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Die Ansicht Goethes, daß der Mensch alles, außer sein Wollen und seine Empfänglichkeit, von außen habe, darf nicht mit jener Ansicht der englisch-französischen Philosophie verwechselt werden, es sei nichts im Menschen, als was durch die Sinne in ihn hineinkäme. Davon war Goethe so weit entfernt, daß er sie vielmehr fortwährend bekämpfte und in ihr den wesentlichen, nicht zu überbrückenden Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen sah.
»Die Franzosen«, schreibt er an Schiller, »muß Humboldt, wenn sie ein theoretisches Gespräch anfangen, ja zu eludiren suchen, wenn er sich nicht immer von neuem ärgern will. Sie begreifen gar nicht, daß etwas im Menschen sei, wenn es nicht von außen in ihn hineingekommen ist. So erwiderte mir Mounier neulich: das Ideal sei etwas aus verschiedenen schönen Teilen Zusammengesetztes! Da ich ihn denn nun fragte: woher denn der Begriff von den schönen Teilen käme? und wie denn der Mensch dazu käme, ein schönes Ganzes zu fordern? und ob nicht für die Operation des Genies, indem es sich der Erfahrungselemente bedient, der Ausdruck zusammensetzen zu niedrig sei? so hatte er für alle diese Fragen Antworten aus seiner Sprache, indem er versicherte, daß man dem Genie schon lange une sorte de création zugeschrieben habe. Und so sind alle ihre Diskurse, sie gehen immer ganz entscheidend von einem Verstandesbegriff aus.«
Ein andermal glaubt er, die Franzosen hätten dem Materialismus entsagt: »Sie haben den Uranfängen etwas mehr Geist und Leben zuerkannt; sie haben sich vom Sensualismus losgemacht und den Tiefen der menschlichen Natur eine Entwickelung aus sich selbst zugestanden; sie lassen in ihr eine produktive Kraft gelten und suchen nicht alle Kunst aus Nachahmung eines gewahrgewordenen Äußeren zu erklären.«
Man sieht, das dem Menschen Eingeborene ist die Idee des Vollkommenen, Ganzen oder die Idee Gottes, welche zugleich eine produktive Kraft ist, eben das Göttliche, welches sich im Menschen offenbart. Man nennt es auch das Gewissen, die innere Stimme, die an einer Idee des Vollkommenen das Menschliche mißt. Ob dies Vollkommene nun als Gestalt, als Handlung oder Wort sich darstelle, als Schönheit, Güte oder Wahrheit, es ist immer dasselbe Göttliche.
Auf die Frage, wie das Sittliche in die Welt gekommen sei, erwiderte Goethe: »Durch Gott selber wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.«
»Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtsein gelangen, indem das Schlechte in der Folge sich als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches, welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sittlich-Schöne zur Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.«
Große Taten und Werke also und die Heroen, die sie vollbrachten, sind die Mittler der Gottheit, die Vorbilder, welche immer neue Jünger in das Reich Gottes emporziehen. In jedem Einzelnen ist so viel von dieser göttlichen Flamme, daß er die Äußerung fühlt, wo er sie gewahr wird und von ihr angezogen wird; durch jeden kann sie irgendwie in Kraft treten. Und dies ist nun das Wesentliche und Eigentümliche des urchristlichen wie des lutherisch-protestantischen Glaubens, daß jeder Einzelne Gott gegenüber verantwortlich, und daß jeder Einzelne zuletzt auf sein Gewissen angewiesen ist. Es ist ein Glaube, der auf der Auffassung der Welt, als einer beständig zu schaffenden, beständig der göttlichen Vollkommenheit anzunähernden beruht, und zwar auf einer persönlich zu schaffenden. Der Christ soll das Gute nicht vorzufinden erwarten, sondern er soll es selbst tun; er soll nicht auf die anderen blicken, ob sie auch ihre Pflicht verrichten, sondern die seinige leisten und womöglich mehr. Aus diesem Grunde ruht die Zukunft immer auf Protestanten oder Christen; denn es sind diejenigen, die ihre Person einsetzen, die Schaffenden. Luther sagt einmal, jeder Christ müsse sich einbilden, daß Gott alle seine Worte an ihn ganz persönlich gerichtet habe; er soll sich nicht auf den Staat, auf irgendeine Organisation, auf irgendeinen andern verlassen, sondern von ihm wird Gott Rechenschaft über die Verwaltung seines Pfundes verlangen. So ist Goethes Ausspruch zu verstehen, vor der Französischen Revolution sei alles Bestreben gewesen, hernach sei alles Forderung geworden. Der Geist der Französischen Revolution verlangt eine vollkommene Welt, in der Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, Wohlhabenheit, Wissenschaft, kurz alles, was dem Menschen wünschenswert scheint, in Fülle vorhanden sei; der Geist des Christentums verlangt Menschen, die nach der Vollkommenheit streben, welche sie durch ihr Tun und Wirken zu erreichen hoffen.
Denn die Idee, das Ideal, wie man es auch nennen möge, ist, das muß man festhalten, nicht oder nicht nur eine Art Bild, das man betrachtet, oder von dem man weiß, oder an dessen Dasein man glaubt, sondern es ist etwas, das in Kraft treten will.
Hören wir auch hierüber Goethe: »Wenn ich von liberalen Ideen höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschallen hinhalten. Eine Idee darf nicht liberal sein; kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, produktiv zu sein, erfülle.« Und da er von der schädlichen Neigung der Deutschen spricht, überall abstrakte Gedanken zu suchen, zum Beispiel in seinem Faust, ruft er aus: »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee (das heißt kein abstrakter Gedanke), sondern Gang der Handlung.« Eine Idee ist ein Antrieb zu etwas Bestimmtem, das an einem Punkte verwirklicht werden soll durch eben den Menschen, den es antreibt. Dadurch unterscheidet sich die Idee vom Begriff, daß sie in Kraft treten will. Sie ist das einzig Ganze in der unendlichen Welt, das Ich, das sich in einem Abbilde verwirklichen will.
Goethe nennt einmal in »Dichtung und Wahrheit« unsere Wünsche Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. »Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche.« Aus dem Wunsche, der nicht in Kraft tritt, wird der Traum. Wunsch und Traum hängen zusammen mit unserem tiefsten Ich, nämlich mit der Gesamtheit unserer Fähigkeiten und Kräfte, die sich zu Taten, zu unserem Leben auswirken wollen. Den Stoff, den Gehalt, die Vielheit gibt uns die Welt durch unsere Einbildungskraft, die Einheit geben wir durch unseren Willen, der mit dem Ich- und Gott-Bewußtsein verbunden ist.
Ich habe Gelegenheit gehabt, viele Verse von jungen Leuten, die Dichter sein oder werden wollten, zu lesen, und stets fiel mir dabei auf, daß etwas fehlte, was mir schwer zu bezeichnen fiel und was mir als ein Mangel an Leben und Erfahrung vorkam. Sie waren gut gemeint, klug durchdacht, erlesen ausgedrückt und sprachen von allen möglichen Gefühlen, dennoch war es im Grunde nichts, zerplatzte wie eine Blase. Was fehlte, war der Gegenspieler, der unersetzliche, unschätzbare Teufel, die Klaue des Löwen und ihre Blutspur. Ein echtes Drama vollends ist ohne Gegenspiel nicht denkbar; es werden wohl neue Formen angestrebt, die es ausschließen, wie das Leben selbst dazu das Vorbild gibt, allein eine dramatische Wirkung kann davon nicht ausgehen. Mit Recht angewidert von der gegensatzlosen Kunst und dem gegensatzlosen Leben gibt es andrerseits moderne Künstler, welche den Gegensatz gewaltsam von außen in ihr Werk hineinzutragen suchen und das Zerhackte, Zerfetzte, Sinnlose, Stammelnde darstellen. Dies begreift man, aber es entsteht keine Kunst dadurch.
Solange das Leben im Fluß ist, wie es natürlicherweise ist und sein soll, zeigen uns Kunst und Geschichte die vollendeten Formen. Sternbildern gleich, die sich im sanften Bogen hoch über den ewig kämpfenden, steigenden und stürzenden Menschen drehen. Was unsere Sinne niemals auf Erden ertasten, das Ganze, das Vollkommene, was wir in der Religion glauben und anbeten, wird in Kunst und Geschichte wirklich; dort ersteht der Mensch, den seine Zeitgenossen als Stückwerk erlebten, in der Herrlichkeit des Urbildes. Dies Verhältnis zwischen Kunst und Leben ändert sich im Maße, wie sich das Leben auf Erden befestigt. Als natürlicher Vorgang läßt sich dies im Schaffen des einzelnen Künstlers verfolgen. Beethoven zum Beispiel schuf im männlichen Alter abgerundete, formvollendete Werke; gegen sein Ende hin, je selbstbewußter und starrer er wurde, desto mehr löste sein Werk sich in Bruchstücke auf. Er fängt an, eine seltsam geheimnisvolle, in dunkeln Verkündigungen stammelnde Sprache zu sprechen, die uns je mehr anzieht, desto älter und gereifter wir werden. Indessen will ich nicht etwa Beethovens Alterswerk mit den Produktionen gewisser moderner Künstler vergleichen; denn dort ist es ein natürlich Gewachsenes, herrlich Geformtes, das sich auflöst, hier ist es ein Zusammengesetztes, das in Stücke auseinanderfällt. Das in Formen erstarrte Leben erzeugt zuerst eine glatte und leere Kunst, deren Form nicht den Widerspruchsfunken des göttlichen Lebens einschließt, sondern als Abdruck über etwas Totem entsteht. Zerschlägt man diese Maske, gibt es natürlich nichts anderes als tote Masse; vorher war es ein ganzer Klumpen, und jetzt sind es viele kleine. Die Künstler der Vergangenheit entrissen dem Stoff das Ideal, das ihnen vorschwebte und das den mühsalbeladenen Geschlechtern vorschwebte; die Künstler unserer Zeit zerschlagen ihre eigenen unechten Machwerke. Gott ist der Ewig-Künftige; sowie die Menschen ihn auf Erden zu befestigen suchen, wird er zum Mammon, und sie beten statt seiner das goldene Kalb an. Die Trümmer des goldenen Kalbes aber sind nicht Gott.