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Schon vor dem Ausbruch der Französischen Revolution zeigte sich die Wirkung der modernen Weltanschauung auch in Deutschland und fand einen tapferen und originellen Bekämpfer in dem Westfalen Justus Möser. In seinen »Patriotischen Phantasten« klagt er über die Sucht der neuen Zeit, das gesamte Leben allgemeinen Sätzen unterzuordnen, und führt als Beispiel die Denkungsart Voltaires an, der sich darüber lustig machte, daß jemand einen Prozeß nach dem Rechte eines Dorfes verlor, den er nach dem Rechte eines benachbarten gewonnen haben würde. Diese Denkungsart habe dahin geführt, allgemeine Gesetzbücher zu machen, und sie werde zum Despotismus auf allen Gebieten, zur Schablone, zur Unterdrückung der Genialität, des Lebens, der Natur führen. Das Wort Mechanismus kannte Möser noch nicht, aber das Wesen der Sache hat er im Jahre 1722 schon gut beschrieben.
Im Gegensätze zu wissenschaftlicher Theorie stützte Möser sich auf Erfahrung und im Gegensätze zu Einförmigkeit des Grundsatzes auf die lebendige, widerspruchsvolle, kämpfende Persönlichkeit. Die moderne Staatsrechtslehre nahm entweder in der ursprünglichen Menschheit einen Kampf aller gegen alle an, dem ein Despot ein Ende machte, dessen Herrscherrecht dann auf den Staat überging, oder sie setzte gute, vernünftige Menschen voraus, die sich vertragsweise einigten und durch Sanftmut und gütliches Zureden auf dem rechten Wege zu erhalten wären. Dazu sagte Möser, eine solche falsche Humanität würde den Menschen gegenüber, wie sie nun einmal wären, zur Unmenschlichkeit und Barbarei führen. Zum Beispiel klagt er darüber, daß man unter der Ägide der Humanität den Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Kindern aufzuheben und die unehelich gebärende Mutter von Schuld und Strafe zu befreien suche. Er weist daraufhin, daß wir allerdings Menschen, zunächst aber Bürger sind und bürgerliche Tugenden zu pflegen haben; daß die Ehe eine bürgerliche Einrichtung ist, ohne welche kein Gemeinwesen sich erhalten kann, und daß, wenn die Ehe nicht heiliggehalten wird und sich nicht gewisser Vergünstigungen erfreut, ein jeder sich sinnliche Vergnügungen außerhalb der Ehe suchen wird, wo sie nicht mit Lasten aller Art verquickt sind. Den tieferen Schaden der falschen Humanität, daß sie dem Menschen »ein weibisches, kindisches und knechtisches Herz schafft«, daß sie ihn der Möglichkeit beraubt, sich zur verantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln, führt Möser als Begründung an dieser Stelle nicht an; aber wie notwendig Mühe, Not und Leiden der Entwickelung des Menschen sind, unterläßt er nicht, gelegentlich zu betonen. Ich führe einen solchen Satz an, der einen Blick in eine der jetzt herrschenden völlig entgegengesetzte Auffassung tun läßt: »Lange glückliche und wohlfeile Zeiten schläfern den Menschen endlich ein; der Arme wird unerkenntlich, weil ihm leicht geholfen wird, und die leichte Hilfe macht ihn nachlässig in seiner Arbeit. Der Philosoph spielt mit der besten Welt und der Staatsmann mit eitlen Entwürfen. Bloß wollüstige Leidenschaften erheben sich aus der Ruhe und sinken nach einer leichten Befriedigung wieder dahin. Die Tugenden gehen mit den Komplimenten ihren ebenen Weg; nichts zwingt zu Erfindungen und großen Entschlüssen, die öffentliche Vorsorge wird schlaff, und alles geht so gleichgültig wohl, daß auch selbst das größte Genie nur halb entwickelt wird. Allein wenn die Not hereinbricht, wenn die Gefahr Helden fordert und ein allgemeiner Ruf den Geist aufbietet, wenn der Staat mit seinem Untergang kämpft, wenn die Gefahr desselben sich mit jedem versäumten Augenblicke verstärkt, wenn die schrecklichste Entscheidung nur mit der größten Aufopferung abgewandt werden kann, dann zeigt sich alles wirksam und groß; der Redner wird mächtig, das Genie übertrifft seine eigenen Hoffnungen, Mut und Dauer begeistern den Freund, Herz und Hand öffnen sich mit gleicher Fertigkeit, Ausführungen folgen auf Entwürfe und die Seele erstaunt über ihre eigenen Kräfte. Sie findet sich in unbekannte Tugenden, erhebt sich und findet neue und entdeckt auf ihrer Höhe die erweiterten Grenzen ihrer Pflichten. Die vorhin in ihrer Ruhe angebeteten Größen verschwinden unter ihrem Fluge, und der Mensch zeigt sich als ein der Gottheit würdiges Geschöpf.«
Interessant ist es, daß Möser den neu aufkommenden Hang nach allgemeinen Gesetzen zu regieren auf Bequemlichkeit und auf den Hochmut des menschlichen Verstandes zurückführt, welcher lieber die Natur ihres Reichtums berauben, als sein System ändern wolle. Dies erinnert an die Auffassung der Kirchenväter, welche die Sünde auf ein Ermatten, ein Schwachwerden zurückführten. Die Phantasie, welche den Verstand einschließt, bezeichnet einen Aufschwung des menschlichen Geistes, welcher nur der Jugend natürlich, im Alter eine Ausnahme ist. Der Verstand, der zurückbleibt, wenn die Hochflut des Geistes sich gelegt hat, verfährt systematisch und sucht die bunte Mannigfaltigkeit des individuellen Lebens zu töten.
Mösers Schriften wurden von dem jungen Goethe mit Verständnis, ja mit Begeisterung aufgenommen und studiert; dieser tüchtige Mann bildet ein Glied zwischen Luther und Goethe, wenn auch nicht so weithin leuchtend.
Aus dem belehrenden Werke des Grafen Hoensbroech über den Jesuitenorden erfahren wir, daß der Jesuit Baumgartner Goethe vorwirft, er habe jedes System verabscheut. So ist es in der Tat, und ich möchte es zu seinem Ruhme hervorheben. Wenn Goethe sagt: »Das Allgemeine ist der einzelne Fall«, so erinnert das durchaus an Möser. So wie Mösers sind auch Luthers Schriften auf einzelne Fälle berechnet: sie greifen herrschende Mißbräuche, Irrtümer, Mißverständnisse an und berichtigen sie; aber sie sind abgeleitet aus einer in einem lebendigen gläubigen Geiste begründeten Weltanschauung, und darum fehlt dem, der recht zu lesen weiß, der einheitliche Zusammenhang nie, so wenig wie in der Bibel oder bei Goethe; darum sind auch diese alle, obwohl sie besondere Fälle im Auge hatten, jederzeit ebenso anwendbar und wirksam wie zu ihrer Zeit.
Jetzt gibt es eine Reihe junger Schriftsteller, die sich selbst bewundern und von vielen bewundert werden, weil sie für alles unter der Sonne Liebe fühlen: für die kleinen Blätter am Baume, für die Dirne (für diese besonders), für die Kuh, für die Käfer im Sande, für die Feinde (besonders für die Deutschlands); die alles in seiner Art verstehen und gelten lassen. Äußern tut sich diese Liebe nur in gerührten Worten, womit Rührung über die eigene Seelengröße stark verbunden ist. Ganz anders Luther, Möser und Goethe: sie unterscheiden, sie lieben nicht nur, sondern hassen auch und geben dadurch ihrer Liebe erst den rechten Wert. Alle bekämpfen im Grunde dasselbe, den Satan, der keine Gegenwirkung leidet, der sich aber zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden einkleidet. Zu Christus' Zeit waren es die Priester, die Pharisäer und Sadduzäer, die Priesterkaste, die herrschende Gesellschaftsklasse, die Vertreter der Wissenschaft; zu Luthers Zeit war es die katholische Kirche und die Scholastik, daneben auch der Mammonismus oder Materialismus, welcher jederzeit ein Laster der herrschenden Klassen ist und den auch Christus sicherlich zu bekämpfen hatte; dieselben Mächte waren zu Goethes Zeit der Baconismus, der in der Französischen Revolution auslief, und auf der anderen Seite die erstarrte Kirche, die Frömmelei und das Philistertum. Wie die jüdische Kirche Christus ans Kreuz schlug, so hätte es die katholische gern mit Luther gemacht, und so sieht jede Kirche in Goethe ihren Feind; ja alle herrschenden Gesellschaftsklassen und alle Vertreter der Wissenschaft würden Christus, Luther und Goethe hassen, wenn sie es nicht einträglicher fänden, sie falsch auszulegen oder sie zu ignorieren.
Für die jetzt so ziemlich allgemein herrschende Weltanschauung kommen sie überhaupt nicht mehr in Betracht als höchstens als Dichter, an deren Phantasie die Leser sich um so mehr erfreuen, als sie sich nach ihren Worten nicht zu richten brauchen. In allem was das praktische Leben und was die Wissenschaft anbelangt, hat Goethe in den Wind gesprochen, so gut wie es Christus, Paulus, Luther und andere, z. B. Jeremias Gotthelf, taten. Und dennoch lebten sie nicht umsonst! Der Aufschwung Einzelner zur Gottheit bildet mit den wenigen, die ihnen folgen, die diamantene Kette, die das Irdisch-Vergängliche an das Ewig-Künftige bindet, ohne welche es in die Ode des Wesenlosen stürzen würde.