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28.
Über Anschauung und Begriff, Wahrheit und Tatsache


In der Bibel tritt uns Gott der Herr mit allmächtiger und dennoch menschlicher Gebärde entgegen. So malten ihn die großen Maler der Vergangenheit: Menschengestalt und Menschenwort und dennoch hochthronend über der gesamten Erdenmenschheit. Die Unbedachtheit des untersuchenden Verstandes stößt sich daran, indem er meint, Gott sei doch kein Mensch, habe keine Hände und Füße; er kommt schließlich darauf, was der Mensch Gott nenne, sei nichts als eine Vermenschlichung der die Welt bewegenden Kräfte, wobei das »Nichts als« schon eine Enttäuschung und Geringschätzung und die Vermenschlichung die versteckte Meinung einschließt, als ob der Mensch eigentlich Gott mache. Es scheint vielleicht richtig, zu sagen: Gott ist der Wille und die Kraft, sich als vollkommener Mensch zu offenbaren; und selbst wenn man dabei voraussetzte, daß der vollkommene Mensch Vertreter der Menschheit wäre und diese wieder Vertreter der Tiere und immer so weiter, gäbe uns das eine Anschauung, ein Gefühl, einen Begriff von dem Wesen Gottes? Der Verstand kann immer nur einen Versuch machen, sich der Wahrheit anzunähern; in unzähligen herrlich anschaulichen Sinnbildern sagt sie uns die Bibel. Sie sagt, daß Gott kein Mensch sei und an keinem Orte wohne, keine Augen und Ohren habe, daß er aber Fleisch werde, daß er allgegenwärtig sei, daß er höre und sehe, donnere und leuchte; daß er unveränderlich sei und dennoch zum Zorne hingerissen und durch die Gebete des Menschen überwindlich. Das Unfaßliche malt sie so, daß es einem Kinde einleuchtet, und auch den Nichtüberzeugten weiß ihre Sprache so zu treffen, daß die findigen Zweifel in Schauern der Verehrung untergehen.

Die Sache ist die, daß die exakte Phantasie, welche schafft, den Verstand einschließt, der Verstand aber nicht umgekehrt die Phantasie; daß deshalb der Verstand für sich allein die Schöpfungen der Phantasie, und die ganze Welt ist eine Schöpfung der Phantasie, sich nicht mundgerecht machen kann. Fällt einem dabei nicht der Ausspruch der Kirche ein, die Wissenschaft sei gut, solange sie Magd der Theologie bleiben wolle? Setzt man statt Theologie Religion oder Genius, was freilich ein großer Unterschied ist, so war Goethe derselben Meinung. Die Phantasie, sagte er, habe ihre eigenen Gesetze, denen der Verstand nicht beikommen könne und solle; durch die Phantasie entstünden Dinge, die dem Verstande ewig problematisch blieben. Dies wird zwar mit Worten allgemein anerkannt; tatsächlich aber gebärdet sich der Verstand, weil er hochmütig ist, obwohl er nichts als trennen kann, als Meister und glaubt die Phantasie zu übersehen. Der Behauptung, die Goethe als Knabe aufstellte, daß eine abgesonderte Philosophie nicht nötig sei, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei, ist er während seines ganzen Lebens treu geblieben, wenn er sich auch hie und da mit dem Studium der Philosophie befaßt hat. Wie sie ihn als Knaben unterhielt »in dem Sinne, daß mir eine Lehre, eine Meinung so gut wie die andere vorkam; insofern ich nämlich in dieselbe einzudringen fähig war«; so ähnlich wird es ihm als Mann ergangen sein. Die Argumente, die er in Dichtung und Wahrheit zur Begründung seiner Meinung ausspricht, dürfte der Knabe wohl richtig empfunden haben, doch hat sie sicher erst der alte Mann so formulieren können: »Denn da in der Poesie ein gewisser Glaube an das Unmögliche, in der Religion ein ebensolcher Glaube an das Unergründliche stattfinden muß, so schienen mir die Philosophen in einer sehr üblen Lage zu sein, die auf ihrem Felde beides beweisen und erklären wollten; wie sich denn auch aus der Geschichte der Philosophie sehr geschwind dartun ließ, daß immer einer einen anderen Grund sucht als der andere, und der Skeptiker zuletzt alles für grund- und bodenlos ansprach.« Das schließt natürlich nicht aus, daß Goethe nicht bei manchen Philosophen Zusagendes gefunden habe, wie er ja tatsächlich auch getan hat; aber es war dann nichts anderes, als was Religion und Poesie bereits schöner und treffender gestaltet hatten. Auch bei der indischen Philosophie war es das Systematische, was Goethe abstieß; denn der Verstand, mit abstrakten Begriffen operierend, will sich immer zum System schließen, während das schaffende Leben sich rundet, ohne sich zu schließen. Es folgt daraus, daß der Verstand andere Gegenstände haben muß als die Phantasie, und daß diese Gegenstände nicht lebendig sein können; folglich sind sie tot. Er kann nur trennen und zusammensetzen; wird das Lebendige getrennt, so ist es nicht lebendig mehr. Tot ist nun aber alles Erstarrte, alles Vergangene, sofern es wirklich vergangen und abgeschlossen ist und nicht im Künftigen fortlebt.

»Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen.« »Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot. Daher kann es keine Geologie geben; denn die Vernunft hat hier nichts zu tun.«

Mit Vernunft, sieht man, meint Goethe hier den Verstand, der in die Phantasie eingeschlossen ist, oder man kann geradezu sagen die Phantasie. Was ist denn auch die Idee oder der Logos, der Fleisch ward, anderes als Phantasie, als schaffende Kraft? Sicherlich ist es doch die schaffende Kraft in der Natur und im Genius, die die Welt geschaffen hat und schafft.

Das Werdende oder Ewig-Künftige ist Gegenstand der Phantasie, was der Verstand behandelt, ist toter Stoff oder stirbt ihm unter den Händen, wenn es ihm nicht entschlüpft. Das schließt unabsehbare Folgen für die Beurteilung der Wissenschaft ein, so wie sie zu Goethes Zeit betrieben wurde und zum Teil noch betrieben wird. Sie kettet den Menschen fest in eine tote Welt, die ihn den Glauben an göttliche Freiheit und ewige Zukunft ganz hat verlernen lassen.

Der Wert der Geschichte lag für Goethe in dem Enthusiasmus, den sie erregt. Er tadelte deshalb des Historikers »zu großen Respekt vor der Realität« und seine alles Große zersetzende Kritik. »Was sollen wir mit einer so ärmlichen Wahrheit!« ruft er bei Gelegenheit der modernen Geschichtskritik, die die ältere römische Geschichte als Fabel entlarven will. »Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.« Wer entgegnete, daß man doch die erwiesenen Tatsachen müsse gelten lassen, dem antwortete Goethe, ein Faktum gelte nicht, insofern es wahr sei, d. h. geschehen sei, sondern insofern es bedeutend sei. Solange es noch keine Wissenschaft gibt, sickert das Unwesentliche durch die feuergoldenen Maschen der Zeit in die Vergessenheit, und das Echte, im höheren Sinne Wahre bleibt zurück. Man messe daran den Wert der Bestrebungen, die Bibel durch historische Kritik ihres Fundaments zu berauben. Man sollte sich da auf keine Widerlegungen einlassen, sondern es bei den Sätzen Goethes bewenden lassen: »Übrigens, echt oder unecht sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen. Was ist echt als das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer Entwickelung dient! Und was ist unecht als das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden, ob uns durchaus Wahres überliefert worden, so könnte man sogar in einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Markus und Lukas nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher Überlieferung geschrieben, und das letzte, von dem Jünger Johannes, erst im höchsten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien alle vier für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist.«

Was die Wissenschaft im allgemeinen betrifft, so wies Goethe hauptsächlich darauf hin, daß das Operieren mit Ursache und Wirkung durchaus nicht zur Ermittelung einer Wahrheit geeignet ist. »Die nächsten faßlichen Ursachen sind greiflich und ebendeshalb am begreiflichsten; weshalb wir uns gern als mechanisch denken, was höherer Art ist.« Daß alle Erscheinungen zu vielfach bedingt sind, als daß man hoffen könnte, sie mittels Ursache und Wirkung zu erklären, fängt jetzt an, mehr und mehr eingesehen zu werden. Ferner wies Goethe unermüdlich auf die Unzulänglichkeit der Versuche hin, was ich schon, als ich von Bacon handelte, erwähnt habe. »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.« Nun leugnete Goethe natürlich nicht, daß die Phantasie in den Dienst des Menschen und also der Wissenschaft gestellt werden kann; darin besteht ja eben Regnum hominis; aber eine andere Frage ist es, ob Gutes damit gewirkt werde oder nicht. »Unser Zeitalter wendet seinen ganzen Verstand auf Moral und Selbstbetrachtung; daher er in der Kunst und wo er sonst noch tätig mitwirken muß, fast gänzlich mangelt. Die Phantasie wirkte in früheren Jahrhunderten ausschließend und vor, und die übrigen Seelenkräfte dienten ihr; jetzt ist es umgekehrt, sie dient den anderen und erlahmt in diesem Dienst.«

Hört man, daß zu Goldonis Zeit die Schauspieler sich darüber beklagten, daß die Dramen anfingen, aufgeschrieben und gedruckt zu werden, was jene zwang, bestimmte Rollen auswendig zu lernen, während sie früher aus dem Stegreif spielten, so bekommt man einen Begriff, wie Phantasie und Geistesgegenwart seitdem geschwunden sind. Man bekommt auch einen Begriff, wie die Dichtungen früherer Jahrhunderte, die wir bestaunen, und ebenso die Werke bildender Kunst, aus gemeinsamer Geistesarbeit erwuchsen, während sie jetzt der begrenzte Geist eines Einzelnen schafft.

Nicht ausgeschaltet werden sollen Selbstbewußtsein, Verstand und Wissenschaft, anstößig ist nur der Platz, den sie im modernen Leben einnehmen. Nicht auf Gelehrsamkeit kommt es an, sondern auf gesunden Menschenverstand und Urteilsfähigkeit. Beides findet sich bei ungelehrten Menschen häufiger als bei gelehrten. Man hat vielfach an den Schulen reformiert; aber zu einer energischen Verminderung des Wissensstoffes hat man sich nicht entschlossen.

»Es ist alles in den Wissenschaften zu weitsichtig geworden. Auf unseren Kathedern werden die einzelnen Fächer planmäßig zu halbjährigen Vorlesungen mit Gewalt auseinandergezogen. Die Reihe von wirklichen Erfindungen ist gering, besonders wenn man sie durch ein paar Jahrhunderte im Zusammenhang betrachtet. Das meiste, was getrieben wird, ist doch nur Wiederholung von dem, was dieser oder jener berühmte Vorgänger gesagt hat. Von einem selbständigen Wissen ist kaum die Rede. Man treibt die jungen Leute herdenweise in Stuben und Hörsäle zusammen und speist sie in Ermangelung wirklicher Gegenstände mit Zitaten und Worten ab. Die Anschauung, die oft dem Leben selbst fehlt, mag sich der Schüler hintendrein verschaffen. Es gehört aber nicht viel dazu, um einzusehen, daß dies ein völlig verfehlter Weg ist. Besitzt nun der Professor vollends gar einen gelehrten Apparat, so wird es dadurch nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Des Dünkels ist nun gar kein Ende. Wenn ich die Summe von dem Wissenswerten in so mancher Wissenschaft, mit der ich mich mein ganzes Leben hindurch beschäftigt habe, aufschreiben wollte, das Manuskript würde so klein ausfallen, daß Sie es in einem Briefkuvert nach Hause tragen könnten.«

Ich glaube in der Tat, daß unsere höheren und hohen Schulen hauptsächlich an der Gepflogenheit kranken, jeden Stoff in vielstündigen Vorlesungen vorzutragen, woran zum Teil Erwerbssucht, dann Gewohnheit, manchmal Untüchtigkeit und vor allem die Vorliebe für das Systematische schuld sind. Es kommt freilich darauf an, ob man mit dem Satz übereinstimmt: »Der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen. Nur in Wirkung und Gegenwirkung erfreuen wir uns.«

Dies führt wieder zu der Frage zurück, ob man im modernen Staate handeln im eigentlichen Sinne überhaupt noch kann? Ob man nicht Wirkung und Gegenwirkung immer mehr ausgeschaltet hat? Auch der Freiherr von Stein sagte, daß der Mensch zum Fühlen und Handeln, nicht zum Denken geschaffen sei; aber er war auch derjenige, der die Verfassung des Deutschen Reiches auf Selbstverwaltung begründen wollte.


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