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Nietzsche hat wundervolle Worte gefunden über den Mittag, wo die Welt vollkommen wird, weil der Mensch in ihrer Mitte sich selbst ganz geworden fühlt. Es ist der Augenblick, wo der Mensch monotheistisch wird, sich seiner selbst als einer Einheit bewußt wird. Goethe erlebte ihn in der Zeit seiner Beziehungen zu Frau von Stein, als er dichtete:
Einer Einzigen angehören,
Einen Einzigen verehren,
Wie vereint es Herz und Sinn!
als er ihr schrieb: »Übrigens habe ich glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie ganz sind … das will und muß ich nun auch erlangen, und ich kann's.« Es ist der Augenblick des Rundwerdens, des Sichschließens, verhängnisvoller, wunder- und gefahrvoller Augenblick. Schließt sich der Geist wirklich, so ist die Vollendung zugleich sein Tod, und aus dem höchsten Augenblick wird ein bleiernes, unentrinnbares Erwürgen. Denn es gibt nur dies beides: die Bewegung, die wir Leben heißen, kann sich runden, ohne sich zu schließen, oder sich schließen und zur Erstarrung des Todes führen. Der Mensch ist wie Gott eine Einheit in der Vielheit. Goethe erlebte die Wonne, ganz und sich selbst genügend zu sein; aber er erfuhr auch und sah ein, daß ein Einzelner nicht hilft, »sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt«. Nietzsche wollte sich selbst genügen und verlor dabei sich selbst. Wie über allen Vergleich entzückungsvoll muß dieser Mittagsaugenblick für Christus gewesen sein, in dem das Sichrunden des menschlichen Geistes überhaupt zum ersten Male wirklich wurde. Er war der Erste, der die Idee der ganzen Menschheit faßte, die furchtbar große Idee, daß die Menschheit eine Einheit bildet, sich schließen und enden kann; zugleich aber durchbrach er das Grab dieser Idee mit der Idee der Auferstehung, die durch ihn in Kraft trat. Das Ganze ist unsterblich, weil das Einzelne stirbt und aufersteht. Das Sterben ist ein Übergang, eine Verwandlung; Tod ist nur in der Erstarrung dessen, der sich vom Ganzen absondert, indem er sich auf sich selbst bezieht, weder wachsen noch sterben, sondern dauern will. Der Mensch als solcher, der bewußte Mensch, will Herrschaft und Dauer; der von Gott Berufene will die Herrschaft seiner persönlichen Kraft.
Kein großer Mann, der nicht die Idee der Weltherrschaft gehabt hätte: Alexander der Große und Cäsar, Karl der Große, Otto der Große, Gustav Adolf, Friedrich der Große, Elisabeth, Katharina, Napoleon, der sich als Nachfolger Karls des Großen betrachtete, alle kannten sie keine anderen Grenzen für ihr erträumtes Reich, als die ihnen durch den Widerstand anderer Kräfte gesetzt wurden. Dies muß so sein, weil der einsgewordene Mensch sich als Mitte der Welt fühlen muß. Allein alle diese Großen strebten nach persönlicher Herrschaft; mit ihrem Tode zerfiel das Reich, das ihre Phantasie getragen hatte. Die englische Idee der Weltherrschaft dagegen, das ist der wesentliche Unterschied, ist Staatsgrundsatz, sie beruht nicht auf einer persönlichen Kraft, sondern ist, von der sterblichen Person abgelöst, an den dauernden Staat geknüpft. Bacon gab die Losung aus, daß England darauf bedacht sein müsse, das Meer zu beherrschen, weil allein die Beherrschung des Meeres zur Weltherrschaft führe. Er selbst dachte nicht daran, sich persönlich dafür einzusetzen, noch tat es Jakob I., noch haben es die hannoverschen Welfen getan. Die englische Weltherrschaftsidee erzeugt nicht Helden und Heldentaten, sondern sie lauert allen Helden der Wett auf und stellt ihnen Fallen. »Während wir philosophieren,« sagte Goethe, »gewinnen die Engländer die Wett. Sie tun es unter dem Deckmantel humaner Absichten.« Eigentümlich ist es, wie die Helden anderer Völker, ich denke zum Beispiel an Blücher und Garibaldi, nirgends so gefeiert, buchstäblich auf den Händen von Volk und Adel getragen werden, wie in England. Jene beiden beförderten das englische Interesse, Blücher, indem er Napoleon, Garibaldi, indem er Österreich bekämpfte. Napoleon, der ihnen gefährlich war, brachten sie um, wie sie die Jungfrau von Orleans verbrannten.
Alexander, Cäsar, die deutschen Kaiser des Mittelalters, Kolumbus, Gustav Adolf waren Heroen, die ihren stürmischen Geist über die Wett aushauchten, die ihre Persönlichkeit wie eine Purpurfarbe durch den Erdkreis ergossen; England wie das alte Rom gingen und gehen schlechtweg auf einen praktischen Zweck aus, auf Ausnützung anderer Länder, um sich selbst zu bereichern. Die englische Weltherrschaft duldet keinen Gegendruck, sie hält am Grundsatz des Gleichgewichtes im Abendlande fest, um den Kampf auszuschalten, auf dem doch die Entwickelung beruht.
Als ein Beispiel führe ich die Kämpfe Karls des Großen mit den heidnischen Sachsen an, der damit begann, sie seinem Gesetz unterwerfen zu wollen. In langen, hartnäckigen Kämpfen lernte er einsehen, daß er zugunsten des Freiheitstriebes dieses Stammes seinen Machtwillen einschränken müsse, und so wurde durch den Kampf und durch schwere Opfer auf beiden Seiten ein Maß des Rechtes zwischen Macht und Freiheit gefunden. Dieselbe Erfahrung machte Friedrich Barbarossa im Kampfe mit den Italienern; diese Helden endeten ganz anders, als sie begonnen hatten, sie lernten den Sonderwillen achten und begnügten sich, die Einheit innerhalb der Vielheit zu vertreten. Das Maß zwischen den individuellen Willenskräften kann nur durch Kampf gefunden werden, und zwar durch Kampf der ganzen Persönlichkeiten, die Körper eingeschlossen. Möglichste Aufhebung des Kampfes unter Beibehaltung des Herrschaftswillens ist der Grundsatz des bewußten Menschen, der seit dem sechzehnten Jahrhundert. immer mehr um sich greift. Er mündete in Pazifismus und Völkerbund, der neuesten Erfindung des Satan, die an schlauer Verstellung und Gefährlichkeit alle seine bisherigen Leistungen übertrifft und deshalb wohl als sein letztes Aufgebot zu betrachten ist. Denn dieser Völkerbund will allen persönlichen Kampf aufheben, wodurch an sich schon alle Höherentwickelung, aller Lebenszweck aufgehoben und die Lebenskraft vollkommen unterbunden wäre, denkt aber nicht daran, die Weltherrschaftsgrundsätze aufzuheben, noch auch gewaltsame Mittel, wie zum Beispiel die Aushungerung der Völker, sondern er mästet den Wolf unter dem Schafspelze, bis dieser ihm eines Tages zu eng wird. Er unterscheidet sich durchaus nicht von den Bolschewisten, welche gleichfalls ein Reich der allgemeinen Gerechtigkeit, des Glückes und Friedens durch gewaltsame Unterdrückung des individuellen Lebens, welches das Leben überhaupt ist, begründen wollen.