Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir haben die Probe im Weltkriege schlecht bestanden. Gott gab uns die Gelegenheit, glorreich unterzugehen, und wir haben sie schmählich verloren, um das feige Leben zu retten. Ein großer Genius rief uns einst zu: »Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre.« Daß dieser Geist nicht mehr in uns lebendig ist, das hat weit schlimmere Folgen für uns als unsere Verarmung und unsere Verluste an Land und Volk. Was taten wir? Wir warfen unsere Waffen fort, nicht um uns abschlachten zu lassen, sondern in der Hoffnung weiterzuleben, bereit, jede Schande zu trinken, um nur ein glanzloses Leben weiterzuführen. Wir gaben die Erklärung ab, den Weltkrieg verschuldet zu haben und deshalb Strafe zu verdienen, und versprachen, diejenigen, die unsere Feinde als strafwürdig bezeichnen würden, unsere ruhmvollsten Führer, ihnen zur Bestrafung auszuliefern. Freiwillig und eilig warfen wir uns in den schlammigen Abgrund der Schande. Niemand zwang uns, den Kampf aufzugeben; wer hätte uns hindern können, in Ruhm zu sterben, wenn wir nicht siegen konnten? Dies durfte aber niemand sagen, wenn er nicht als ein Rasender oder als ein Kindischer verhöhnt werden wollte. Die Möglichkeit, daß ein Volk wirklich bis zum Untergange kämpfen könnte, dämmerte uns nicht mehr auf. Nun gut, auch der Prinz von Homburg hatte einen Augenblick, wo er leben, um jeden Preis leben wollte, um nur den Atem zu ziehen; aber der Held überwand ihn und ermannte sich zum Tode. Wir taten es nicht. Wir lernen zwar in den Schulen, daß die Völker des Altertums kämpfend untergingen. Wir bewundern Hannibal und das edle Volk der Goten, aber wer uns ermahnen wollte, ihnen nachzuahmen, für den haben wir nur ein Lächeln und ein Achselzucken. Eine Gottheit haben wir vergessen anzubeten, den Tod, und haben vergessen, daß er eins mit Gott selber ist.
Wir haben die merkwürdige und sinnlose Gewohnheit angenommen, etwas zu bewundern, nur weil es lange besteht, als wäre langes Bestehen an sich ein Beweis von Tüchtigkeit. Was in Flammen sich verjüngt und immer wieder frische Früchte trägt, das sollte uns entzücken! Wir verstehen nicht mehr, daß der zu fürchtende Tod das Erstarren des Lebendigen und das Aufhören der Entwickelung, daß rechtzeitiges Sterben Überwindung dieses Todes zur Auferstehung ist. Der mildeste der Götter ist der Tod, Bruder des Schlafes, der uns durch das Dunkel der Verwandlung zu neuen Lebensformen führt. Wir haben nur die Wahl zwischen Erstarrung und Verwandlung; die Verwandlung aber kann nicht ohne Sterben des Gewordenen, des Fertigen vor sich gehen. Unsere Feinde hatten zweifellos den besten Willen, uns zu zerstören, soweit ihr Haß und Neid in Frage kam; ihr Selbsterhaltungswille und Verstand aber riet ihnen, uns gerade so weit leben zu lassen, wie für ihren Nutzen ersprießlich ist. Im Altertum zerstörte der siegreiche Feind das überwundene Volk, wenn er konnte; wir wissen, daß Gott sogar Saul zürnte, weil er sein diesbezügliches Gebot nicht vollzog. Die göttliche Weisheit will, daß das Erstarrte, nicht mehr Entwickelungsfähige durch das Junge, Gläubige weggeschwemmt werde. Nicht als wollte ich unsere Feinde als die jüngeren, weniger Erstarrten bezeichnen; im Gegenteil, schon Goethe rechnete die Franzosen zu den stationären Völkern, und Bismarck nannte sie die Chinesen Europas. Wir sind noch nicht am Ende des Weltkrieges: die Zukunft gehört demjenigen Volke, das die meiste Fähigkeit hat, sich verwandeln zu lassen. Der Abgrund schließlich über dem freiwilligen Opfer; der wagende Held des Märchens, der die Geliebte zur rechten Stunde in den Brunnen wirft, dem kommt sie strahlend auf blühender Wiese als Braut entgegen.
Es wäre ungerecht, unserem Volke die Geduld und Bereitwilligkeit abzustreiten, mit der es in diesem Kriege schwerste Opfer gebracht hat; es wäre auch ungerecht, das arme, notleidende Volk zu verdammen, weil es zu dem letzten Verzweiflungskampfe nicht bereit war. Denn das besitzlose Volk war es ja doch schließlich, das die größten Opfer zu bringen und die größte Anstrengung zu leisten hatte; und doch wäre es auch vielleicht zur äußersten Hingabe bereit gewesen, wenn die Führenden ihm vorangegangen wären. Goethe, der als Aristokrat gilt, hat gesagt, daß immer die Regierungen an den Revolutionen der Völker schuld seien. Gehen die Gebildeten mit dem Beispiel der Opferwilligkeit, freiwilliger Armut, selbstüberwindender Entsagung, stolzen Todesmutes voran, so wird das Volk folgen. Indessen wissen wir wohl, daß die höheren Klassen das Beispiel der Selbstsucht, der Verweichlichung, der Geldgier gaben und eine bequeme Pflege von Kunst und Wissenschaft für Idealismus ausgaben.
Erkennen wir alle unsere Mitschuld und grüßen wir, anstatt ihr zu fluchen, die neue Zeit, die mit gelbem Schein über der bebenden Erde aufzieht. Sie ist nicht mehr starr unter uns, als wäre sie ehern, sie atmet und seufzt wie ein Erwachender. Zunächst schaudern wir, indem wir das gewohnte Gefühl der Sicherheit verlieren und noch nicht wissen, wie wir uns zu verhalten haben, um das Gleichgewicht, das jeden Augenblick gestört wird, jeden Augenblick wiederzugewinnen. Wenn es so scheint, als wäre das Leben und seine Güter nichts Festes mehr, nichts, was dem Kinde in die Wiege gelegt wird oder was sich kaufen läßt, sondern etwas Fernes, Ungewisses, was jeder sich erkämpfen muß; wer prüfte da nicht sorgenvoll seine Kräfte? Und doch ist ja auch die Welt nichts Festes: jeden Augenblick muß sie von den Engeln Gottes im Kampfe mit Dämonen aufgebaut, täglich muß die Wahrheit neu verkündet, das Schöne neu gestaltet, das Gute neu getan werden. Alles Lebendige, was uns erscheint, ist das Ergebnis eines dauernden Kampfes: auch der Sternenhimmel über unserem Haupte und wir selbst nach Körper, Geist und Seele. Der Abendländer von heute wird sich vielleicht nicht mehr an dies neue Leben gewöhnen können, und versucht er es, wird er vielleicht unterliegen; aber ein neues Geschlecht wird in den Gluten vieler Kriege und Anstrengungen gelöst und biegsam werden und das Gesetz des Lebens freiwillig ausüben, das wir nur verstehen und verehren können.