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Vom Urteil über den Tod hängt auch das Urteil über den etwaigen Untergang eines Volkes ab und diejenigen, die ihn etwa prophezeien. Christus, Luther, auch Goethe verkündeten den nahen Untergang der Welt, der Welt nämlich, deren Mittelpunkt sie waren: Christus den Untergang des Römischen Reiches, welches die Kulturwelt, die sich entwickelnde Welt überhaupt war; Luther und Goethe bezogen sich auf das Römische Reich Deutscher Nation, welches nachdem den Mittelpunkt der abendländischen Kultur gebildet hatte. Sollten die Führer eines Volkes, die sein Geschick im innersten Herzen tragen, es nicht strafen und warnen dürfen wegen seiner Fehler und Irrwege, die es ins Verderben führen? Warum denn rufen die Untergangsprophezeiungen, die in jüngster Zeit auftauchen, so große Entrüstung hervor? Ich glaube, daß man zwischen sehr verschiedenen Erscheinungen zu unterscheiden hat.
Wird der Untergang eines Volkes geweissagt auf Grund von Gesetzen, die unentrinnbar ablaufen müssen, so lehnt sich das Gefühl mit Recht dagegen auf. Etwas anderes ist es, wenn einer seinem Volke die Fehler vorhält, durch die es sich selbst, als freie, verantwortliche Persönlichkeit, zu vernichten im Begriff ist, und es auf den Weg der Erneuerung und des Lebens zu führen strebt. Zwar würde dieser vielleicht noch mehr Entrüstung hervorrufen als jener; aber die Geschichte wird früher oder später seine tragische Größe erkennen. Ein Volk muß niemals untergehen, außer wenn seine einzelnen Organe erstarren, so daß ein Zusammenwirken aller Organe, worauf das Dasein des lebendigen Organismus beruht, nicht mehr möglich ist.
Die Erlöser der Menschheit, Luther, Goethe, Schiller, Napoleon und die Jungfrau von Orleans, ja, alle, die von den Völkern als Helden und Retter verehrt wurden, haben eben dies Wunder vollbracht, daß sie ein erstarrendes, zerteiltes Volk zu neuem Leben vereinigten. Das Volk der Juden zwar hörte nicht auf Christi Stimme; aber die entseelte Menschheit fügte sich in seinem Namen wieder jung aus Trümmern zusammen. Ein Volk lebt, solange lebendiger Zusammenhang zwischen seinen Gliedern ist; solange ein Aufsteigen aus den bäuerlichen und handwerktreibenden Schichten nach den oberen ist und aus den oberen ein steter Samen in den mütterlichen Schoß der unteren niederfällt. Zentralisieren sich die Schichten und schließen sich gegeneinander ab, womit immer die oberen anfangen, so ist der Weg zum Untergange des Volkes eingeschlagen. Die obere, das ist die besitzende Schicht, stellt sich auf den einseitigen Standpunkt der Selbsterhaltung und betrachtet jeden als Empörer, der ihr eine Umwandlung zumutet, als wäre der bestehende Zustand ein geheiligtes Recht. Es tritt dann ein krankhafter Allgemeinzustand ein, wie wenn innerhalb des menschlichen Körpers der Kopf alles Blut an sich zieht und dadurch die Organe entseelt, welche die eigentlich lebenschaffenden sind. Wir sehen dann die merkwürdige Meinung herrschen, als wäre das lange Bestehende das an und für sich Wünschenswerte und Ehrwürdige und ein Beweis von Größe, Güte, Tüchtigkeit. Sowie die Menschen erstarren, treten sie zu Gott, der ein Gott des Todes, das heißt der ewigen Verwandlung ist, in eine ganz falsche Beziehung. Idealismus ist nicht Pflege des Bestehenden, seien es auch schöne Künste, Idealismus ist Opfernkönnen, sei es auch das Schönste und Teuerste. Weder für den Einzelnen, noch für ein Volk, noch für eine Klasse oder Organisation ist es rühmlich, sich lange unverändert zu erhalten; viel besser ist es, in junger Kraft unterzugehen, als unfruchtbar zu bestehen. »Bloß eine blutlose Bourgeoisie«, sagt Gottfried Keller, »möchte bleiben, wo und wie wir sind, an dem halbverdorrten Zweige hangend mit der ganzen Last und seine paar Beeren benagend, bis er reißt und der ganze Klumpen in den Abgrund purzelt.« Lernten wir doch unterscheiden zwischen dem gottgewollten Tode, der Verwandlung ist und zur Auferstehung führt, und dem gewaltsam festgehaltenen Leben, das der eigentliche Tod der Erstarrung ist. Nur solange wir uns als verwandlungsfähig erweisen, leben wir; unser Untergang besteht darin, daß wir in bequem gewordenen Zuständen erstarren. Es ist ein haarsträubendes Mißverständnis, daß gerade unsere besitzende Klasse, um sich im Bestehenden zu erhalten, Goethe und Schiller als Zeugen der Herrlichkeit der vergangenen Epoche im Munde führt. Goethe und Schiller hatten nichts zu tun mit der sogenannten Wilhelminischen Kultur und würden sich davon abgestoßen gefühlt haben. Bricht es nicht aus allen Werken Schillers mit tragisch-herrlichen Posaunenklängen: Das Leben ist der Güter höchstes nicht? Goethe, nachdem er sein Volk für reif zum Jüngsten Tage erklärt hat, schöpft Hoffnung aus dem Anblick kräftiger junger Soldaten und hofft, daß das Landvolk sich kräftig genug erhalten werde, »uns nicht allein tüchtige Reiter zu liefern, sondern uns auch vor gänzlichem Verfall und Verderben zu sichern. Es ist als ein Depot zu betrachten, aus dem sich die Kräfte der sinkenden Menschen immer wieder ergänzen und auffrischen.« Dabei ist natürlich die Voraussetzung, daß ein lebendiger, organischer Zusammenhang zwischen dem Landvolk und den anderen Ständen bestehe. In Anbetracht, daß ein neuer Erlöser, wenn er wirklich käme, doch nur zum zweiten Male gekreuzigt würde, empfiehlt Goethe inzwischen zur Heilung Deutschlands weniger Philosophie und mehr Tatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis und vor allen Dingen weniger Polizei, damit die Menschen von Kindesbeinen an die Courage haben, das zu sein, wozu die Natur sie gemacht hat. Sollte aber dennoch ein Umsturz notwendig werden und erfolgen, so wird er als der Vorbote neuen Lebens begrüßt: »Ich ehre und liebe das Positive und ruhe selbst darauf, insofern es nämlich von uralters her sich immer mehr bestätigt und uns zum wahrhaften Grunde des Lebens und Wirkens dienen mag. Dagegen freut mich nicht etwa die Zweifelsucht, sondern ein direkter Angriff auf eine usurpierte Autorität. Diese mag Jahrhunderte gelten, denn sie schadet einem düstern, dummen Volke nicht, das ohne sie noch übler wäre daran gewesen; aber zuletzt, wenn das Wahre notwendig wird, um uns entschieden Nutzendes zu verleihen, da mag rechts oder links fallen, wer da will, ich werde mich darüber nicht entsetzen, sondern nur aufs genaueste aufmerken, welche Aussicht ich gewinne, wenn das alte Gehege zusammenstürzt.«
In den Werken eines modernen englischen Dichters sehen wir, staunend und ergriffen, wie das kleine England damit endigt, in dem wunderbaren Indien, das es lange beherrschte, aufzugehen. Lange hat der Orient, unsere Wiege, stillgelegen unter der Schneedecke willentötender Weltanschauung, der Starrheit seiner Kasten und kluger Fremdherrschaft, vielleicht daß jetzt schon das schaffende Licht sich rührt, indessen über das Abendland die Schatten des nahen Winters fallen. Vieles deutet darauf: das immer tiefere, behagliche Sicheinwühlen in die Wissenschaft, die Ausbreitung der eisernen Maschen des Staatsnetzes, unsere Vorliebe für Systeme, unser Liebäugeln mit dem Buddhismus und dem Nirwana, unser eigensinniges Spielen mit dem Okkultismus, unsere fakirmäßige Langlebigkeit, unser Parteiwesen, die Zimperlichkeit unserer Gefühle, unsere Neigung zu klösterlicher Lebensflucht, unsere Scheu vor der schönen, blutwarmen Menschlichkeit des Christentums. Vielleicht daß das Leichentuch, das zugleich ein Schutz des Lebens ist, sich über uns ausbreitet, indes die Heldensonne eines neuen Weltentages im Osten aufblitzt. Ist das aber ein Wunsch oder eine Prophezeiung? Ach nein; denn es ist vielmehr die Feststellung einer Tatsache. Der Schnee ist schon gefallen, und unser Puls schlägt kaum hörbar durch den Lärm unserer klappernden Betriebsamkeit. Wie lange unser Schlaf dauern wird, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß das ewige Licht lebt und, wenn es Zeit ist, den Winter mit seinem Feuerschwert besiegen und die angeketteten Lebenswasser befreien wird.