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12.
Über den Deismus und das Dämonische. Jener schließt den Widerspruch der lebendigen Persönlichkeit aus, dieses schließt ihn ein


Der Deismus nahm etwas Göttliches im Menschen an, nämlich die Vernunft, welche von Natur im Menschen liege und mittels welcher er sich entwickelt habe und auch ohne Offenbarung weiterentwickelt hätte. Es hätte des Erscheinens Christi und der Propheten, die ihn verkündeten, für dir Menschheit also eigentlich nicht bedurft; er erschien aber deshalb, um die Lehren der Vernunft gesammelt in populärer Form auszusprechen. Der historische Christus wurde infolgedessen von den Deisten nicht berücksichtigt, nur seine Lehren als moralisches Ergebnis aus der Bibel ausgezogen. Sie verfuhren der menschlichen Natur gegenüber wie Bacon der Natur gegenüber im allgemeinen: sie zogen das heraus, was dem Verstände gemäß ist, und gaben es für die lebendige Natur aus, während es nur gleichsam eine Hilfskonstruktion ist, die fällt, wenn die Gestalt vollendet ist.

Ich will meine Meinung an einem Beispiel klarzumachen suchen. Man weiß, daß in den Gemälden großer Meister gewisse geometrische Figuren enthalten sind, ein Dreieck, eine Pyramide usw. Jakob Burckhardt hat in seinem Werke über Rubens darauf hingewiesen, obwohl dies Wissen die Gefahr bringt, daß angehende oder mittelmäßige Künstler dadurch verwirrt werden, indem sie glauben, es ließen sich über geometrischen Figuren Bilder aufbauen. Sicherlich weiß der große Maler in dem Augenblick, wo die erste Vision seines Bildes ihm vorschwebt, nichts von geometrischen Figuren; dieselben sind, wie Burckhardt auch ausdrücklich bemerkt, in seinem Bilde verborgen, wie sie in der Natur, und wie die Gesetze in den Naturerscheinungen verborgen sind. So wenig wie die geometrischen Figuren allein das Bild sind oder so wenig sich aus ihnen auf das Bild schließen läßt, so wenig macht der Verstand allein den Menschen und die Beobachtung der Moralgesetze einen guten, geschweige denn einen großen Menschen. Unverstand allein allerdings ebensowenig.

Man muß zugeben, daß die Französische Revolution, welche das von Bacon gegründete Regnum hominis unter Dach brachte, indem sie den persönlichen Gott förmlich absetzte und anstatt seiner die Vernunft auf den Thron hob, durchaus folgerichtig verfuhr. Trotzdem später die Religion wieder eingeführt wurde, und obwohl es sicherlich überall einzelne Gläubige gibt, wird im allgemeinen im Abendlande nicht mehr an Gott geglaubt und gibt es keine Religion. Das ist im Reiche des Menschen, das heißt wo die bewußte Kraft die unbewußte, die schaffende Kraft überwiegt, so daß das Leben vom Bewußtsein aus geregelt wird, auch nicht möglich. Wo tatsächlich der Mensch herrscht, kann der Mensch nicht an Gott den Herrn glauben. Ich las neulich, daß ein Pfarrer gefordert habe, man solle Christus nicht mehr den Herrn nennen, weil es der christlichen Gesinnung widerspräche, und finde auch das ganz folgerichtig. Allerdings sind die Menschen noch nicht völlig Herren bet Natur geworden: sie müssen noch sterben, sie werden hie und da von Unglücksfällen getroffen, und sie verrechnen sich häufig mehr oder weniger. Allein sie haben doch schon manchen Sieg über den Tod erfochten; es ist ihnen gelungen, das Leben zu verlängern, Gliedmaßen und Organe zu ersetzen, und sie verzweifeln nicht daran, mit Krankheit und Tod ganz aufzuräumen oder sie irgendwie zu ignorieren. Bis zu einem hohen Grade haben sie den Zufall ausgeschaltet und wollen es noch mehr tun. Man kann nicht mehr plötzlich eine Urtante beerben, von deren Dasein man keine Ahnung hatte, man kann nicht mehr plötzlich durch ein Hagelwetter oder einen Sturm auf See verarmen, denn man ist versichert, und die Versicherungen sind rückversichert, man hat sich möglichst unerschütterlich auf Erden eingerichtet und strebt danach, möglichst alle Menschen hinter diesen Stacheldraht zu ziehen. Aus einem im steten Flusse befindlichen Leben, das, ein Kampf lebendiger Kräfte, jeden Augenblick neu geschaffen werden muß, stirbt und aufersteht, haben sie ein starres gemacht, in dem die Menschen einstweilen noch wechseln, aber unvermerkt, da einer wie der andere sein muß. Wir werden den Tieren ähnlich, die nie zu verschwinden scheinen: die Katze, das Reh, der Frosch bleiben immer da, ob es der neunundneunzigste oder der tausendfünfzigste ist, das unterscheiden wir nicht. Wenn nur das Rädchen an der Maschine gedreht wird; wer es dreht, ist gleichgültig. Dem Deismus entspricht als Regierungsform die Beamtenmonarchie, wie dem christlichen Glauben das Wahlkönigtum entspricht. Dies ist nicht etwa ein müßiger Vergleich; denn da die Religion die Beziehungen des Einzelnen zum Ganzen ausdrückt, so ist es klar, daß die Form, in der ein Volk sich regiert, zum Ganzen wird und als Ganzes wirkt, mit seiner religiösen Auffassung in Übereinstimmung sein wird. Der Deismus nun lehrt einen Gott, der die Welt von außen leitet, und ebenso regiert die Beamtenmonarchie das Volk von außen anstatt von innen, durch das Volk selbst und die aus dem Volk hervorgehenden, vom Volk gewählten Personen.

Gottfried Keller führt einmal Feuerbachs Wort an, die Welt sei eine Republik und ertrage weder einen absoluten noch einen konstitutionellen Gott und fügt hinzu, sein, Gottfried Kellers, Gott sei längst nur eine Art Präsident oder Erster Konsul gewesen. Im »Verlorenen Lachen« läßt er die fromme Alte sagen: »Lies nur fleißig in meiner Bibel, da wirst du für deine Republik schon noch den Bürgermeister bekommen,« worauf Jukundus: »Wohl möglich, daß zuweilen ein solcher gewählt wird und somit der Herrgott eine Art Wahlkönig ist.« Da spricht er nun doch, gewissermaßen zufällig, das Wort aus: ja, ein König, der immer da war, aber das Regiment erst ergreift, wenn die Abgesandten des Volkes grüßend vor ihm niederknien, und nun der Stern, der ihn auszeichnet, allen sichtbar wird. »Das Volk«, sagt Gottfried Keller an anderer Stelle, »ist doch immer produktiv und gedankenreich, wenn einmal der Weg eingeschlagen ist: es birgt alle Ideen in seinem Schoße.« Die Ideen sind immer da, aber sie werden nicht immer ausgesprochen und nicht immer geglaubt. Gott ist immer da, aber zuweilen verhüllt er sich schweigend, so daß es scheint, als wäre er gestorben. Sollte man nun meinen, ein auf mehr oder weniger Jahre gewählter Präsident wäre auch eine Art Wahlkönig und ein Parlament eine Vertretung des Volkes, so gehört das zu dem allgemeinen Irrtum, als könne man bewußt das Unbewußte nachahmen. Auf je kompliziertere Art unsere Verfassungen allen Ansprüchen des Volkes und des Lebens gerecht zu werden, die Rechte der Einzelnen und des Ganzen zu verteilen suchen, desto verhängnisvoller zeigt sich, wie das Zusammengesetzte nie das Gewachsene ersetzen kann.

Die Fadenscheinigkeit des Deismus, den eunuchenhaften Charakter der Zeit, wo er herrschte, haben wir längst eingesehen und bilden uns ein, daß er deswegen aufgehört habe zu herrschen. Man hat begriffen, daß das Lebendig-Göttliche einen Gegensatz, einen Widerspruch in sich schließt, man begreift vielleicht auch in der Theorie, daß dieser Gegensatz aus dem Unbewußten entspringend sich betätigen muß; aber im Urteilen und Handeln gilt doch nur der einzige Maßstab des Verstandes, der Selbsterhaltung und Gemeinnützigkeit. Seit dem Ende des Mittelalters versteht man nicht mehr, daß die unendlich mannigfache, ewig wechselnde Gestaltung des Lebens Ziel ist, daß alle diese mannigfachen Gestalten sich selbst krönen in den übermenschlichen Helden und ihren Taten und Werken. Wozu die Kreuzzüge, die Fahrten der deutschen Kaiser nach Italien, die nichts eintrugen, in denen nur Kraft verschwendet wurde? Wozu die Kriege Napoleons, seine phantastischen Orientpläne, die ungeheuren Menschenopfer? Wozu all dieser Aufwand? Damit Gewordenes, das nicht freiwillig unterging, zerstört würde, damit die Seele an der heroischen Musik der Märsche sich berauschte, die das Heer der Todgeweihten durch Europa blies. Für das Erhalten wird ohnehin gesorgt, dafür sind wir Menschen; Wunder müssen geschehen, damit Neues entstehe und Überlebtes zusammenstürze.

Man versteht unter einem großen noch immer einen moralischen, einen gesinnungstüchtigen, gemeinnützigen, einen für Kunst, Literatur und Leben sich interessierenden, einen vornehmen Menschen, und wundert sich sehr, wenn diese Leute dennoch nichts Großes ausrichten. Als Eckermann einmal zu Goethe sagte, er zweifle, ob aus Byrons Schriften für reine Menschenbildung ein Gewinn zu schöpfen sei, erwiderte Goethe: »Da muß ich Ihnen widersprechen. Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.« Das Große schließt das Sittliche ein, aber es ist nicht nur sittlich, und es hebt oft das ganz auf, was Menschen als moralisch begreifen. Größe ist vor allem produktive Kraft, und weil sie schaffend ist, ist sie auch zerstörend. Wegen dieses unzertrennlichen Widerspruchs nennen wir sie dämonische

Aber das Wesen des Dämonischen hat sich Goethe öfters ausgesprochen. Er sah es in der Produktivität, in der Schaffenskraft, und es war ihm deshalb, wie sich von selbst versteht, eins mit dem Genie. Ich bitte daran zu denken, daß die Schaffenskraft eine männliche, zeugende Seite hat, die Willenskraft oder Tatkraft, und eine weibliche, bildende, die Phantasie oder Empfänglichkeit, und daß diese beiden in der Kraft der Liebe miteinander verbunden werden. Als dämonisches Genie unter den Zeitgenossen verehrte Goethe besonders Napoleon, und er zog ihn häufig als Beispiel heran, um seine Aussprüche zu verdeutlichen.

»Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal! Es täte uns not, daß der Dämon uns täglich am Gängelbande führte und uns sagte und triebe, was immer zu tun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln. Da war Napoleon ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg.« Jene göttliche Erleuchtung, fuhr er fort, sei immer im Bunde mit der Jugend, und er verglich seine eigene Produktivität im hohen Alter mit der weit stärkeren in der Jugend. Das Wort Gottes aus der Bibel fällt mir dabei ein: »Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb und führte ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.« Jedoch gebe es vorzüglich begabte Menschen, die eine wiederholte Pubertät oder temporäre Verjüngung erlebten, so daß ihnen noch im Alter Epochen besonderer Produktivität zuteil würden. Als die höchste Produktivität bezeichnete er die der Taten, weshalb er denn Napoleon und auch Luther so besonders hoch stellte. Auch Ärzte müßten produktiv sein, wenn sie wahrhaft heilen wollten. Als das Merkmal des genialen Produktes, sei es Tat oder Werk, bezeichnet er, daß es Folge und Dauer habe, von Geschlecht zu Geschlecht zeugend fortwirke, wie die Werke Mozarts, Raffaels, Dürers und Holbeins.

Die Produktivität liege auch im Körper, das Genie wolle eine starke physische Grundlage. Früher habe man sich in Deutschland ein Genie kränklich und buckelig gedacht, er sei jedoch nicht dieser Meinung. An anderer Stelle ergänzte Goethe diesen Ausspruch, indem er die Zartheit des Körpers bei genialen Menschen, beispielsweise bei Schiller, erwähnt. Ihre außerordentlichen Leistungen setzen gleichsam einen Riß in einer starken Konstitution voraus, durch den sie »die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen«.

Denn der Ursprung des Dämonischen ist nach Goethe jenseit des Menschen, in niemandes Gewalt und über aller irdischen Macht erhaben. Der Mensch gebe sich ihm bewußtlos hin und sei ihm gegenüber Werkzeug und würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Da er an anderer Stelle geradezu sagt, man bete das Dämonische an, ohne daß man es sich weiter zu erklären versuche, ist Eckermanns Frage, er verstehe wohl Gott unter dem Dämonischen, sehr begreiflich. Goethe beantwortete sie sicher nur deshalb mit Schweigen, weil er Mißverständnisse vermeiden und der heiklen Auseinandersetzung ausweichen wollte, daß das Dämonische das Göttliche ist, insofern es einen Gegensatz einschließt, was es immer mehr oder weniger tut, wenn es sich persönlich offenbart. Offensichtlich faßt Goethe das Dämonische auf als den göttlichen Impuls, das Wort, das mittels eines menschlichen Willens in Kraft treten will. Göttlich ist das Wiedereinswerden von Wort und Kraft, die durch das Selbstbewußtsein getrennt werden. Voraussetzung des Wiedereinswerdens ist bewußtlose Hingebung des Menschen, sein Selbstvergessen, wovon wiederum nur die Rede sein kann, wenn Selbstbewußtsein dagewesen ist. Der Mensch müsse auch seinerseits gegen das Dämonische recht behalten, sagt Goethe, er müsse immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerate. Wie wäre einem Goethe das paradoxe des Lebendigen entgangen! Der moderne Dichter glaubt oft dämonisch oder inspiriert zu sein, wenn er sich blindlings ersten Einfällen überläßt, lallt oder stammelt; dabei kommt aber nur allzu menschlicher Blödsinn heraus. Das Unbewußte allein tut es nicht, sonst wäre ein neugeborenes Kind das größte Genie; nur wo das Selbstbewußtsein und das Unbewußte im rhythmischen Wechsel nebeneinander bestehen, kann das Göttliche sich offenbaren.

Es scheint also eine Vorbedingung der Genialität zu sein, daß die elterlichen Keime, welche den neuen Menschen bilden, nicht ganz verschmelzen, sondern zugleich getrennt und verbunden bleiben, so daß gleichzeitig ein Altes und ein Kindliches in demselben Wesen wirksam wird, ein Erstarrtes und ein unendlich Empfängliches, ewigen Vergessens und ewig neuen Aufnehmens fähig.

Ein erstarrtes Individuum ist ein solches, das sich nicht mehr äußert; ist es ein Mann, so betrifft die Äußerung seinen Willen zur Macht, seinen Tatendrang, seine Kampflust, ist es eine Frau, so betrifft sie ihren Hingebungswillen, ihren Glauben an ein Ideal. Von dem Grade des Erstarrtseins und der Kraft des Unbewußten, sowie von seiner Verteilung, ob das Erstarrte auf väterlicher oder mütterlicher Seite ist, hängt es ab, wie mir scheint, ob eine Spannung entsteht, die ein besonders entwicklungsfähiges Individuum ausmacht, oder ob die Spannung bis zum Zerreißen, bis zum geistigen Tode führt.

In Goethes Eltern haben wir das Beispiel auf der einen Sekte eines erstarrten, eingemauerten Mannes, des Vaters, der sich in sich selbst zurückzog, stets wunderlich war und im hohen Alter geradezu geisteskrank wurde, und daneben der naiv kindlichen Mutter. Ohne den Mann zu lieben, ihm dennoch treu ergeben, übertrug sie auf den Sohn das Ideal, das sie im Herzen trug. Beider Eltern Wesensart finden wir in dem großen Sohne wieder, nicht nur die Ursprünglichkeit der Mutter, sondern auch das Sichverbergende des Vaters, das als das Geheimrätliche so viele an ihm irremacht. Er spricht gelegentlich selbst von der Mauer, die er schon um seine Existenz gezogen habe und die er noch um ein paar Schuh höher hinaufführen wolle. Drängt dann die verborgene Glut des Gefühls gegen die Kruste, so entstehen wohl Flammenausbrüche, die entzücken, aber auch verheeren können. »Wollte ich mich gehen lassen.« sagt Goethe einmal, »so läge es in mir, mich selbst und meine Umgebung zugrunde zu richten.« Seine Selbstbeherrschung verhinderte das; aber in seinen Gesprächen und seinem Benehmen mit anderen glauben wir oft, die unterirdischen Titanen ungeduldig grollen zu hören. Das Vulkanische, das großen Geistern eigentümlich ist, kann sich auch in gewaltsamen, krankhaften Entladungen äußern; es kann auch das einzige schaurige Überbleibsel großer Möglichkeiten sein, die nie wirklich werden, und schließlich kann das Verhältnis zwischen der Mauer und der inneren Kraft, die sich äußern will, so sein, daß die Mauer nie durchbrochen wird.

Wie wir aus unzähligen Märchen, Sagen und Legenden wissen, bringt das Blut einer unschuldigen Jungfrau, seltener das eines unschuldigen Jünglings, dem Erstarrten Erlösung. Die Unschuld, welche noch nichts von sich selbst weiß, ist die Zauberkraft, ist die Madonna, auf welche die Taube des Heiligen Geistes sich herniederläßt. Wo noch Unbewußtes ist, da ist noch Leben und Entwickelungsfähigkeit, kann der geistige Tod nicht eintreten; wo das Unbewußte gänzlich aufgesogen ist, herrscht die Nacht der Gottlosigkeit.

Im Altertum konnte noch als Mahnung ausgesprochen werden: Erkenne dich selbst; denn das Unbewußte war damals noch das Selbstverständliche, und die höchste Stufe des Selbstbewußtseins ist erst auf dem Boden des semitischen Volkes erreicht worden. In der nachchristlichen Zeit dagegen und namentlich in der Neuzeit, wo die Beziehung auf sich selbst selbstverständlich ist, muß eher vor der Selbstbetrachtung gewarnt werden. »Ich war noch dunkel«, sagt Goethe in bezug auf seine jugendliche Produktion, »und strebte im bewußtlosen Drange vor mich hin, aber ich hatte ein Gefühl des Rechten, eine Wünschelrute, die mir anzeigte, wo Gold war.« »Der Mensch«, sagt er an anderer Stelle, »soll sich nicht selbst kennen lernen. Er ist ein dunkles Wesen. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich davor behüten.« Außer solchen gelegentlichen Anmerkungen haben Goethe und Schiller sich brieflich über das Verhältnis von Bewußtsein und Unbewußtem ausgesprochen, allerdings nur in bezug auf dichterische Produktivität. Wir wissen ja aber, daß Goethe die Produktivität durchaus nicht auf das Poetische oder Künstlerische beschränkte, sondern daß er es in jeder Äußerung fortwirkender geistiger Kraft überhaupt sah.

»Ich glaube,« schreibt Goethe, »daß alles, was das Genie als Genie tut, unbewußt geschieht.«

Schiller: »In der Erfahrung fängt auch der Dichter nur mit dem Bewußtlosen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewußtsein seiner Operationen nur soweit kommt, um die erste dunkle Totalidee seines Wortes in der vollendeten Arbeit ungeschwächt zu finden.« »Ebenso kann der Nichtpoet so gut als der Dichter ein Produkt mit Bewußtsein und mit Notwendigkeit hervorbringen, aber ein solches Werk fängt nicht aus dem Bewußtsein an und endigt nicht in demselben. Es bleibt nur ein Werk der Besonnenheit. Das Bewußtlose mit dem Bewußtsein vereinigt macht den poetischen Künstler aus.«

Sehr viele Irrtümer und Mißverständnisse rühren daher, daß manche die beiden verschiedenen Arten des Denkens nicht kennen oder anerkennen: den Verstand, das Denken, welches vom Bewußtsein ausgeht und zum Bewußtsein zurückführt, und das intuitive oder anschauliche Denken, welches vom Unbewußten ausgeht und im Unbewußten endet. Der Verstand denkt schließend und geht aufgeschlossene Systeme aus, welche immer da, wo sie sich schließen, einen Fehler haben, wenigstens an der Welt des Lebendigen gemessen. In sich selbst können sie leicht richtig sein; aber sie schweben in der Luft wie Seifenblasen und zerplatzen vor der schwellenden Gestaltung des Lebens.

»Das Schlimme ist,« sagt Goethe, »daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: da sind wir!« Richtig sind wir dann, wenn wir die Gedanken sich von selbst, ihrem natürlichen Zusammenhange gemäß, ordnen lassen. Goethe preist deshalb das Kind und die »ruhige Heiterkeit seines Inneren«« als guten Beobachter und sagt von sich selbst und jedem echten Dichter, daß die Kenntnis der Welt ihm angeboren sei.

»Der Menschenverstand wird mit dem gesunden Menschen rein geboren.« »Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und danach handelt, der hat Wahres genug. Das Heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.« Freilich weiß das Kind nicht, daß es das Wahre weiß, und ist seiner eigenen Kraft nicht mächtig; es muß zur Unbefangenheit des Kindes hinzukommen, daß das bewußte Denken den Punkt bestimmt, auf den es jeweils ankommt. Wieder finden wir das Richtige, in einem Zusammenwirken von Willkür und Unwillkürlichkeit oder Gesetz und Freiheit. Gestört wird der richtige Zusammenhang unweigerlich durch die Selbstbeziehung; so denke ich nicht mehr richtig, wenn ich im geringsten mich selbst, meinen eigenen Nutzen im Auge habe. Träger des natürlichen Zusammenhangs der Dinge, in welchem der göttliche Wille sich ausspricht, wird der Mensch nur im Zustande der Gnade, nämlich in den Augenblicken des Sichselbstvergessens.


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