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Wir hören, daß Schopenhauer von Goethe erzählt: »Dieser Goethe war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden.« »Was,«« sagte er mir einst, mit seinen Jupiteraugen mich anblickend, »das Licht sollte nur da sein, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.«
Wie groß erscheint Goethe in dieser bescheidenen Gläubigkeit! Wie herrlich drückt das Anblitzen der Jupiteraugen aus, daß er das Satanische in der von Schopenhauer vertretenen Ansicht durchschaute, durch welche das Subjekt sich als das allein Seiende und Wirkende gelten lassen will, und daß es das Göttliche in Goethe war, dessen Strahl den ewigen Widersacher traf.
Schopenhauer hätte Goethe daraufhin anstatt einen Realisten einen Christen nennen können; denn eben dadurch erwies sich Goethe als Christ, wie er ja auch selbst als solcher sich bekannte, daß er als seiende und wirkende Kraft nicht nur sein Ich, sondern auch außer ihm wirkende Kräfte annahm, daß er zugleich von innen und von außen ausging.
Erinnern die Worte Goethes nicht an das tiefsinnige Bibelwort: »Der das Auge geschaffen hat, sollte der nicht sehen? Der das Ohr gemacht hat, sollte der nicht hören?« Es ist Ein Gott, ein und dieselbe Geisteskraft, die wirkt und Gegenwirkung leidet; Satan ist der Geist, der keine Gegenwirkung leiden will. Die Antike ging von außen aus, die altchristliche Philosophie, welche noch mit der Bibel zusammenhing, zwar vom Inneren, aber doch auch von außen; erst die moderne Philosophie machte den verhängnisvollen Fehler, nur vom Inneren auszugehen und aus dem Inneren allein die Welt herausspinnen zu wollen, welches ebenso unmöglich ist, wie daß ein Mann allein oder ein Weib allein ein Kind sollte hervorbringen können.
Das Ausgehen vom Ich ist gleichbedeutend mit dem Ausgehen vom Bewußtsein, welches die Neuzeit charakterisiert. In den vielen Streitschriften Luthers, welche uns langweilig oder überflüssig erscheinen, weil wir sie nicht verstehen, wo es sich um das Seligwerden aus Gnade oder aus eigener Kraft handelt, und wo Luther steif darauf beharrt, dem Menschen jede Bewegung, jedes geringste Entgegenkommen abzuerkennen, ist nach unserer entpersönlichten Redeweise vom Ausgehen vom Bewußtsein oder vom Unbewußten die Rede. Dies eine unterscheidet den modernen Menschen vom antiken und mittelalterlichen, wir können auch sagen den alternden, erstarrenden vom jungen: das Ausgehen vom Bewußtsein anstatt vom Unbewußten.
Christus erkannte sich als Gottes Sohn; aber er erkannte auch den Vater, in dem er als Mensch lebt und webt. Dieselbe Lehre und Mahnung vernehmen wir auch von Goethe, nur natürlich meistens in der Sprache seiner Zeit, welche entpersönlicht oder wissenschaftlich war, die ihm bis zu einem gewissen Grade, als Sohne seiner Zeit, natürlich war, und ohne welche er von seinen Zeitgenossen gar nicht hätte verstanden werden können.
»Die große Schwierigkeit bei psychologischen Reflexionen ist, daß man immer das Innere und Äußere parallel oder vielmehr verflochten betrachten muß. Es ist immerfort Systole und Diastole, Einatmen und Ausatmen des lebendigen Wesens; kann man es auch nicht aussprechen, so beobachte man es genau und merke darauf.«
»Reines Anschauen des Äußeren und Inneren ist sehr selten.«
»Kepler sagte: ›Mein höchster Wunsch ist, den Gott, den ich im Äußeren überall finde, auch innerlich, innerhalb meiner gleichermaßen gewahr zu werden.‹ Der edle Mann fühlte sich nicht bewußt, daß eben in dem Augenblicke das Göttliche in ihm mit dem Göttlichen des Universums in genauester Verbindung stand.«
»Das Licht ist da und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein Licht und keine Farbe in unserem eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.«
»Es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre.«
Vermutlich ist es dies, was Leibniz mit der prästabilierten Harmonie meinte. Die Bibel, welche, wie es ihrer Zeit angemessen ist, noch die persönliche Sprache führt, spricht von der Dreieinigkeit: Körper und Geist werden in der Seele, Mann und Weib werden im Kinde eins.
In der Beziehung vom Innen zum Außen und wieder vom Außen zum Innen besteht das Leben. Das Aufhören der Beziehung macht sich im Einzelnen geltend als Erstarrung oder geistiger Tod und entsteht durch Beziehung auf sich selbst. Weil jede Wirkung von innen nach außen eine Gegenwirkung erzeugt, äußert sich derjenige, der keine Gegenwirkung erleiden will, überhaupt nicht mehr. Die Wechselwirkung von Tätigkeit und Leiden nennen wir Handeln; ein handelnder Mensch ist ein kämpfender, da er immer einen Widerstand von außen zu überwinden hat. Eine Erfindung der Zivilisation, Äußerung ohne Gegenwirkung zu ermöglichen, ist die Konvention; innerhalb der sogenannten gebildeten Gesellschaft äußert man sich in einer gewissen umschriebenen Weise, welche allgemein gestattet ist und worin keiner den anderen stört. Eine Folge davon ist die Herrschaft der Phrase; denn nicht einmal in Worten äußert der Mensch mehr wahrhaft sein Inneres, geschweige denn in Taten.
Ein geisteskranker Mensch ist im Zustande eines Volkes, das, von allen Beziehungen zu den umgebenden Völkern abgeschnitten, auf sich allein angewiesen wäre. Infolge des Aufhörens der Beziehungen nach außen müssen auch die Beziehungen im Inneren erkranken und erstarren. So ist es verständlich, daß Goethe im Wilhelm Meister das Erwecken von Selbsttätigkeit, also von unwillkürlicher, aus dem Unbewußten fließender Tätigkeit, als einziges, aber auch sicher wirksames Mittel empfiehlt, um Geisteskrankheiten zu verhüten und zu heilen. Es ist dasselbe Mittel, durch das in der Bibel der kranke König Nebukadnezar geheilt wurde, da man ihn unter dem Tau des Himmels liegen und mit den Tieren von den Kräutern der Erde sich weiden ließ. Auf sich selbst gestellt, im Kampfe mit der Natur, gewaltsam in das Spiel von Wirkung und Gegenwirkung hineingedrängt, erwachte seine Selbsttätigkeit wieder, die Kraft, sich unwillkürlich zu äußern, die ihm als Herrscher, der der Gegenwirkung entbehrt, erstarrt war.
Sieht man näher zu, so deckt sich diese Auffassung mit der der Kirchenväter, welche das Böse in einem Ermatten, einer Trägheit der Seele sahen, und welche glaubten, daß das Verharren im Bösen zum geistigen Tode führe, womit sie die Geisteskrankheit meinten. Nach Origenes kann der Mensch, wenn er die Schwäche der Seele überwindet, sich zu Gott erheben, überwindet er sie nicht, so kann er zum Tier, ja zum Teufel herabsinken. Die Ursache der Trägheit sucht er in einer Übersättigung der Anschauung Gottes: theoria et intellectus dei. Zuviel Theorie also und zuwenig Tätigkeit, natürlich spontane, unwillkürliche. Der Geisteskranke ist insofern böse, als er sein Böses nicht äußert; würde er es äußern, wäre er ein Sünder wie alle Menschen, dem verziehen werden und der gut werden kann.
Daß das Wesen alles Bösen im letzten Sinne Selbstbeziehung oder Selbstbeschränkung ist, leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß das Wesen Gottes oder des Geistes, der schaffenden Kraft, die Liebe ist, nämlich die Richtung eines individuellen Willens auf einen andern, eine Beziehung. Gott kann nur Trinität sein: denn auf eins läßt sich keine Welt aufbauen, nur auf zwei und drei. Religion ist, so kann man sagen, die Lehre von den individuellen Beziehungen, wodurch aus Einzelwesen Gemeinwesen werden. Das Ich ist ein unbewußter Wille, eine Kraft, die sich auf ein anderes Ich richtet, also ein Liebeswille. Es ist dieselbe Kraft, die wir bei nicht des Selbstbewußtseins fähigen Individuen Schwerkraft nennen. Wir bezeichnen sie an Menschen, wo sie dann freilich mit der Fähigkeit der Selbstbeziehung verbunden ist, wohl auch als sein spezifisches Gewicht, im richtigen Gefühl, daß das Vorhandensein dieser Kraft Schwere verleiht, als Anziehung wirkt. Mangelt diese Beziehungskraft oder Schwerkraft, die Fähigkeit der Liebe und des Hasses, so erweckt der Mensch den Eindruck des Leichten, Belanglosen, möge er auch noch so klug, strebsam oder tugendhaft sein. Was bei dem Knaben und Jüngling Goethe schon so überwältigend groß wirkt, ist die Beziehungskraft, die ihn, wohin er kommt, in eine mannigfache Welt versetzt, deren Mittelpunkt er wird, ebensowohl empfangend wie gebend. Die unbewußte Willenskraft wird geleitet durch Instinkte, Impulse oder Inspiration, die ihr durch die mit gesunden Sinnen verbundene Einbildungskraft mitgeteilt wird. Der bewußte Wille dagegen ist an den Verstand gebunden, welcher den eigenen Nutzen, sei es auch in der Form der Gemeinnützigkeit, in Betracht zieht.
Wir nennen einen despotischen, tyrannischen, herrschsüchtigen, stolzen Menschen einen Menschen, der keine Gegenwirkung erträgt. Er will nur auf andre einwirken, aber nicht auf sich wirken lassen, er will andre leiden lassen, vielleicht auch andern Gutes tun, aber nicht selbst leiden und nicht selbst Wohltaten empfangen. Dazu haben Herrscher am ehesten Möglichkeit, die auch am meisten dem Größenwahn und damit der Geisteskrankheit ausgesetzt sind. Indessen kann man überall, auch im kleinsten Kreise herrschsüchtig sein, zum Beispiel innerhalb der Familie. Mann und Frau sollen gegenseitig aufeinander wirken und müssen deshalb Gegensätze sein. Es will manchmal scheinen, als wäre es teuflisch eingerichtet, daß grade solche Menschen sich auf Grund natürlicher Neigung paaren, die sich infolge entgegengesetzter Veranlagung schwer auf die Dauer zu vertragen geeignet sind. Indessen muß es so sein, damit in den aus der Ehe hervorgehenden Kindern die Spannung zweier entgegenwirkender Kräfte vorhanden ist. Die Frau, welche dem Manne gar keine Gegenwirkung entgegensetzt, die nur sein Stoff ist, die Dirne oder Sklavin, ist in der Regel kinderlos. Verhängnisvoll ist es oder kann es für die Kinder werden, wenn der Mann, ein gut-schwacher Mann, der herrschsüchtigen Frau gegenüber Stoff ist. Ein solches Verhältnis bestand augenscheinlich zwischen den Eltern Lenaus, Hölderlins, C. F. Meyers, Nietzsches. Die betreffenden Väter starben jung, waren schwach von Körper und Willen, wurden von der stärkeren Frau beherrscht, wenn auch vielleicht in der Form tyrannisierender Liebe, die sich scheinbar unterordnet. In einer solchen Frau wird das Ideal des starken, rücksichtslosen, Wirkung ausübenden Mannes sich bilden; denn jedes Wesen verlangt sich Gegenwirkung, wie man es bei ungezogenen Kindern so oft beobachten kann, die sich förmlich nach der Strafe einer strengen Hand zu sehnen scheinen. Es ist tief begründet, daß die Frauen einen kraftvollen Mann, der ihnen Leiden zufügt, dem schwachen und gutmütigen vorziehen, der sie auf Händen trägt; ebenso verlangt auch der Mann, wenn er nicht geisteskrank ist, nach einem Widerstand in der Frau und wird der bedingungslos Hingegebenen bald müde.
Es ist höchst interessant, wie in Nietzsche das Ideal der blonden Bestie, das in seiner Mutter vielleicht ohne ihr Wissen lebendig war, zu Worte kommt. Seine physische Grundlage, vermutlich vom Vater ererbt, machte es ihm unmöglich, das mütterliche Ideal in Person zu verwirklichen. Ein natürlich-sündiger Mensch, ein Heide, kann und soll im Kampfe des Lebens gut werden; ein schwach-guter Mensch kann nicht natürlich-sündig werden. Ich sage schwach-gut, weil kein Mensch gut geboren wird, sondern höchstens schwach und dadurch den Eindruck der Güte erweckend, oder moralisch verkrustet, so daß sein natürlicher Wachstumstrieb sich nicht äußert. Jede Schwäche und Verkrustung aber wirft den Menschen auf sich selbst zurück, er erscheint gut, weil er aus Schwäche auf sich selbst bezogen ist, das heißt, weil ihm die Kraft der lebendigen Beziehungen fehlt. Solche Menschen können vornehm und sogar edel erscheinen, weil sie niemandem Unrecht zufügen. Glücklich, wen der Kampf ums Dasein oder die Geschlechtsliebe doch zu einiger Selbsttätigkeit erregt. Das Leben C. F. Meyers zeigt deutlich, wie er nach dem Kampf und der Gegenwirkung sucht, vor der er doch Angst hat, wie er ihn erreicht, wie in der Reibung sich die göttliche Kraft entzündet und in schöner Flamme emporschlägt, um nach kurzem Tage wieder zu erlöschen. Goethes Vater war nicht schwach, wohl aber verkrustet, und in seiner Frau, die ihm eine treue Gattin war, ohne ihn zu lieben, entstand das Ideal des Beziehungsreichen, des lebendig Wirkenden, das ihr großer Sohn im Leben verwirklichte und im Wort formte.