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2.
Über die Vergangenheit als das Tote


Ich hatte mir vor Jahren einmal das Motto gewählt: Es kommt immer alles anders; und es belustigte mich, wenn ich mich einer zweifelhaften Lage gegenüber befand, mir auszumalen, was für Möglichkeiten der Weiterentwickelung oder des Ausgangs es gäbe und zugleich zu wissen, daß es in Wirklichkeit anders kommen würde, mich durch die Wirklichkeit überraschen zu lassen. Vielleicht, wenn die Sache mich selbst anging, führte ich selbst die unerwartete Wendung herbei, indem ein unvorhergesehenes Ereignis mich einen Entschluß fassen ließ, den ich vorher noch nicht in Betracht ziehen konnte, oder indem im Augenblick, wo ein Entschluß notwendig wurde, ein Gefühl in mir den Ausschlag gab, das ich vorher für weniger mächtig gehalten hatte; vielleicht griff jemand anders durch eine nie für möglich gehaltene Handlung ein, gewiß ist es, daß es immer etwas anders kam. Berechnen können wir aus Vergangenheit und Gegenwart nur das Unpersönliche, das schon Dagewesene, nicht das Neue, das eigentlich Künftige, so wenig wir aus den Eltern, wie genau wir sie auch kennen mögen, ihre Kinder vorherbestimmen können. Der Prophet, der die Zukunft bestimmt, indem er sie schafft, rechnet sie nicht aus, sondern schafft sie in einem Augenblick des Hingerissenseins und im Kampfe mit drängenden und widerstrebenden Kräften, die von außen an ihn herantreten und die ihn immer mehr oder weniger von der Bahn ablenken, die er sich vorgezeichnet hatte.

Nachträglich allerdings läßt sich das Gesetzliche in den von der Phantasie geschaffenen und durch den Willen im Kampfe verwirklichten Wundern nachweisen, weil in der exakten Phantasie der Verstand beschlossen ist und das Erschaffene infolgedessen auch verstandesgemäß ist. Schon Seneka sagte: »Das ist unser Irrtum, daß wir den Tod in der Zukunft schauen; er ist zum großen Teil schon vorüber; was von unserem Leben hinter uns liegt, hat der Tod.« Was von der Vergangenheit sich nicht in Zukunft verwandelt hat, sondern als Vergangenheit, als Tatsache, zurückbleibt, ist tot. Wen es interessiert, nachträglich in dem, was die Natur geschaffen hat, seien es Gestalten oder Geschehnisse, das Gesetzliche aufzusuchen, dem mag es gegönnt sein, und es soll auch nicht geleugnet werden, daß diese Erkenntnis dem Menschen eine Genugtuung verschafft. Allein damit ist der Phantasie, die die Ereignisse schafft, kein Abbruch getan, und noch weniger ist sie dadurch ersetzt. Sie allein schafft immer nur das Neue, dem gelehrten Betrachter zum Trotz, der es etwa leugnet, weil er das Vergangene nachträglich als notwendig erkennt, der aber das Künftige nie hätte voraussagen, geschweige denn schaffen können. Wir werden oft bemerken, daß ein Volk seine Vergangenheit desto mehr bis in alle Winkel durchforscht und feiert, je weniger es vom Geiste dieser Vergangenheit mehr beseelt ist. Daß alles schon dagewesen sei, sagte schon Salomo, und jeden Alternden ekelt es in gewissen Stimmungen mit ihm vor der Wiederkehr des ewig Gleichen. Das Leben setzt sich in der Tat nur aus wenig Zutaten zusammen. Wie jede Landschaft nur aus Meer und Himmel, Bergen und Bäumen unter verschiedenen Beleuchtungen, kurz, aus den vier Elementen bestehen kann, so bietet kein Leben wesentlich mehr als Gewinn und Verlust, Trennung und Vereinigung, Krieg und Frieden, Erfolg und Enttäuschung. Und doch ist keine Landschaft wie die andere und kein Lebenslauf einem anderen ganz gleich, weil es immer andere Bäume und Flüsse sind, die die Landschaft bilden, und immer andere Menschen, die das Leben erleben. Neue Kinder, altes Spiel. Für die Kinder, die den Kreisel unter der Linde drehen, ist das uralte Spiel desselben Zaubers voll, den es einst für den müden Alten hatte, der ihnen zusieht.

Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgend hat begeben,
Das allein veraltet nie.

Für denjenigen, der sich der Vergangenheit zuwendet, das Fertige allein betrachtet ohne die Fähigkeit, es als Werdendes zu sehen, dem scheint alles Geschehene unter Gesetzen zu stehen; denn das Fertige ist stofflich und tut es in der Tat. Nur dann gehört Eurydike dem Leben an, wenn sie nicht rückwärts sieht; indem sie es dennoch tut, beweist sie, daß sie keine Zukunft mehr in sich hat. Die selbstbewußte Menschheit hat Eintönigkeit und gesetzlichen Ablauf in das schöne Leben voller Wunder und Zauber eingeführt; für den handelnden und kämpfenden, den lebenden und sterbenden Menschen ist es täglich neu, herrlich und schrecklich.

Es erklärt sich daraus, daß von den vielen historischen Werken, die geschrieben werden, die meisten tot sind und bleiben oder nur kurze Zeit von Verblüfften und Urteilslosen gepriesen werden. Die wenigen, die fortwirken, sind meist wissenschaftlich anfechtbar, aber groß und wahr durch den Geist des Verfassers, der mit Geistern der Vergangenheit eins geworden ist und aus diesem Grunde, zugleich dem Grunde seines Herzens, ein Reis in die Zukunft sprießen läßt.


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