golden und reiche Stuckornamente dazwischen. Unmittelbar über dem Altar befand sich die Kanzel, was auf Calvinismus deutete, sonst aber erschien alles katholisch, und zwar katholisch im zopfigsten Jesuitenstil, am meisten ein paar schrankartige, schräg ins Eck gebaute Chorstühle, die mit ihrem Gitterwerk und einem dahinter angebrachten Sitzplatze genau wie Beichtstühle wirkten. Ein elfenbeinernes, anscheinend italienisches Kruzifix steigerte noch diesen Eindruck, und wenn nicht das Kruzifix selbst, so doch der Ebenholzkasten, auf dem es stand, in dem nach Reliquienart ein Stückchen Seidenzeug lag mit einem Pergamentstreifen daran und der Inschrift: De vestimento Mariae. Dicht hinter dem Kruzifixe mündete von oben her der konsolartige Kanzelfuß und an ebendieser Stelle war auch ein Doppelwappen angebracht, eines davon das Bredowsche. Sonst fand sich nichts, was ein Interesse hätte wecken können, ausgenommen ein Deckenbild in der Sakristei, das zu dem Calvinistischen und jesuitisch Katholischen auch noch etwas Freimaurerisches hinzufügen zu wollen schien: ein Weltgott trug Zepter und Krone, dazu Sonn und Mond auf der Brust und Löw und Skorpion auf dem Gürtel; ein Engel aber kniete vor ihm und opferte dem Gott ein brennendes Herz. Alles rätselhaft. Auch dies Bild.
Als wir aus der Kapelle heraus und wieder draußen im Freien waren, überflog ich noch einmal, was ich drinnen gesehen. Ja, was war es? Ich hatte nichts erkannt als das Bredowsche Wappen, und unser Cicerone bestätigte denn auch, daß Hoppenrade Bredowsch und später erst ein Frau von Arnstedtscher Besitz gewesen sei. Das war etwas, aber doch nicht genug; es verlangte mich, mehr zu wissen, und als ich unerbittlich in den unter Verhör Genommenen eindrang, entschloß er sich endlich kurz und resolvierte sich dahin: »Joa, denn helpt dat nich, denn möten wi to de Oll-Stägemannsch goahn, de weet allens. Un wat de annern weeten, dat weeten se ook man vunn ehr.«
Ich sog jedes dieser Worte begierig ein, und ehe zwei Minuten um waren, schritten wir schon über ein zwischen Schloß und Dorf eingeschobenes Stück Wiesenland auf ein niedriges und dicht von Kürbis umwachsenes Haus zu, darin das alte Mütterchen und mit ihr die Dorftradition wohnen sollte. Wir fanden sie nicht gleich, das Häuschen war leer, im Garten aber kniete sie vor einem Beet und sammelte kleine rotschalige Zwiebeln in ein neben ihr stehendes Metzmaß.
Als sie verständigt worden war, um was wir gekommen, erhob sie sich zu Gruß und freundlicher Anrede. Sie war überhaupt sehr artig, sprach Hochdeutsch, in das sich nur dann und wann ein paar plattdeutsche Wörter einmischten, und wollt uns durchaus in ihre Stube führen. Aber wir baten sie zu bleiben, was sie zuletzt auch annahm und nur auf einen Backtrog zeigte, der umgestülpt unter ein paar Zwetschenbäumen lag. Auf diesem Troge nahmen wir Platz, und kaum daß ich mich zurechtgerückt hatte, begann ich auch schon mit allerhand Fragen wegen der Bredows. Als ich aber merkte, daß sie von dem allem nicht viel oder eigentlich so gut wie nichts wußte, weil es vor ihrer Zeit gewesen war, so ließ ich die Bredows fallen und leitete das Gespräch auf die Frau von Arnstedt hinüber, »die müsse sie doch noch gekannt haben«.
»Ob ich die gekannt habe! Solange ich denken kann. Ich war ja schon drüben, als das älteste Fräulein geboren wurde, das Rosalchen, die nachher den Wülknitz heiratete, den Kammergerichtsrat der bis voriges Jahr unsere Herrschaft war. Ach, das war eine himmlisch gute Frau, die hatte den lieben Gott im Herzen und unsern Herrn Christus auch. Und das Fräulein Clara, die ja nu wieder die Tochter von der Frau von Wülknitz war...«
»Aber liebe Frau Stägemann. Sie wollten mir ja von der Frau von Arnstedt erzählen.«
»Richtig, von der Frau von Arnstedt, von unsrer ersten gnädigen Frau. Nu, die war ja schon ein Erbkind, als sie noch kaum geboren war, und erbte denn auch das große Krautenerbe, das von Vater und Vaterschwester herkam. Und weil es jeder gern haben wollte, nämlich das Krautenerbe, so nannten sie sie die Krautentochter. Und so hat sie geheißen bis an ihr seliges Ende. Denn das wird sie doch wohl gehabt haben. Aber all das, ich meine das mit der Erbschaft, das war lange vor meiner Zeit, und als ich aufs Schloß kam, da war sie ja schon die Frau von Arnstedt und eine sehr schöne Frau, so Mitte Dreißig, und immer drüben in Rheinsberg. Und hatte damals drei Kinder. Das heißt drei Kinder von ihrem dritten Mann. Denn sie war schon zweimal vorher verheiratet gewesen, erst mit Elliot und dann mit Knyphausen.«
»Und dann erst mit Arnstedt?«
»Wohl, dann erst mit Arnstedt. Das war der dritte, der Rittmeister. Und als sie noch mit Elliot verheiratet war, da war ja das Duell.«
»Das Duell?«
»Ja, das Duell, weil sie den Englischen nicht leiden konnte. Und warum nicht? Weil er ihr zu englisch und auch zu eifersüchtig war, worin er aber wohl recht hatte. Denn sie schrieb sich immer Briefe mit Knyphausen, und drüben im Park ist noch der Baum, in den sie die Liebeszettel immer hineinlegten. Aber Elliot erfuhr es, und als er einen Brief las, in dem alles drin stand, da schossen sie sich, und Elliot kriegte was weg, aber nicht viel, bloß einen Streifschuß. Und dann ging er in die weite Welt.«
»Und ist auch nie wiedergekommen?«
»O doch. Aber bloß ein einzig Mal, als er die kleine Miß abholen und mit nach England nehmen wollte. Das heißt heimlich und listig und mit Gewalt. Oh, wie hab ich dem lieben Gott immer gedankt, daß ich damals noch nicht Kindermuhme war, ich hätte den Tod gehabt, wenn ich so was erlebt hätte. Denn wie kam er denn? In einer feinen Kutsche kam er und bei hellem lichten Tag, aber er fuhr nicht vor und nicht auf die Rampe, sondern bloß immer um den Park herum. Und als er an die Stelle kam, wo das Kind spielte, denn er mußte wohl seine Kundschafter gehabt haben, da sprang er mit eins heraus und nahm das Kind und das Spielzeug und die große Puppe, die grad auf der Wiese lag, und wie der Blitz wieder in seine Kutsche hinein und heidi vorwärts über den Sturzacker und die Stoppelfelder, immer gradaus bis England.«
Ich tat noch allerlei Fragen, alles indessen, was sie mir antwortete, war eigentlich nur Wiederholung. Es zeigte sich deutlich, daß die Geschichte von dem Briefwechsel und dem Duell und mehr noch die Geschichte von der Entführung der kleinen Miß Elliot einen Eindruck auf sie gemacht hatte; der Rest aber war vergessen oder blieb im Dunkel.
Eine Stunde später schied ich von Hoppenrade, fest entschlossen, das Dunkel nach Möglichkeit zu lichten. Aber es wollte nicht glücken. Die Memoiren aus jener Zeit, soweit sie mir damals bekannt oder zugänglich waren, ließen mich im Stich, und die Rheinsberger Gegend, in der im allgemeinen die Prinz-Heinrich-Traditionen immer noch frisch und lebendig sind, gewährte mir fast noch weniger als die Prinz-Heinrich-Literatur.
Ich gab es schließlich auf und hatte meinen ersten Besuch in Hoppenrade fast schon vergessen, als ein glücklicher Zufall mich erfahren ließ, daß auf einem alten Knyphausenschloß, und zwar auf Schloß Lützburg in Ostfriesland, eine Familienchronik existiere, darin sich in bezug auf Elliot und Knyphausen alles finde, was ich nur irgendwie wünschen könne. Die Reise dahin schob sich jedoch abermals hinaus, bis ich schließlich für alles Warten und alle Mühe reichlich belohnt wurde.
Was ich in folgendem gebe, besonders in den mittleren Kapiteln, ist zu wesentlichem Teile der erwähnten Lützburger Chronik entnommen. Andres stammt aus Briefen und Prozeßakten, noch andres aus den mir erst neuerdings zu Händen gekommenen Thiébaultschen »Souvenirs«. Auch in Hoppenrade selbst hab ich noch allerlei kleine Züge für diesen Aufsatz und seine Heldin einzusammeln vermocht.
Soviel zur Einleitung.
Ich beginne nunmehr damit, über das bisher nur andeutungsweis Gesagte hinaus, in nachstehendem festzustellen, wer die Krautentochter und was das Krautenerbe war.