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25.
Guthandeln aus Pflichtgefühl oder aus Liebe zu einem Vorbilde


Nun ist es wiederum nötig zu betonen, daß das Gewissen, das Ideal, welches in Kraft treten will, wie das Christentum und Goethe es auffassen, sehr verschieden ist von der Moral, von dem kategorischen Imperativ Kants. Als Moral dürfen wir bezeichnen das Sittliche abgetrennt vom Menschlichen und Persönlichen, das Sittliche als Gesetz aus dem Verstände abgeleitet; ihm setzte Christus, setzten Luther und Goethe die Freiwilligkeit entgegen, das Guthandeln aus Liebe zu der vorbildlichen Person, der wir gleichen wollen. Damit ist an die Natur angeknüpft, an die angeborene Neigung des Geschöpfes, einem Höheren nachzufolgen und sich ihm anzugleichen, die in der Natur als Nachahmungstrieb erscheint. Wer kennte nicht das gemeine Sprichwort: Was man aus Liebe tut, das geht noch mal so gut. Ebenso sagt Goethe: »Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Wie er selbst als Knabe und Jüngling mit feuriger Hingebung sich Vorbildern anschloß, die das Geschick ihm zuführte, wie er noch als Mann und ruhmgekrönter Greis sich selbst Jüngeren bereitwillig unterordnete, um von andern zu lernen, das ist bekannt und wäre auch hier nicht der Ort, zu beschreiben. Auch in dieser Beziehung wieder soll indessen der kategorische Imperativ nicht als absolut verderblich oder verkehrt hingestellt werden, so wenig wie der Verstand und das Selbstbewußtsein überhaupt; sie werden es erst, wenn sie sich an die Stelle des Natürlich-Göttlichen setzen und es verdrängen wollen.

Goethe hat entdeckt und gelehrt, daß die Pflanzen und Tiere entstehen aus einer allmählichen Verwandlung ihrer einfachsten Teile in immer verwickeltere. Auf dieser Idee der Verwandlung beruht das Christentum: auch das Leben des Menschen ist und soll sein eine allmähliche Verwandlung von der Selbstliebe durch die Liebe des Nächsten bis zur Liebe des Feindes.

Da ich nun grade auf die Liebe des Feindes gekommen bin, möchte ich über diese so vielfach mißverstandene Lehre einige Worte sagen. Christus spricht von dem Verhältnis eines jeden zu seinem persönlichen Feinde; dem soll er verzeihen; von den Feinden unseres Nächsten ist nicht die Rede. Unsere Richter pflegen entmenschte Eltern, die ihre eigenen Kinder zu Tode martern, um von ihnen befreit zu sein, zu einigen Monaten oder Jahren Gefangenschaft zu verurteilen und ihnen das unglückselige Opfer, falls es zufällig am Leben geblieben sein sollte, womöglich nachher wieder auszuliefern. Ob sie ebenso gelinde verfahren würden, wenn die Mißhandlung sie selbst betroffen hätte, bezweifle ich. Diese Richter nun machen sich zu Mitschuldigen der Missetäter; wer würde es wagen, sie wegen ihrer Milde gegen den Feind gute Christen zu nennen? Das gequälte Opfer freilich, wenn es sterbend seinen Henkern verziehe, das würde damit eine große, eine christliche Seele zeigen. Einer, der andere vertritt, sei er ein Fürst oder was immer für ein Führer, hat die Feinde der von ihm Vertretenen zu bekämpfen oder zu bestrafen; unseren persönlichen Feinden sollen wir verzeihen, wissend, daß die Rache Gottes ist. Nur ein Unkundiger oder ein Tor kann mit Berufung auf das Christentum den Krieg aus der Welt schaffen wollen, er müßte sonst jedes Gericht und jede Strafe für unchristlich erklären.

Goethe freute sich, daß seine jugendliche Begeisterung für die mittelalterliche Baukunst, die er später anderen Gegenständen zuwendete, zur Zeit seines Alters von anderen aufgenommen wurde, welche durch ihren Eifer schöne Ergebnisse zeitigten. »Sehen wir dasjenige von anderen geleistet, wozu wir selbst früher einen Beruf fühlten, ihn aber, mit manchem anderen, aufgeben mußten, dann tritt das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen.«

Ein selbständiges Ganzes zu werden, dann auf das Ganze für das Ganze zu wirken und endlich sich im Ganzen aufgehen zu lassen, diese Verwandlung, sie geschehe nun allmählich oder durch einen plötzlichen Umschwung, macht den Inhalt des Lebens aus.

Das Eigentümliche des Christentums ist, daß es den Menschen, den die gütige Natur in den Kreis der Familie geführt hat, aus ihrer Hand empfängt und ihn durch göttliches Wort und Beispiel, damit er nicht dort erstarre, in immer weitere Kreise bis über die Grenze des irdischen Daseins leitet. Das Du sollst der Moral geht nicht die Gesinnung an, welche keinem Zwange gehorcht, sondern gibt sich mit »guten Werken« zufrieden, wodurch es geschehen kann, daß die Gesinnung des Herzens selbstisch bleibt, während die Taten von Edelmut prunken, und der Mensch übertünchten Gräbern gleich wird, die inwendig voll Verwesung sind. Es ist, wie wenn ein Zahnarzt eine kranke Wurzel plombierte, ohne sie vorher zu reinigen. Welchen verderblichen Einfluß der moralische Zwang auf Seele und Körper des Menschen ausübt, weiß die moderne Heilkunde.

Kann die Idee, nach Goethe, nicht liberal sein, so kann und sollte es die Gesinnung sein, das Gemüt, der empfängliche Schoß, den die Idee befruchtet, damit er die Tat oder das Werk gebäre. Das Gemüt aber kann nur beeinflußt werden durch die persönliche Erscheinung des Göttlichen, an dem sich der göttliche Funke, der in jedem gesunden Menschen glimmt, entzündet.

Es ist keine Frage, daß der moralische Mensch, welcher das Gute nur um des Guten willen tut, wie man zu sagen pflegt, weil er das Gesetz anerkennt, Größe haben kann; aber das ist eine Frage, ob es dergleichen rein moralische Menschen überhaupt gibt? Gibt es Menschen, welche aufwachsen, ganz ohne Vorbilder, die sie zur Nachfolge reizen? Zugegeben, daß sie solche weder im Familien- noch im Freundeskreise fanden, sollten sie ihnen weder in der Geschichte, noch in der Dichtung, noch in der eigenen Phantasie aufgegangen sein? Ich führte früher schon ein Wort Goethes an, daß das Göttliche in die Welt gekommen sei durch herrliche Menschen, die es in ihren Handlungen darstellten. Das Gute, losgelöst von Menschen, die es tun, ist überhaupt gar nichts. Es mag wohl sein, daß jemand die Vorbilder vergessen hat, die zuerst die Liebe zum Großen und Guten in ihm entzündeten; aber daß jemand, der als sittlicher Mensch in Betracht kommt, gar keine gehabt habe, ist sehr zu bezweifeln. Ob nun das Vorbild den höchsten Anforderungen entspricht, kommt zunächst nicht in Betracht; ich erinnere an den Goetheschen Vers:

Willst du dir aber das Beste tun,
So bleib nicht auf dir selber ruhn,
Sondern folg eines Meisters Sinn;
Mit ihm zu irren ist dir Gewinn.

Wer wirklich einem Zwange gehorchend das Gute tut, sei es, daß derselbe von andern oder von ihm selbst ausgeht, kann jedenfalls keine Beseligung dadurch fühlen, die nur aus dem Gemüte fließt, und er wird auch nie mehr als das Vorgeschriebene, Notwendige tun, während es auf das Unverhoffte, Überschwengliche ankommt. Große Menschen, die wir Stoiker oder Moralisten nennen und die sich selbst dafür halten, werden immer geheime Christen sein; was wir aber gewöhnlich unter Moralisten verstehen, sind Menschen, die sich einer Konvention fügen, oder Werkheilige, die das Vorgeschriebene tun, denen es aber nicht von Herzen kommt.


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