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Wenn Luther den allgemeinen Untergang, und das mußte ja der Untergang des Römischen Reiches Deutscher Nation sein, für die nächste Zeit voraussah und voraussagte, so irrte er nicht; hatte er doch selbst, ohne es zu wollen, ihn mit herbeiführen müssen. Die Antwort Deutschlands auf Bacons Verkündigung der neuen Weltanschauung war der Dreißigjährige Krieg, der wie ein zerstörendes Gewitter, auf Rosseshufen vorüberbrausend, ein zertretenes Land zurückließ; war der Blutstrom aus dem Herzen sterbender Geschlechter, der Tränenstrom der Verwaisten, der Bettler und Krüppel; war die Musik Bachs, auf kristallenen Stufen durch Erdenschmerz in den Himmel steigend, war Friedrich der Große mit seinen Helden und Taten, war ein rauschender Chor von Unsterblichen: Händel, Gluck, Mozart, Beethoven und Schubert, endlich Schiller und Goethe; alles dies aus der durch Luther entfesselten Kraft, die als ein goldener Äthersaft noch einmal den Stamm der Deutschen hinaufquoll.
Nicht etwa daß der Umschwung Deutschland gar nicht berührt hätte; hauptsächlich und zunächst aber durchdrang die neue Weltanschauung England und dann Frankreich. Bacon selbst war noch kein Anhänger des kopernikanischen Systems gewesen; indessen kam doch die neue Betrachtung des Universums allmählich zur Herrschaft, und geniale Männer beförderten sie durch ihre Entdeckungen. Wie die Erde sich einmal von der Sonne abwenden und ins Dunkel rollen muß, so muß auch die Entwickelung des menschlichen Geistes einmal der Auflösung zuführen. In gleichem Maße, wie die Erde aufhörte, in den Augen der Menschen Mittelpunkt des Weltalls zu sein, tritt auch der Mensch aus seiner bevorzugten Stellung zurück: wenn es keinen Gott mehr gibt, hört er auf, Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung zu sein. Dies wurde nicht geradezu ausgesprochen und machte sich auch erst allmählich fühlbar, erst allmählich wurde die Herrschaft großer Persönlichkeiten zurückgedrängt, bis man sie endlich gar nicht mehr erträgt und auch nicht mehr hervorbringt.
Auf mittelalterlichen Weltplänen sieht man zuweilen die Erdteile und Länder, die damals noch unentdeckt waren, angedeutet durch groteske Geschöpfe mit Fischschwänzen, Entenfüßen oder Hundeköpfen. Diese Geschöpfe standen aber, soweit man an ihr Dasein glaubte, unter dem Menschen; sie waren vielleicht mit sehr begehrenswerten Fertigkeiten ausgestattet, aber sie besaßen keine unsterbliche Seele und waren entweder ihm untertan oder ihm feind als dem beneideten Höheren, dem Auserwählten. Seit die Erde durch die Wissenschaft bestimmt war als ein Stern unter Sternen, tauchte der Gedanke an die Möglichkeit auf, daß es auf anderen Sternen Wesen geben könnte, die vorzüglicher als wir wären. In neuerer Zeit werden sogar Romane geschrieben, in denen solche Wesen handelnd auftreten und in Beziehung zu der Erdbevölkerung gesetzt werden. Gleichzeitig dachte Nietzsche darüber nach, ob es nicht auf eine über den Menschen hinausgehende Gattung abgesehen sei. Allerdings gab er das wieder auf und kam zu der Einsicht, daß die Höherentwickelung der Menschheit nicht im Darwinschen Sinne zu nehmen, sondern daß sie persönlich sei, in den edelsten Exemplaren der Menschheit, wie man das ja auch stets angenommen hatte, und leistete der neuen Weltanschauung nur seinen Zoll, indem er forderte, daß diese Exemplare planmäßig gezüchtet werden sollten. Trotzdem besteht zwischen der Theorie Darwins und den Ideen Nietzsches insofern ein Zusammenhang, als Darwin nicht ausging von der Idee des Menschen als dem der Natur innewohnenden Gottesbilde, auf welches die ganze Entwickelung als auf ihr Ziel gerichtet ist, sondern von einer Entwickelung, die blind von einem Vorteil zum andern geführt wird, wobei denn allerdings nicht einzusehen ist, warum sie gerade beim Menschen haltmachen sollte. Das Gemeinsame bei allen diesen Erscheinungen ist, daß man den Menschen nur als das in der Wirklichkeit Gegebene betrachtet, nicht mehr als den Göttersohn, der sich den Weg in seine himmlische Heimat erkämpft.
Goethe nennt den schönen Menschen das letzte Produkt der immer sich steigernden Natur. »Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, dann würde das Weltall, wenn es selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.« Die veränderte Ansicht bewirkte allmählich auch einen entscheidenden Umschwung in Dichtung und Kunst.
Die Auffassung der Welt als eines unendlichen Ganzen mit dem ganzen Menschen, dem Gott-Menschen, im Mittelpunkte, mußte sich ändern mit dem Augenblick, wo der Mensch aus einem kämpfenden, handelnden, zu einem denkenden Wesen wurde, wo er nicht mehr die eigene, im Jenseit sich vollendende Entwickelung anstrebte. Denn nur dadurch kann das Unendliche in das Ganze einbezogen werden, ohne daß die Idee der Unendlichkeit die Idee der Ganzheit zerstört. An die Stelle der unendlichen Entwickelung des Einzelnen trat seit Bacon die Idee des Fortschritts, welcher nicht im Menschen, sondern in seinen Werkzeugen und Einrichtungen liegt und welcher, um die Idee der persönlichen unendlichen Entwickelung zu ersetzen, gleichfalls als unendlich angenommen werden mußte. Es gehört durchaus dazu, daß der Mensch nicht mehr als sündig, sondern als von Natur gut galt, so daß er des Kampfes im Leben und der Vollendung im Jenseit gar nicht mehr bedurfte. Die Verdrehtheit war und ist so ungeheuerlich, daß man einerseits die Christenlehre, als sei der Mensch von Natur sündig, dem Christentum zum Vorwurfmacht, als setze es den Menschen herab, andrerseits das Heidentum hoch preist, weil es dem Menschen erlaubt habe, seine natürlichen Triebe zu entfalten, und daß schließlich, wer an Sünde glaubt, harmlose Naturäußerungen für Sünde hält. Daß an den Machttrieb des Einzelnen, durch den er sich zum Mittelpunkte einer beherrschten Welt machen will, einerseits nicht mehr geglaubt wird, und daß auf der anderen Seite seine Äußerung nicht gewünscht wird, ist in der modernen Gesellschaft begreiflich. Je mehr die Weltanschauung des Deismus und der moderne Staat sich fest begründete, desto mehr scheinen die Lebensgewohnheiten des Gebildeten zu bestätigen, daß der Mensch gut sei. Er schien gut, weil man für selbstverständlich fand, daß er sich nur als Privatperson auffaßte, für welche der Staat sorgte, während diejenigen, die dabei irgendwie zu kurz kamen, als Verbrecher oder minderwertig aus der Gesellschaft ausgeschieden wurden. Es ist folgerichtig, daß der Sozialismus schließlich die Forderung erhob, der Staat müsse, wenn überhaupt, dann für alle aufkommen. Mit der Idee des unendlichen Fortschritts warf sich die Menschheit idealistisch in die Brust, während sie Ausdruck des schamlosesten Materialismus ist. Man kann den Satz aufstellen, daß beim Fortschritt Stoff vermehrt und Kraft verdrängt wird, während bei der persönlichen Entwickelung Kraft entfesselt und Stoff verzehrt wird. Die Vermehrung des Stoffes durch den Fortschritt führt nach einer gewissen Zeit dahin, daß die Menge des Stoffes sich selbst zerstören muß, wodurch denn die Idee des unendlichen Fortschritts ad absurdum geführt wird.
Eine erstaunliche Flachheit des Denkens griff zunächst in England um sich, mit welcher verglichen die Scholastik, noch am Rande einer tiefsinnigen Religion sich bewegend, bedeutend erscheinen muß. Bacon hatte den Kultus und die Moral beibehalten, die Religion aber ganz ausgeschaltet. Nach ihm ist dem menschlichen Geiste nichts angeboren als die Fähigkeit, durch die Sinne etwas zu erfahren: es gibt für den Menschen nichts als sinnliche Erfahrung. Von dieser zu Gott, vom Wissen zum Glauben führt kein Weg. Bedenkt man, daß es eben der Geist ist, göttlicher Geist, der durch die Sinne, seine Werkzeuge, sich mit andern Geistern in Verbindung setzt, so sieht man die haarsträubende Täuschung, die in dem Satz liegt, daß von den Sinnen kein Weg zu Gott führen solle. Bei Goethe finden wir grade die gesunden Sinne genannt als die Voraussetzung der Vollkommenheit; bei ihm sind sie aber, ganz wie bei den Kirchenvätern, Werkzeug des Geistes, der seine Bestimmung zum Ebenbilde Gottes fühlt. Zwar zieht Bacon den Schluß, daß nichts im Wege stehe zu glauben, was die Kirche verlangt; denn wenn das Wissen über den Glauben nichts aussagen kann, so kann es ihn auch nicht widerlegen. Nun ist aber irgendeine Träumerei oder Überlieferung, die man zuläßt, weil man keine entscheidenden Beweise gegen sie aufbringen kann, keine Religion. Wenn man von der Wahrheit der Religion nicht viel fester überzeugt ist als von irgendeiner Wissenschaft und Wirklichkeit, und wenn man sich nicht nötigenfalls auf sie gegen den Staat stützen kann, so beraubt man sie ihres Wesens und Wertes. Denn man soll ja Gott mehr gehorchen als den Menschen. Freilich führt die Kirche nicht das Schwert und gründet sich auf Freiwilligkeit; aber sie erhebt die Forderung, daß das Ideal, welches sie predigt, dem Menschen in allen seinen Handlungen vorschwebe und im Falle eines Widerspruchs allen weltlichen oder staatlichen Ansprüchen vorzugehen habe. Die Religion soll die Welt mit dem göttlichen Willen verbinden, der dem menschlichen, in der Welt ausgeprägten Willen entgegengesetzt ist; es fußt auf dem göttlichen Willen zwar die menschliche Ordnung, aber von ihm durchdrungen sind auch die Erlöser, welche die Menschen von den menschlichen Ordnungen befreien, wenn der göttliche Atem in den erstarrten nicht mehr weht. Eine Staatsreligion, welche nur den Zweck hat, die Menschen im Gehorsam gegen den Staat zu erhalten, ist keine Religion: ein Volk, das seinen Nutzen als höchstes Ideal bekennt und dies Ideal auf Erden zu verwirklichen sich vornimmt, bedarf keiner. Die grundsätzliche Trennung von Wissen und Glauben bedeutete eigentlich, daß das Wissen etwas Sicheres und der Glauben etwas Unsicheres sei; sie führte zu der Täuschung, als handle es sich in der Religion um ein Fürwahrhalten, als gebe sie die Einsicht, nicht die Phantasie und den Willen an. Schließlich verstanden viele unter Glauben ein Sicheinbilden von Dingen, die nicht existieren, während es sich um das Wirken der Kräfte handelt, die alles Existierende schaffen und erhalten.
Wenn nun Bacon der Kirche ein Zugeständnis machte, so war es, weil er sie unter den Gesichtspunkt des Nutzens stellte, den einzigen, den es im Regnum hominis geben kann, und ihr die Aufgabe zuwies, die Menschen zu guten Staatsangehörigen zu erziehen und außerdem dem Staate als ideales Aushängeschild zu dienen. Bacon selbst, der vernichtenden Beurteilung zum Trotz, die er von einzelnen Engländern erfahren hat, konnte im englischen Sinne ein religiöser Mensch genannt werden: er anerkannte die Staatsreligion und machte die Gebräuche mit, was ihn nicht hinderte, sein ganzes Leben dem Dienste des Mammons zu weihen. Zwischen Glauben und Leben wird ein entschiedener Strich gemacht, mit voller Wucht, mit Absicht strengt man alle Kräfte an, um den Nutzen des Staates und damit zugleich den eigenen Nutzen zu befördern, es gibt durchaus nichts zwischen Himmel und Erde, was dagegen geltend gemacht werden könnte: die Kirche kennt nur gute Werke oder Moral, keinen wundertätig eingreifenden, nach einer höheren, uns undurchdringlichen Gerechtigkeit richtenden Gott. Wegen dieser englischen Eigentümlichkeit, durchaus unreligiös, aber streng kirchlich zu sein, mag man die Engländer stets mit den Römern verglichen haben, bei denen gleichfalls der bewußte Wille die unwillkürlichen Kräfte durchaus überwog. Hier beginnt auch die berüchtigte englische Heuchelei, die stets von einem Gott spricht, der doch seinen eigenen Willen nicht haben darf, sondern den Willen Englands tun muß.