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Ich habe vom Auseinanderfallen der Dreieinigkeit gesprochen, ohne vielleicht damit dem Leser ein klares Bild vor Augen zu stellen. Innerhalb eines Volkes findet dies statt, wenn die natürlichen Gruppen zerfallen, in die es sich, wie in Organe, teilt. Aus der Menge des Volkes, dem Demos, scheiden sich immer einige aus, welche durch Begabung, durch irgendeine Geisteskraft, über die Masse emporragen und sie zu beherrschen suchen. Der Demos und die Aristokraten unterscheiden sich wie Quantität und Qualität oder wie Körper und Geist; denn das eine ist das Ausgedehnte, das Meß- und Wägbare, Bewegbare, das andere das Bewegende. Diese beiden würden unvereinbar einander gegenüberstehen ohne den Mittler, den Führer, welcher, aus beiden hervorgegangen, beide hemmend und verbindend, so wie die Seele zwischen Geist und Körper in ihrer Mitte steht und die Masse und die Einzelnen zu einem Ganzen, sei es zu einem Volke, sei es zu einer nach Gleichheit der Beschäftigung sich bildenden Gruppe zusammenfaßt. Das Volk, beziehungsweise die Gruppe, ist organisch, solange Aristokratie und Führer sich nicht abschließen, sondern fließend, das heißt nicht erblich bleiben. Sie können und dürfen das nicht werden, weil der Geist sich nicht vererbt, sondern in einer Familie zunimmt und abnimmt, nach einem Höhepunkte jäh erlischt. Er ist nach dem Ausdruck Luthers wie ein Platzregen, eine Kraft, die an einem Punkte aufglüht und verschwindet, um an einem anderen Punkte neu zu entspringen. Schließen Adel und Führer sich ab, so muß eine freie geistige Aristokratie und Führerschaft entstehen, die auflösend wirkt, und deren Aufgabe es auch ist, das zu tun.
Mit dem Auseinanderfallen der Gruppen eines Volkes fällt aber auch der Einzelne auseinander, der nun, obwohl ein kollektives Wesen, unnatürlicherweise auf sich selbst gestellt sein soll. Gerade so wie in einem Volke die Beziehungen nach außen von Einfluß sind auf die inneren Beziehungen, beide überhaupt unzertrennlich Zusammenhängen, so verändert sich auch der Organismus des Einzelnen, wenn der Volksorganismus sich wesentlich verändert.
Auch im Einzelorganismus gibt es zwei entgegengesetzte Kräfte, Körper und Geist, welche durch die vermittelnde Seele getrennt und verbunden werden. Der menschliche Organismus ist eine Dreiheit von schaffender, erhaltender und auflösender Kraft. Die schaffende und zugleich zerstörende Kraft der Liebe offenbart sich im menschlichen Organismus durch die Sexualität. So wie die Natur für sich allein nach dem Ausdruck Goethes eine Gans ist, wäre auch die Sexualität für sich allein etwas Rohes und Albernes; erst Gott in der Natur und die göttliche Liebe, die aus der Wurzel der Sinnlichkeit erblüht, verehren wir als Höchstes. Sie ist der Ursprung alles Lebendigen, die Kraft, welche schafft, und ihr Organ im Menschen, zugleich sein Mittelpunkt, sein Herz, ist das sogenannte Sonnengeflecht, das unbewußte und unwillkürliche Ich, dem das bewußte Ich im Zentralnervensystem gegenübersteht so wie Satan, der auf sich selbst bezogene Geist, dem sich auf die Welt beziehenden Gott. Während das Sonnengeflecht von einer Mitte nach allen Seiten Strahlen aussendet, zieht das Zentralnervensystem alle Strahlen an sich, gleichsam eine dunkle Sonne gegenüber einer leuchtenden.
Die Liebe, das heißt die Beziehung zum All, deren Organ das Sonnengeflecht ist, spaltet sich in das Organ der Sexualität, durch welches der Mensch Mann und Weib ist. Dies Organ schlägt seine Wurzeln in die körperliche Welt, wohinein es ihn zur Zeit der männlichen Pubertät aus dem Paradiese der Kindheit verpflanzt. Auf dem Umwege über das Selbstbewußtsein, nämlich das Zentralnervensystem, mich im Laufe des Lebens das Paradies, das den Einzelnen ans Ganze bindet, wiedergewonnen werden.
Die weiblich-mütterlichen Geschlechtsorgane fallen mit dem Sonnengeflecht, das wir in kurzem das Organ des Ganzen nennen können, zusammen; die männlich-weibliche Sexualität ist es, auf der unsere Individualität, unser Einzelsein beruht. Diese sexuellen Organe sind die Natur des Menschen; es kann nichts Heldenhaftes, nichts Künstlerisches, nichts Großes irgendwelcher Art entstehen ohne starke sexuelle Grundlage, welche allerdings sich umsetzen muß. Wir kennen keine anderen als individuelle Kräfte. Die Gewohnheit, von Kraft zu sprechen, als wäre es etwas Nichtindividuelles, haben wir durch die Wissenschaft angenommen; allein wir finden weit und breit in der Natur keine solche. Weil nun jede menschliche Kraft persönlich ist oder wird, ist die menschliche Natur egoistisch und kann und soll nicht anders sein; aber sie kann und soll auf ein Ganzes übertragen werden, und darin eben besteht der Kampf des Lebens. Die Ideale, welche diese Ablenkung leiten, und Vorstellungen, die in unserem Haupte wohnen, weswegen wir das göttlich Vollkommene oben, im Himmel, zu suchen pflegen. Dort wandeln sie in verklärter Schönheit und ziehen das befleckte Irdische sich nach, empor.
Die Ideale aber würden Schatten bleiben, wenn sie nicht mit unserer Sinnlichkeit eins würden, was so viel heißen will, als daß unser Körper, vertreten durch unsere Sexualität, mit dem Gehirn Zusammenwirken muß, damit etwas Großes entstehe.
»Der Mensch vermag zwar manches«, sagt Goethe, »durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen.« Diejenigen, bei denen nur einzelne Fähigkeiten stark entwickelt sind, betonen, wenn sie Künstler sind, mit großem Nachdruck, daß der bildende Künstler ganz Auge sei, und daß die bildende Kunst ganz auf diesem Sinne beruhe. Die ganz großen Künstler hingegen sind in erster Linie Genien, schaffende Menschen, man kann auch sagen Dichter, wenn sie vielleicht auch ihre Ideen innerhalb der bildenden Kunst ausführen. Auch die Helden, auch die großen Ärzte sind Dichter, das heißt sie leben in Ideen, und ihre sämtlichen Kräfte vereinigen sich, um dieselben zu verwirklichen. Daneben gibt es andere, die nur Maler, nur Bildhauer, nur Ärzte, nur Schriftsteller sind, und sie können vorzüglich sein, wenn sie auch nicht das Außerordentliche leisten, wodurch das Vergangene an das Künftige geknüpft wird.
Ein anderer Ausspruch Goethes lautet: »Der Kopf faßt kein Kunstprodukt als nur in Gesellschaft mit dem Herzen. Der Betrachtende muß sich produktiv verhalten, wenn er an irgendeiner Produktion teilnehmen will.« Grob ausgedrückt ist der Kopf der Geist und die Sexualität die Natur und das Herz, nämlich das Sonnengeflecht, der Mittelpunkt, in welchem beides eins wird, ja von welchem beides ausgegangen ist. Die Sexualität des Menschen muß irgendwie durch chemische Vorgänge verbunden werden mit der Gehirntätigkeit, und zwar so, daß die weibliche Sexualität mit dem Großhirn, dem Organ der Vorstellungen, die männliche Sexualität mit dem Kleinhirn und dem Rückenmark, dem Organ des Willens, verbunden ist. Indessen gehört zu den sämtlichen Fähigkeiten des Menschen auch der Verstand oder die bewußte Beziehung auf sich selbst. In der Sexualität haben wir nur den Trieb rücksichtslosen Wachsens und Wachsenlassens, sie kennt den Selbsterhaltungstrieb nicht, denn auch der gewissenloseste Don Juan zerstört zugleich sich selbst, wenn er nicht neben seinen anderen Eigenschaften Verstand und Selbsterhaltungstrieb besitzt. Diese nun scheinen mit den Verdauungsorganen verbunden zu sein, welche nur der Erhaltung des Individuums, nicht, wie die Sexualität, der Erhaltung der Gattung dienen. Es dürfte hier der Grund liegen, warum stark produktive Menschen gewöhnlich Schwierigkeiten mit den Verdauungsorganen haben; dieselben geraten offenbar in Konflikt mit dem Sonnengeflecht, ein Ausdruck dafür, daß der Trieb zum Ganzen den Selbsterhaltungstrieb, wie stark er auch sein mag, zu überwinden sucht. Wäre der Selbsterhaltungstrieb von Haus aus schwach entwickelt, so würde es keinen Konflikt geben, und etwas Wesentliches würde fehlen; ebenso wenn der Naturtrieb der Liebe fehlte oder sich leicht vom Verstand ausschalten ließe. Auf die richtige Beziehung zwischen den Kräften kommt es an, und zwar ist sie dann richtig, so daß sie die größten Ergebnisse erzielt, wenn sie vom Unbewußten oder Unwillkürlichen ausgeht und zum Unbewußten zurückführt. Was die Beziehung hemmt und etwa ganz trennen kann, ist das Selbstbewußtsein. Goethe spricht von einem »hohlen Fleck im Gehirn, d. h. einer Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht«. Die Stelle, wo sich kein Gegenstand, kein Nicht-Ich, abspiegelt, ist eben die, wo der Mensch auf sich selbst beschrankt, wo er ich-bewußt ist. Das Selbstbewußtsein ist gut und notwendig, solange es die Einheit innerhalb der Vielheit ist; ohne diese Vielheit ist es ein hohler Fleck im Gehirn, ein Größenwahn, der ein Nichts zu verdecken sucht. Menschen, die fähig sind, ihre Gesamtkraft, wozu auch der Körper gehört, auf einen Punkt wirken zu lassen, nennen wir Persönlichkeiten. Sie sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme, und während die einzelne Fähigkeit sich vererbt, ist das glückliche und folgenreiche Zusammenschießen aller eine Einzelerscheinung.
Das vom Unbewußten ausgehende Zusammenwirken aller Kräfte, wobei der Verstand eingeschlossen ist, kann nur eine vorübergehende Erscheinung, ein Blitz, ein Platzregen sein, der eine Ermüdung folgen muß. Die Umfassung und Durchdringung des ganzen Nervensystems von der Mitte nach allen Seiten hin, erfordert offenbar einen besonderen Aufschwung; das Gewöhnliche ist eine getrennte Wirksamkeit der einzelnen Kräfte und ein Ausgehen vom Kopfe, vom Bewußten anstatt vom Unbewußten, und im Zustande außerordentlicher Ermüdung kann wohl auch die gott-menschliche Dreiheit ganz auseinanderfallen.
Das Ausgehen vom Bewußten ist das Symptom des dekadenten Menschen, zum Beispiel des nachchristlichen Juden. Die Gesamtkraft kann nur entwickelt werden, wenn vom Unbewußten ausgegangen wird, und das wieder ist nur bei jungen bzw. verjüngten Individuen möglich. Dekadenz liegt eben darin, daß, weil vom Verstande und nicht von der Phantasie ausgegangen wird, nichts Neues geschaffen wird und also kein Aufschwung in die Zukunft mehr möglich ist, wenn anders unter Zukunft nicht ein bloßes Weiterlaufen, sondern ein organisches Weiterwachsen zu verstehen ist.
Die Dekadenz muß sich im menschlichen Organismus ausdrücken, grade wie, für mich zweifellos, der nachchristliche Mensch anders beschaffen ist als der vorchristliche; und zwar besteht der Unterschied nach meiner Meinung in der Entwickelung des Zentralnervensystems und seiner Beziehung zu den übrigen Organen, namentlich zum Sonnengeflecht und Sexualsystem. Das Ausgehen vom Unbewußten ist dasselbe wie Mitwirkung des Körpers oder Einsetzen der Person. Daß uns, wenn wir spazieren gehen, bessere Gedanken zuströmen als in der Ruhe, ist eine bekannte Tatsache. Die bessere Respiration bringt gleich eine bessere Inspiration mit, sagte Goethe gelegentlich einer Krankheit. Die bedeutende Rolle, welche die Atmungsverhältnisse beim menschlichen Produzieren spielen, im einzelnen zu entwickeln, wäre mir nicht möglich; es genügt hier aber auch, von der Tatsache überzeugt zu sein und daran zu denken, wie verschieden der Mensch bei ruhendem und bei bewegtem Körper arbeitet. Unser Mißtrauen gegen die am Schreibtisch erklügelten Leistungen ist hier begründet. Wenn wir die Erfahrung machen, daß die großen Menschen nicht aus dem Kreise der Gelehrten, sondern aus dem bäuerlichen Volke hervorgehen oder aus Kreisen, die demselben noch nahestehen, wenn wir ferner die Erfahrung machen, daß kein Volk ohne die Grundlage einer freien bäuerlichen Bevölkerung blühen und dauern kann, so liegt das eben daran, daß der Bauer seine Person einsetzt, vom Unbewußten ausgeht. Die Frau, die als Gebärende den Körper mitarbeiten läßt, tut es sowieso mehr als der Mann. Es sei bemerkt, daß der Sport, wozu die nichtarbeitende Gesellschaftsklasse notgedrungen gegriffen hat, die natürliche Körperarbeit, wie sie der Bauer, der Handwerker, der Soldat, die Hausfrau leisten, nicht ersetzen kann, worauf schon Jeremias Gotthelf hinweist.
Zwischen Mann und Weib sind die Rollen so verteilt, daß der Mann wesentlich selbstbewußt, die Frau wesentlich gottbewußt ist und sein soll. Als Trägerin des Ideals hat sie die Bestimmung, nicht für sich selbst, sondern für das Ganze zu leben und zu denken, nicht das Bewußtsein von sich selbst, sondern das Bewußtsein des Höheren zu haben. Uns gefällt darum an der Frau nicht der logische Verstand, sondern sie zeichnet der phantasievolle Einfall aus, der mit kühnem Sprunge den Nagel auf den Kopf trifft, und es ist eben diese Kraft der unmittelbaren Anschauung des Wahren, die sie auf ihre großen Söhne vererbt. Indessen sind Mann und Weib nicht schematische Hälften, sondern beide füllen den ganzen Kreis des Menschlichen aus, wie ja auch beide die Anlage zu beiden Sexualorganen haben, und zwar so, daß bei jedem Geschlecht im Alter die Abzeichen des anderen sich entwickeln. Bei der alternden Frau erscheinen die spezifisch männlichen Eigenschaften, als Kampflust, Ehrgeiz und Herrschsucht, während der alternde Mann nachsichtiger, nachgiebiger und entsagender für seine Person, fordernder für das Ganze wird. »Doch wird man älter.« so lautet eine Briefstelle bei Billroth, »so klingen wieder mehr und mehr die Saiten der Empfindung an; fast möchte ich sagen, der Mann wird weiblicher im Alter, die Frau wohl männlicher, und so verstehen beide sich dann besser.«
Es versteht sich von selbst, daß hier die mannigfachste Mischung möglich ist. In Zeiten der Überzivilisation tritt ein völliger Umschwung ein, indem die Frauen männlicher und die Männer weiblicher werden, eine Perversität, die, so interessante Erscheinungen sie auch fördern mag, doch zur Selbstzerstörung eines Volkes gehört, da ja die Funktionen des Zeugens und Gebärens nicht mit vertauscht werden können. Der Gott-Mensch ist Mann-Weib, so aber, daß das Weibliche, nämlich die Richtung auf das Ganze, das Übergewicht hat und den Mann so umwandelt, daß er seine Einzelkraft für das Ganze einsetzt.
Wie in der Menschheit, so offenbart Gott sich in der Natur, wenn sich auch die Elemente in der Verwandlung kaum wiedererkennbar darstellen. Sind die Nerven das Feuer im Menschen, so ist der Atem seine Luft und das Blut sein Wasser. Das Feuer, zugleich schaffend und zerstörend, ist Gott-Vater und Satan, der Atem der Heilige Geist und das Blut die Seele, durch welche das Göttliche und Tierische im Menschen verbunden wird. Feuer und Luft sind reine Bewegung; im Wasser ist die Bewegung mit Ruhe gemischt, und im Skelett, dem Festen und Starren, ist die Ruhe in den Tod übergegangen. Die sogenannten vier Elemente sind Bewegungsstufen der schaffenden Kraft, welche sich als göttliche Welt offenbart. Daß diese Kraft zugleich Element, Gefühl, Wille und Bewußtsein ist, bleibt ein ewig anzubetendes Mysterium. Wäre es nicht dasselbe Element, das in der Natur und in der Menschheit sich offenbart, so könnte gar keine Wechselwirkung zwischen Natur und Menschheit sein. Wenn die Wahrheit durch intuitive Anschauung erkannt werden kann, so ist es, weil jede Erscheinung der anderen analog und der Mensch das Maß aller ist, und deshalb der Zauberstab der Analogie, wie Novalis es nannte, von dem, der den Sinn des Ganzen und des Einzelnen hat, geschwungen werden kann. Nicht nur Goethe hat die Erkenntnis durch Analogie geübt, sondern auch Bacon hat sie gekannt und gewürdigt.