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Was uns, protestantische Deutsche, von den übrigen Deutschen und anderen abendländischen Völkern unterscheidet oder wenigstens unterschied, ist das, daß unsere Erziehung auf der Bibel beruhte. Bis auf Goethe, ihn eingeschlossen, wurden unsere Kinder erzogen und erzogen die Heranwachsenden und Erwachsenen sich selbst an diesem unserem Heiligen Buche. Das Volk und seine Führer, namentlich diese, waren durchtränkt von den Gesinnungen und Anschauungen der Heiligen Schrift, ihr Geist bewegte sich in einer Atmosphäre von Freiheit und heldenhafter Größe. In der Bibel ist die Weltanschauung enthalten, in der diejenige des griechischen Altertums mündete und die die Grundlage des von den Germanen getragenen Mittelalters bildete; von ihr geht eine Linie durch Luther, der sie erneuerte, bis zu Goethe. Einen packenden Ausdruck fand sie auch in dem Berner Jeremias Gotthelf. Das Eigentümliche der Bibel nun ist, daß sie kein System lehrt oder enthält, sondern daß sie an der Geschichte eines Volkes eine Anschauung des Lebens und der in ihm waltenden Kräfte gibt. Sie ist das Werk großer, urtümlicher, inspirierter Dichter, welche, indem sie die Geschichte ihres Volkes, des auserwählten Volkes schrieben, zugleich ewige Symbole schufen, Gestalten und Bilder, die nicht nur sich selbst, sondern in sich den Sinn des Lebens bedeuten und darum allgemein gültig sind. »Das ist die wahre Symbolik,« sagt Goethe, »wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum oder Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.« Die jungfräuliche Geburt des Erlösers bedeutet zum Beispiel nicht die Kirche oder irgendein Mirakel, sondern Maria gibt uns die Anschauung einer reinen weiblichen Natur, die, weil sie an ein höchstes Wesen, an Gott glaubt, dieses zum geistigen Vater ihres Sohnes, seine Kraft in ihm wirksam macht, noch bevor der natürliche Vater ihn zeugt. Ein natürlicher, wirklicher Vorgang wird erzählt; aber durch überirdische Leuchtkraft macht die Bibel das Natürliche durchsichtig, so daß wir das lebendige Geflecht der Adern darin erglühen und die geheimsten Wege durchdringen sehen. Wir erleben in ihr nur Leben, aber zugleich den Gott, der es schafft und leitet, und den Wahn, der es verdirbt und zerstört. Sie umfaßt die Natur und den Geist, der sich liebend in sie ergießet, die Trennung, die sie verhängnisvoll zerreißt, und sie irrt nie, weil sie das Leben selbst ist, aufgefangen im Zauberspiegel der Dichtung, der das Wesentliche ewig bewahrt, das Unwesentliche verzehrt.
Eine namhafte katholische Schriftstellerin, welche von ihren Glaubensgenossen getadelt wurde, weil sie eine gewisse Schwäche für die Protestanten in ihren Werken zu verraten schien, veröffentlichte vor einer Reihe von Jahren eine Beteuerung, sich dem Urteil des Papstes durchaus unterwerfen, ja überhaupt nichts mehr veröffentlichen zu wollen, falls es ihr von ihm verboten würde. Hier liegt der Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten. Der Protestant, der echte nämlich, hält sich an das Bibelwort: du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Er glaubt, daß Gott sich in jedem Einzelnen offenbaren kann, wenn er will, und sei es der Niedrigste, und er folgt der inneren Stimme, die ihn etwas tun oder lassen heißt, wenn sie auch allem irdischen Gesetz widerspricht, und wenn sie ihn auch in Unglück und Tod führt. Gott ist nach seinem Glauben an keine Organisation gebunden, wozu auch jede Kirche gehört, ebensowenig an den Papst oder irgendeinen anderen Menschen. Die Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort, welche wir in der Bibel finden, von Gotteskraft und Menschenkraft, unterscheidet zugleich Protestanten und Katholiken. »Von oben muß es kommen,« rief Beethoven aus, »was das Herz treffen soll!« Der wahrhaft Inspirierte wird sich sein Handeln, Dichten oder sonstiges Schaffen von keinem Papst oder Konzil, von keinem Fürsten der Welt verbieten lassen, weil er sich von Gott abhängig fühlt. Dies ist christliche Freiheit.
Es versteht sich, daß diese Freiheit gefährlicher ist als die katholische Gebundenheit und Starrheit, wenn man nämlich Ruhe und Ordnung für das höchste Gut hält. Der Protestant hingegen hält für das Höchste, daß jeweils der Wille Gottes geschehe, welcher auch Untergang und Umwälzung wollen kann, da er nicht nur ein Gott ist, der erhält. Indessen ist die christliche Freiheit keine Anarchie, da neben der Freiheit auch das Gesetz gilt, und der, welcher sich von Gott berufen glaubt, seine Berufung im Kampfe erhärten muß; sie ist auch kein Individualismus, denn Berufung durch Gott heißt ja eben Vertretung eines größeren Ganzen durch einen Einzelnen. Eine feste irdische Entscheidungsstelle, an die er sich wenden könnte, und die im Zweifelsfalle Gewißheit gäbe, die gibt es allerdings für den Protestanten nicht. Er ist zuletzt immer auf sein eigenes Gewissen angewiesen, dessen er ja auch, wenn er in der Bibel Gottes Wort sucht, nicht entraten kann.
Nun aber offenbart sich Gott nicht zu allen Zeiten in allen Menschen; ja, es gibt Menschen, in denen er sich überhaupt niemals offenbart, und die nicht einmal imstande sind, die Stimme Gottes durch andere zu vernehmen. Auch wirft der Protestantismus seine Bekenner durchaus nicht etwa auf sich allein zurück; Luther empfahl die Wohltat der Beichte und riet dringend, daß man sich in vielen Fällen auf das Wort eines Freundes, nicht auf die eigene Kraft verlasse. Da es aber schwache Menschen gibt, die durch keine innere Stimme geführt werden, und zu stolz sind, um sich von Eltern, Verwandten oder Freunden führen zu lassen, wird immer eine Kirche willkommen sein, die es jedem ermöglicht, auf ein Handeln aus eigener Kraft zu verzichten und sich dadurch doch nicht gedemütigt, vielmehr trotzdem über andere erhöht zu fühlen. Denn der Katholik, namentlich der neubekehrte, glaubt als Katholik hoch über allen Nichtkatholiken zu stehen, und indem er sich aller eigenen Verantwortlichkeit entschlägt, bildet er sich zugleich ein, vornehmer, weiser als alle andern, kurz, ein Auserwählter zu sein. Daß es unter Katholiken viele gibt, welche in unserem Sinne Protestanten sind und der Stimme Gottes im eigenen Herzen folgen, es auch im Widerspruch mit der Kirche tun würden, ist selbstverständlich.
Im allgemeinen wird nur ein junges und naives Volk ein christliches im eigentlichen Sinne sein können, weil nur ein solches empfänglich für die Stimme Gottes ist. Daraus erklärt sich, daß die Germanen zwar nicht moralisch, aber gläubige Christen waren, und daß später die überwiegend germanischen Völker die Bibel als Grundlage ihres Glaubens wählten, während die älteren, ganz oder zum Teil romanischen Völker der immer mehr im ultramontanen Sinne erstarrenden Kirche anheimfielen. Die ultramontane Kirche ist dem Ermüdungszustande alternder Völker angepaßt, vermehrt aber auch die Schwäche, indem sie ihr ein willkommenes Geländer bietet. Verantwortlichkeit und Persönlichkeit, deren wir am meisten bedürfen, wird durch die katholische Kirche notwendigerweise unterdrückt, während sie in der Freiheit stets wieder erweckt werden können; denn Gott ist keine Grenze gesetzt. Darum werden Persönlichkeit und Organisation im ewigen Kampfe stehen, so wie Christus mit der Synagoge, Luther mit der ultramontanen Kirche, und wie die moderne Persönlichkeit mit dem modernen Staate kämpfen muß, nicht, wie schon gesagt, zugunsten der Einzelnen, sondern zugunsten natürlich wachsender Gruppen, die durch Einzelne vertreten werden. In allen solchen Kämpfen wird die Hand des tapferen Einzelnen, der sie auskämpft, auf der Bibel liegen, als dem Buche, in dem der freie Geist Gottes weht, der aus dem Staube sein Werkzeug formt und es mit seinem Atem durchglüht, wann und solange es ihm gefällt.