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Der muffige Geruch, der dem Christentum anhaftet und der so viele Menschen zurückstößt, kommt durch die verkehrte Auffassung, es richte sich gegen die Sinnlichkeit. Nun ist es aber gerade umgekehrt: das Christentum beruht auf dem sinnlichen, die modern-wissenschaftliche Weltanschauung, der Baconismus, auf dem unsinnlichen oder übersinnlichen Menschen. Das Christentum lehrt uns den Menschen kennen als einen dreieinigen, nämlich sinnlich-seelisch-geistigen, das Ebenbild Gottes, der sich in der Natur, nämlich den empfänglichen Sinnen, als Idee durch den individuellen Willen offenbart. Der Geist bildet sich die Sinne als Werkzeuge, um sich mit der Umwelt in Beziehung zu setzen; der moderne Mensch erweitert die Sinne durch künstliche Werkzeuge und versetzt sich durch dieselben in eine künstliche Welt. Wie könnte der Christ, der erkannt hat, daß der Geist die Liebe ist, der Sinne entbehren wollen, die ihn zu seinem Nächsten in Beziehung setzen? Das Stumpfwerden der Sinne, die Stumpfsinnigkeit, weit entfernt, etwas dem Christen Wünschbares zu sein, ist im Gegenteil ein Ausdruck beginnender Selbstbeziehung, ein Zeichen, daß das lebhafte Bedürfnis nach Wirkung und Gegenwirkung nachläßt. Der Beginn der Erfindungen von Werkzeugen, durch welche die Sinne ersetzt und ergänzt werden, fällt zusammen mit dem Beginn der Stumpfsinnigkeit oder Geistlosigkeit im Abendlande. Homer war allerdings blind und Beethoven taub; aber die großen Genien sind eben Sterbende, die die Welt mit der freiwerdenden Flamme des Geistes erleuchten; sicherlich war nie ein genialer Mensch blind geboren oder taub geboren. Sie vereinen in sich den stärksten Gegensatz, den es gibt, des Toten und des Lebendigen.
Die Wurzel der Sinnlichkeit ist der Tast- oder Hautsinn, den man auch Liebessinn nennen könnte. Der Mensch, soweit er Stoff, das heißt ruhend ist, ist ganz Haut, ganz Oberfläche, empfänglich zur Aufnahme des Geistes, der Sinnbilder des Lebens. Ein so sinnenfroher Mensch wie Goethe sah ein, daß die irdische Liebe ein Schleier sei, der »höhere Verhältnisse zu verhüllen scheint«. Schon ehe er dies in Worte kleidete, hat er stets betätigt, daß es ihm nicht auf den bloßen Liebesgenuß ankam, sondern auf Glück und Schmerz des Gefühls, auf die leidenschaftliche Beziehung, das Aufgehen im andern und das Aufnehmen anderer. Wenn nun die göttliche Liebe in die sinnliche Liebe eingebettet ist und die sinnliche Liebe allmählich in weitere Kreise und immer weitere bis ins Unendliche führt, wie könnte der Christ die sinnliche Liebe verwerfen? Nur wenn sie im Sinnlichen steckenbleibt und sich nicht verwandeln läßt, dann allerdings. Aus diesem Grunde muß das moderne Bestreben, durch irgendwelche Mittel die Frucht des Liebesgenusses zu vertilgen, als so höchst verwerflich und geradezu sündhaft betrachtet werden, weil sie den Sinn der Liebe und des Lebens aufhebt, der eben in der natürlichen Umwandlung der geschlechtlichen Liebe in die elterliche besteht.
Der Ausspruch Christi: das Reich Gottes ist inwendig in euch, kommt nicht mit äußerlichen Gebärden, hat wohl zu der Meinung verleitet, als handle es sich dabei um etwas Unsinnliches, und als sei das Sinnliche etwas Böses, Teuflisches. Inwendig in uns ist die Kraft der Liebe und des Hasses, die um jeden Fühlenden inmitten der Welt das Reich Gottes bilden kann. »Ein erhabner Sinn legt das Große in das Leben, doch er sucht es nicht darin.« Überall, wo unschuldige Kinder und unschuldige Herzen sind, ist das Paradies; überall, wo ein feuriger Geist Menschen an sich zieht und bekämpft, um zu beglücken, zu heilen, zu lehren und zu lernen, zu verwirklichen, was ihm gut scheint, zu tun, was sein Herz ihn heißt, da ist das Reich Gottes. Der Kosmos ist in den lebendigen Beziehungen der Weltkörper, das Reich Gottes in den lebendigen Beziehungen der im eingeborenen Gefühl Erglühenden. Nicht eine Spur aszetischen Geistes findet sich weder im Alten noch im Neuen Testament. Eine Aszese, die die Grundtriebe der Menschen, zeugend und gebärend sich für die Nachkommenden zu opfern, unterdrückt, ist durch und durch unchristlich. Klöster brauchen nicht unchristlich zu sein, sie können sogar gut sein, wenn man darunter versteht eine Verbindung alter Menschen oder junger, denen der Trieb der Fortpflanzung fehlt und die sich zu gemeinsamem produktiven Wirken in der Welt zusammentun; so sind sie ja auch entstanden. Sowie sich in Klöstern Menschen von der Welt absondern, die wiederum andere von der Welt abzuziehen suchen, sind sie zu verdammen. Wir können also wohl sagen, daß das Reich Gottes das Reich der Natur ist, wenn wir nur nicht vergessen, daß in der Natur ein individueller Wille lebt, der nach dem Vollkommenen strebt, dem das Bild des jeweils Höheren vorschwebt, in das er sich verwandeln soll. Den Gegensatz zum Gottesreich bildet die Welt oder das Reich des Menschen, der mit dem Verstande nach seinem Nutzen strebt.