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14.
Die Steigerung innerhalb der unbewußten Natur, innerhalb der Menschheit abgelöst durch die Religion


Goethe spricht häufig von Gott-Natur, weil sich Göttin der Natur offenbart, und zwar tut er das, wissenschaftlich ausgesprochen, durch das Prinzip der Steigerung, durch die Neigung und Kraft, die den Individuen innewohnt, ihre Form zu immer höheren Formen heranzubilden. Das Mittel der Steigerung ist der Kampf ums Dasein, aber nicht dieser allein. Den Umstand bedenkend, daß die Schädel gewisser Affen im Kindesalter viel menschenähnlicher sind als später, sagt der Baseler Naturforscher Rütimeyer: »Muß nicht jeder, der den Kopf eines sehr jungen mit dem eines erwachsenen Orang-Utan vergleicht, traurig ausrufen: was ist aus dir geworden! Und erinnert er sich nicht mit Schmerzen, was er selbst an bestem und zukunftsreichstem, weil echt schöpferischem Menschengeist, an Phantasie und Poesie, besaß, da er noch Kind war und den Kampf ums Dasein nicht kannte? Es muß also wohl zum Kampf ums Dasein, an dessen Wirkungen niemand mehr zweifeln wird, noch etwas Ferneres kommen, was diesen siegreich überwindet, ein Drang nach vorwärts, eine Triebfeder, welche aller Schöpfung per aspera ad astra forthilft.« Dies andere ist die weibliche Phantasie, welche nicht nur unter den Bewerbern das schönere, kräftigere Tier ausliest, sondern auch eine vollkommenere Form auf die Jungen überträgt. Wahrscheinlich ist es der ganze innere Zustand und sind es die Atmungsverhältnisse eines unbewußten weiblichen Geschöpfes, die unter Umständen die höhere Form von selbst bilden, zu der das männliche Tier die im Kampf ums Dasein erworbene, tüchtige physische Grundlage liefert. Das männliche Geschlecht verträte demnach das Nützliche und Zweckmäßige, das weibliche die Phantasie oder, soweit es Menschen betrifft, das Schöne, Gute und Wahre.

Das Prinzip der Steigerung wird zunächst durch das beim Menschen erscheinende Selbstbewußtsein aufgehoben. Die Pflanze und das Tier haben nur das Bewußtsein der höheren Form; erst der Mensch, eben weil er die höchste Form ist, hat Selbstbewußtsein, kann sich auf sich selbst beziehen. Gattungsbewußtsein ist Gottbewußtsein; ich vermute, daß die Worte Gott und Gattung wesensverwandt sind. Goethe: »Sagst du Gott, so sprichst du vom Ganzen.« Das Einzelbewußtsein, welches bei den Tieren erwacht, ist beim Menschen vollendet und setzt sich zunächst dem Gattungsbewußtsein entgegen. Die Steigerung zur Person, die der Mensch erfahren hat, bedeutet einen Niedergang, wenn es ihm nicht gelingt, das Selbstbewußtsein mit dem Gattungsbewußtsein in Einklang zu setzen, zu welchem Zweck das Selbstbewußtsein überwunden und erweitert werden muß. Das Tier hat unter allen Umständen Gattungsbewußtsein; nur der Mensch kann durch das Einzelbewußtsein so von seiner Gattung abgelöst werden, daß wir ihn wahnsinnig nennen müssen, und Völker können durch das Überhandnehmen der Sonderinteressen über die Gesamtinteressen zerstört werden. Dagegen hilft nicht etwa Unterdrückung oder Herabsetzung des Selbstgefühls, sondern starkes Selbstgefühl, das sich für viele einsetzt. Denn Vereinigung des All- und Einen ist eben das Göttliche; Gott ist persönlich und doch allumfassend.

Es ist das Los des Menschen, selbstbewußt zu werden, und seine Bestimmung, das Selbstbewußtsein zu überwinden durch das Gottesbewußtsein, welches zugleich mit jenem entsteht. Vom Tiere unterscheidet den Menschen das Selbstbewußtsein und das mit diesem zusammenhängende Bewußtsein des persönlichen Gottes: Gott und Satan hängen unzertrennlich zusammen; es ist unmöglich, an den einen und nicht an den andern zu glauben. Die Höherentwickelung des Tieres ging unbewußt vor sich; die des Menschen geschieht unbewußt, aber auch bewußt, durch Hilfe des Wortes, der bewußten Vorstellung der vollkommenen göttlichen Persönlichkeit. Die unwillkürlich wirkende Naturkraft und der durch das Wort fortgepflanzte Glaube an das Ideal müssen zusammentreffen, damit der Mensch entstehe, der sich kämpfend zum Überwinder entwickeln kann. Denn es ist ein Naturgesetz, daß nach dem Erscheinen des Selbstbewußtseins ohne Selbstbewußtsein keine Höherentwickelung mehr möglich ist, obwohl dasselbe an sich keine schaffende Kraft, sondern eine Hemmung ist. Nachdem die menschliche Gattung erreicht ist, ist die Natur abzüglich der Menschheit geistlos geworden und vervollkommnet sich nur noch unter Beihilfe des Menschen. Sich selbst überlassen, neigt nun nach dem Ausdruck Goethes die Natur dem Verwildern zu, kann sie nur verwildern oder entarten, sich zurückbilden. Ebenso ist jedes Individuum, sei es ein Einzelner, Familie oder Volk, welches kein Gottesbewußtsein oder Bewußtsein einer höheren Form mehr hat, nicht mehr entwickelungsfähig, sondern fällt der Entartung anheim. Es tritt deshalb an die Stelle der Natur, nachdem der Mensch in ihr erschienen ist, die Religion, Musik, Poesie und Kunst umfassend, durch eine neue Offenbarung Gottes, welche in der Bibel der Heilige Geist genannt wird. Diese übernimmt die persönliche Steigerung der Menschheit, wenn die Natur die Grenze ihres Waltens erreicht hat, gleichwohl noch immer weiter wirkend. Viele Menschen begehen den Fehler, zu denken, daß in der Natur alles schön und vollkommen sei; vielmehr kann und soll die Natur durch den Menschen, ihren Sohn, veredelt werden. Der Grundsatz, die Natur schlechtweg nachzumachen oder walten zu lassen, führt im Leben wie in der Kunst ebenso zur Erniedrigung wie der entgegengesetzte, sie beherrschen zu wollen. Aus diesem Grunde kann tatsächlich ohne Religion kein Volk auf die Dauer ein Kulturvolk bleiben, wenn anders unter Religion der Glaube an ein höchstes Wesen zu verstehen ist, zu dessen Ebenbild der Mensch erschaffen ist, welcher Glaube freilich nicht in jeder Kirche lebendig ist.

Es ist nun begreiflich, daß von jedem Individuum – sei es ein Einzelner, Familie oder Volk – ein Höhepunkt erreicht werden kann, jenseit dessen keine Höherentwickelung mehr möglich ist. Ist auch kein Höhepunkt absolut (wenn wir von Christus absehen), so gibt es doch viele, die unübertreffbar sind an einem bestimmten Punkte und zu einer bestimmten Zeit, und denen ein Erschlaffen oder Erlöschen nachfolgen muß. Erreicht das gesamte Leben der Erde einmal einen Höhepunkt, um so mehr das der Völker, die sie bewohnen; indessen so wett geht unsere Erkenntnis nicht, vorauszuwissen, ob ein Individuum eine Verjüngung erleben kann und wie oft. Wie jener dürre Stab grün ausschlug und die Rettung der Seele Tannhäusers dem päpstlichen Fluche zum Trotz anzeigte, so kann aus einem scheinbar auf immer gesunkenen Volke neue Lebenskraft entzündet werden. Als das erste Anzeichen des sich vollziehenden Wunders wird Religion erscheinen: das Bewußtsein der eigenen Schwäche und die Verehrung des Höchsten, dem es nachzustreben gilt. Dies ist aber durch keinerlei kirchliche Veranstaltungen, durch keine Befestigung oder Betonung des Kirchlichen zu erreichen, kann vielmehr im Gegensatz zur herrschenden Kirchlichkeit entstehen, wenn es auch zu irgendeinem Kult führen wird, ebensowenig durch guten Willen oder durch religiösen Snobbismus; entspringt der Glaube nicht freiwillig aus dem Volke, kann er alles Erdenkliche sein und bedeuten, nur nicht eine Höherentwickelung in die Zukunft.

Solange Goethe jung war, war für ihn die Natur Gott-Natur, die Natur, in der der göttliche Geist sich offenbart: er kannte keine andere und bedurfte keiner anderen. Sein Leben lang hatte es etwas Beglückendes für ihn, dieser göttlichen Offenbarung in der Natur nachzugehen. Als ihm Eckermann staunend von einer Grasmücke erzählte, die sich freiwillig in Gefangenschaft begab, um ihre Jungen füttern zu können, sagte Goethe: »Närrischer Mensch! wenn Ihr an Gott glaubtet, so würdet Ihr Euch nicht verwundern. Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem allmächtigen Triebe gegen seine Jungen, und ginge das gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt würde nicht bestehen können! So aber ist die göttliche Kraft überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam.« Ähnlich äußerte er sich bei Gelegenheit einer plastischen Gruppe, eine Kuh mit dem säugenden Kalbe darstellend: »Hier haben wir einen Gegenstand der höchsten Art; das die Welt erhaltende, durch die ganze Natur gehende, ernährende Prinzip ist uns hier in einem schönen Gleichnis vor Augen; diese und ähnliche Bilder nenne ich die wahren Symbole der Allgegenwart Gottes.«

Solange der Mensch jung ist, fühlt er sich umgeben von einem göttlichen Ganzen, dem er angehört. Lange und mit besonderer Kraft genoß Goethe dies Glück, bis er sich bewußt wurde, ganz zu sein, sich dadurch von der Natur als ein selbständiges, selbstbewußtes Individuum ablöste und sie trennte. Sein erstes Gespräch mit Schiller, das ihre Freundschaft einleitete, ist bekannt, wo er von Erfahrungen sprechen wollte und Schiller ihm sagte: »Das ist ja eine Idee!« Allmählich fängt er nun an, Natur und Geist als gesondert zu betrachten, vergißt aber nie, das Getrennte in seinem ursprünglichen oder wiederhergestellten Zusammenhange zu begreifen. Wenn er z. B. sagt, daß die bloße Natur eine Gans sei, so denkt er an die durch den selbstbewußten Menschen gespaltene Natur, welche durch den Menschen wieder zu einer höheren Einheit geführt werden muß. »Was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen?« Für das doppelte Verhältnis des Menschen zur Natur, daß er von ihr lernen und wiederum sie belehren muß, stellt er Beispiele auf im Schaffen des Künstlers. Er müsse ihr Herr und ihr Sklave sein, sagt er: »Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intensionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.« Die unübertroffene Größe der griechischen Kunst erklärt er daraus, daß sie nicht etwa eine vollkommenere Natur vor sich gehabt hätte, als die jetzige sei, »als vielmehr, daß sie im Fortschritt der Zeit und Kunst selber etwas geworden waren, so daß sie sich mit persönlicher Großheit an die Natur wandten«. Den sogenannten altdeutschen Künstlern wirft er vor, daß sie sich mit persönlicher Schwäche und künstlerischem Unvermögen zur Nachahmung der Natur wendeten. »Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so gesteigert haben, daß er gleich den Griechen imstande sei, die geringere reale Natur zu der Höhe seines Geistes heranzuheben und dasjenige wirklich zu machen, was in natürlichen Erscheinungen, aus innerer Schwäche oder aus äußerem Hindernis, nur Intention geblieben ist.«

Andrerseits heißt es wieder, die Natur habe immer recht, und die Fehler und Irrtümer seien immer des Menschen. Während er gewöhnlich von Gott-Natur spricht, sagt er auch wohl, er glaube an die Natur und an Gott. Was ist es anders als die Unterscheidung von Gott-Vater und dem aus dem Heiligen Geiste geborenen Sohn? Die göttliche Dreieinigkeit, die dem nur obenhin Zuhörenden ein Unding scheint, geht dem des Lebens Kundigen und der reinen Anschauung Fähigen als der Urgrund allen Seins geheimnisvoll und doch unwidersprechlich sich selbst verkündigend auf.


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