Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.
Religion als Streben des sündhaften Menschen nach persönlicher Vollendung


Um die große Wendung der Entpersönlichung zu verstehen, die durch Bacon zuerst formuliert wurde, muß man sich erinnern, was bis dahin das Ideal der Menschheit gewesen war; nämlich ein persönliches. Alle Schöpfung hat ein Ziel: die Pflanzenwelt hatte das Ziel des Tieres, das Tier hatte das Ziel des Menschen, der Mensch hat das Ziel des Übermenschen. Ich gebrauche mit Absicht den durch Nietzsche bekannt gewordenen Ausdruck, der Christus zu entthronen glaubte, während er für Christus kämpfte. Auch die Heiden verehrten Götter, in denen irgendwelche menschliche Eigenschaften zu übermenschlicher Vollendung gekommen waren, und Heroen, die aus den Reihen der Sterblichen strebend und leidend zu ihnen aufgestiegen waren. Auch sie glaubten, daß die Gottheit sich zu den Menschen herablasse und mit ihnen übermenschlich heldische Wesen erzeuge. Das Christentum war deshalb den Heiden eine durchaus verständliche Lehre, und wie sie das Göttliche in Paulus fühlten, beteten sie es bereitwillig in Christus an. Welche Eigenschaften es nun waren, die vorzüglich als göttlich oder übermenschlich galten, das soll einstweilen noch dahingestellt sein; feststellen möchte ich nur, daß die Religion die Verehrung eines höchsten Wesens oder höchster Wesen war, welche den Menschen als Ideal vorschwebten, und denen ähnlich oder gleich zu werden von den Gläubigen als Ziel ihres Lebens betrachtet wurde. »Das Christentum steht mit dem Judentum in einem weit stärkeren Gegensatz als mit dem Heidentum«, sagt Goethe. Gemeint sind wiederum nicht die vorchristlichen Juden, sondern die Juden zur Zeit Christi und seitdem, deren Religion in Moralvorschriften besteht. Das Wesen der Religion aber ist, an einen Gott oder Übermenschen zu glauben und als die Aufgabe des Menschen das Einswerden mit ihm zu betrachten. Also gehört es auch wesentlich zur Religion, den Menschen für unvollkommen, für sündig zu halten, aber überzeugt zu sein, daß er in den Kämpfen des Lebens besser werden und schließlich, nach Abschluß des Lebens, mit einem Anteil an der göttlichen Vollkommenheit begnadet werden könne. In dieses Leben fällt die Entwickelung, das Werden, die Glorie bekränzt den Überwinder drüben. Das Ziel der heidnischen und christlichen Religion ist jenseitig und ist persönlich. Das Leben ist der Höherentwickelung des Menschen durch den Kampf gewidmet.

»Dieses Leben ist nicht eine Gesundheit«, sagt Luther, »sondern ein Gesundwerden, nicht ein Wesen, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind es noch nicht, wir werden es aber. Es ist noch nicht getan und geschehen; es ist aber im Gang und Schwang. Es ist noch nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es fegt sich aber alles.« Ebenso Goethe: »Vollkommenheit ist die Norm des Himmels, Vollkommenes wollen die Norm des Menschen.« Er faßte das Leben als eine Pflanzschule für eine Welt der Geister auf: Gott sei in höheren Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen.

Wenn ich sage, daß das Ideal Gott ist, so wird es zunächst scheinen, als sei das ein Gott, den der Mensch sich selbst mache, zu welcher Meinung ja überhaupt viele neigen, die dem Wesen der Gottheit etwas tiefer nachgespürt haben. Leicht gelangt man zu der Umkehrung: Gott sei das Abbild des Menschen. Indessen braucht man sich nur vorzustellen, in welcher Weise das Tier dazu kam, Mensch zu werden. So wenig es vom Willen des Tieres abhing, Mensch zu werden, so wenig hängt es vom Willen des Menschen ab, zu den Göttern steigen zu wollen. Die Idee des Vollkommenen, dem der Mensch gleich zu werden die Aufgabe habe, ist ihm eingeboren, ja sie ist der Kern seines Wesens, die ihn erst zum Menschen macht und das einzige, was nicht durch die Sinne in seine Seele gekommen, sondern himmlisches Erbteil ist. Das Vollkommene ist; es offenbart sich in Pflanze und Tier als der Trieb zu höheren Formen und auch im Menschen als der mächtigste aller Triebe, mächtiger selbst als der nach Gewinn und Genuß, den Tod überwindend, der Gottheit ähnlich zu werden. Im einzelnen Geschöpf offenbart sich der Drang; denn Gott ist persönlich. Woher die Kraft uns kommt, das wissen wir nicht, wir kennen nur das Urbild, das Helden, Dichter und Künstler uns in ihrem Leben und Werk offenbaren, wir kennen sie als allmächtiges Gefühl in uns und anderen, wir beten sie an und fühlen uns ihr unterworfen, wenn auch jahrelang, jahrzehntelang und länger ganze Völker sie vergessen und sich von ihr losreißen. So wohnt Gott durch unser Herz in der Welt und doch hoch über ihr; denn die Welt umschließt immer nur das Vergangene und Gegenwärtige, Gott ist aber das Ganze, das in unendliche Zukunft unendlich sich ausbreitet. Den Sinnen nicht greifbar, ist es der Ewige Vater doch dem Glauben; nicht so, das kann nicht genug betont werden, als etwas, was jeder nach Belieben und Vermögen sich ausdenkt, sondern als Kraft, die jeden nicht ganz Entarteten wenigstens zuweilen über sich hinaus treibt, so daß er aus einem Einzelnen einer wird, der andere vertritt, seien es auch nur seine eigenen Kinder.

Halten wir fest, daß Gott das Ganze gegenüber einem Einzelnen ist, so verstehen wir, wieso dem Menschen das Ideal des Vollkommenen und Ganzen aufgehen kann und muß, obwohl er auf Erden nur Bruchstücke kennenlernt. Ist er doch selbst, obwohl ein Teil und sich als Teil fühlend, mit Vorfahren und Nachkommen zu einer Kette verknüpft, ein organisches Ganzes und lebt in Kreisen, die sich ihm als Ganzes darstellen, z. B. in der Familie und in seinem Volke, und deren Vergänglichkeit und Unvollkommenheit er erst mit Schmerzen erfahren muß. Daß alles, was sich uns auf Erden als Ganzes darstellte, nur Teil ist, ist wieder eine Erfahrung, die zu der Erkenntnis führt, daß nur der Eine Gott vollkommen ist, der unendlich ist, und wenn er sich als Ganzes offenbart, sich doch stets wieder auflöst, um sich in ein ewig Künftiges wachsen zu lassen. Gott gleich werden hat denn auch stets bedeutet, aus einer Einzel-Person Einer werden, der möglichst viele vertritt, wie ja bei vielen Völkern Götter und Könige dasselbe ist.

Wenn nun der antike Mensch der christlichen Religion und dem Bilde des Gekreuzigten mit Mißtrauen und Abneigung gegenüberstand, so rührt das daher, weil er von ganz anderen Voraussetzungen ausging und das, was wir Individualismus nennen mögen, die Neigung sich als Einzelwesen zu fühlen, in sich selbst nicht nachfühlte. Der Widerwille des antiken Menschen betraf viel weniger Christus als das Absonderungsgelüste der Juden, das Satanische, das er nicht kannte, und zu dessen Überwindung er also auch keinen Erlöser brauchte. Insofern freilich bedurfte doch auch die Antike des Heilands, als das Ganze, das sie umfaßte, beschränkter Natur war, während Christus, jede irdische Ganzheit auflösend, auf den überirdischen Gott hinwies, der im Unendlichen lebt und zu dem alle endliche Größe hinstrebt. Der antike Mensch ist also nicht etwa besser als der Christ, nur auf einer früheren Entwicklungsstufe befindlich und einem Kinde oder jungen Menschen vergleichbar, für den es gewisse Laster, aber auch gewisse Möglichkeiten der Größe noch nicht gibt.

Betrachten wir die Weltgeschichte, so finden wir im Altertum und Mittelalter den Kampf als den naturgemäßen Zustand, wir finden allen innewohnend die Überzeugung von der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber dem Ideal und die Sehnsucht, dem Ideal ähnlich zu werden, was bei der angeborenen Mangelhaftigkeit nur durch Umwandlung geschehen kann. Der Tod, aufgefaßt als eine Verwandlung in höhere Form, ist als etwas Wesentliches in der Religion inbegriffen. Bei Heiden und bei Christen finden wir wohl natürliche Todesfurcht, das versteht sich von selbst, aber keinerlei Bekämpfung oder Vertuschung des Todes, sondern seine Verehrung als einer göttlichen, heiligenden und verklärenden Macht, der der Mensch sich willig zu ergeben hat. Jüdisch und modern ist das Sicherhaltenwollen um jeden Preis, die Beschränkung des Lebens auf das Diesseits, auf das Wirkliche und Mögliche.

Bacon stellte der Menschheit ein neues Ziel auf, nämlich die Beherrschung der Natur durch die Wissenschaft; er wollte die civitas dei durch die civitas hominis, die Herrschaft des Menschen, überwinden. Das Ziel des Menschen ist danach nicht mehr seine Höherentwickelung, welche zur Verklärung im Tode führt, sondern seine Herrschaft, die sich auf Erden vollzieht. Aus dem jenseitigen Ziel ist ein irdisches geworden, aus dem unendlichen ein endliches.

Es versteht sich von selbst, daß eine solche Umkehrung des Weges nicht eine Erfindung Bacons sein konnte; daß sie innerhalb der Entwickelung der Menschheit vorbereitet war, und daß sie, wenn nicht in der Natur, so in der Menschheit irgendwie begründet sein muß. Es ist deshalb nötig, die Urkräfte zu betrachten, die der Schöpfung zugrunde liegen.


 << zurück weiter >>