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Das dreieinig Göttliche lebt in der Beziehung von Innerem und Äußerem, welche sich in einem dritten Punkte kreuzen; der Mensch ist in seinen Werken und Taten, welche aus seinen Beziehungen zur Außenwelt entstehen. Dies ist der Punkt, auf welchen ich die größte Aufmerksamkeit lenken möchte.
Die Alten nannten den Menschen einen Mikrokosmos, eine Welt im Kleinen; nach der Bibel ist er das Ebenbild Gottes, nach Goethe der Gipfel der Schöpfung, der die ganze Schöpfung vertritt, und alles dies bedeutet ja dasselbe; aber in allem diesen ist immer der Mensch als Fühlender, Denkender, Handelnder vorausgesetzt, der die Welt, in der er lebt, auf sich wirken läßt und auf sie wirkt. Versucht man den Menschen als Einzelnes zu fassen, abgelöst von der ihn umgebenden Welt, so zerrinnt er. Hören wir einige Aussprüche Goethes darüber. »Wer in sich recht ernstlich hinabsteigt, wird sich immer nur als Hälfte finden; er fasse nachher ein Mädchen oder eine Welt, um sich zum Ganzen zu konstituieren, das ist einerlei.«
»Als ob der Mensch etwas anderes aus sich selber habe als die Dummheit und das Ungeschick! … Von einem durchaus verrückten und fehlerhaften Künstler ließe sich allenfalls sagen, er habe alles von sich selber, allein von einem trefflichen nicht.« So nahm sich Goethe auch nicht aus: »Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überall! was können wir denn unser Eigenes nennen als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich allen großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.«
Als in einem Buche Mirabeau verkleinert werden sollte, weil viele andere Menschen Anteil an seinem Wirken hätten, sprach er sich weitläufig darüber aus, eben darin habe Mirabeaus Größe bestanden, daß er viele zu benutzen verstanden habe. Auch der Koloß bestehe aus einzelnen Teilen, und auch der Herkules des Altertums sei ein kollektives Wesen, ein großer Träger seiner eigenen Taten und der Taten anderer. »Im Grunde aber sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen … Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. Das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ihr halbes Leben im Dunkeln.« Im selben Sinne sagte er, daß nur sämtliche Menschen die Natur erkennen, nur sämtliche Menschen das Menschliche leben könnten. Er wiederholt deshalb das Wort der Bibel: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«, hinzufügend »und besonders nicht, daß er allein arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll.« Er hätte hinzufügen können, auch des Widerspruchs, der Gegenwirkung.
Als Eignes gesteht Goethe dem Menschen nur ein Wollen zu und, wie aus allem vorigen hervorgeht, Empfänglichkeit, die Welt aufzunehmen; Empfänglichkeit und Wille sind die Kräfte, durch die er sich mit der Welt in Beziehung setzt. Mitteninne zwischen ihm und der Welt, seinem Inneren und dem Äußeren, das ihn umgibt, entstehen seine Werke und Taten, das Ergebnis von Wirkung und Gegenwirkung eines Menschen und seiner Umwelt. Diese Werke und Taten sind nicht wie er etwas Werdendes, sich ewig Wandelndes, sondern sie sind sein Leben, seine Persönlichkeit; in diesen, seien es seine fleischlichen oder geistigen Kinder, muß auch seine Unsterblichkeit begriffen sein.
Dies wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß alles Nacheinander doch auch zugleich nebeneinander ist. Das Paradies ist nicht überall, aber es ist immer da, wo unschuldige Herzen sind, die noch nichts von sich wissen und kindlich das Göttliche verehren. Es ist um Kinder herum. Auch das Jüngste Gericht ist immer da; denn immer sinkt das Tote in den Abgrund und steigt das Lebendige aus der Tiefe zu Gott empor, und so muß auch Christus immer da sein zur Rechten der Kraft, das richtende Gewissen der Menschheit, das einmal, im Volke Israel, Fleisch wurde.
Glauben wir, daß der Mensch nur lebt, insofern er sich äußert, und sich nur äußert, wenn er Gegenwirkungen erfährt, und das sind Leiden im weitesten Sinne, so müssen wir einem jeden Leiden wünschen. Wir können bemerken, daß es Menschen gibt, die sich möglichst nur mit solchen umgeben, die von ihnen abhängig sind und ihnen nicht widersprechen können oder mögen, geschweige denn sich widersetzen; es gibt Eltern, die mit ihren Kindern nur ein ersprießliches Verhältnis haben können, solange sie klein sind, die sich aber mit den Heranwachsenden und Erwachsenen, die sich ihnen als etwas Selbständiges auch entgegensetzen, nicht gut stellen können. Die Menschen, von denen man sagt, daß sie keinen Widerspruch ertragen, sind nicht nur unangenehm und schwer verwendbar, sondern von gefährlicher Beschaffenheit. Es gibt Menschen, die jedem Verhältnis, jeder Lage ausweichen, wo ihnen Widerspruch in irgendeiner Form begegnen könnte, sei es daß sie getadelt oder gestraft würden, oder daß sie eine Schwäche verrieten oder sich irgendeine Blöße gäben. An Nietzsche können wir beispielsweise beobachten, wie er mehr und mehr nur eine durchaus bejahende Umgebung verträgt und schließlich sich aus jeder Beziehung löst, um keine Einwände irgendwelcher Art vernehmen zu müssen. Im allgemeinen sorgt die Weisheit der Gottheit dafür, daß die Menschen, die keine Belehrung durch das Wort annehmen, durch Schicksalsschläge erzogen werden, gemäß dem Sprichwort: Wer nicht hören will, muß fühlen. Bildungsfähigkeit, und das schließt Lebensfähigkeit ein, ist Jugend, und umgekehrt muß die Jugend sich bilden lassen. Sehr bezeichnend ist für die Degeneration unserer Zeit die Empfindlichkeit unserer Jugend gegen Strafe auf den Schulen und die sogenannten humanitären Bestrebungen, den Lehrern das Recht der Strafe zu verkürzen oder zu entziehen. Man lese in den Lebensgeschichten der großen Begründer unserer Kultur, was für Leiden, Strafen, Ungerechtigkeiten, Härten, ja Grausamkeiten sie zu Hause und in der Schule ausgesetzt waren! Wir entrinnen den Leiden und Übeln nicht; wollen wir sie verdrängen, kommen sie an anderer Stelle schlimmer wieder hervor. Als ein Beispiel dafür kann die Entwickelung des Krieges dienen. Die zunehmende Empfindlichkeit der Menschen führte zur Erfindung von Waffen, welche den Nahkampf in einen Fernkampf verwandelten. Immer mehr suchte man die Person nach Möglichkeit den Leiden zu entziehen, machte aber schließlich die Erfahrung, daß die durch die moderne Art der Kriegführung hervorgerufenen Wunden und Leiden viel schlimmer sind als die Leiden, die die antiken und mittelalterlichen Kriege mit sich brachten. Man kommt dann dahin, die Kriege ganz abschaffen zu wollen, was, wenn es gelänge, beständige Bürgerkriege zur Folge haben würde, die bekanntlich noch viel erbitterter und verderblicher sind, bis, falls auch diese unterdrückt wären, eine allgemeine Degeneration eintreten müßte. Es gibt nur einen Weg, unsere Leiden zu verringern, ohne unsere Beschaffenheit herabzusetzen, das ist die Erhöhung unserer Widerstandskraft. Je mehr einer durch Erziehung und Lebensgewohnheiten abgehärtet ist, je besser er infolgedessen Leiden und Widerstände aller Art ertragen kann, desto besser ist er für das Leben ausgerüstet. Dies freilich ist schwer in einer Zeit, wo die Menschen schon durch die Zivilisation maßlos verwöhnt sind, und es muß deshalb jede Zivilisation, wenn sie auf einer gewissen Höhe angelangt ist, zusammenbrechen. Sowie sie die Widerstandskraft des Volkes aufgelöst hat, muß das Volk untergehen, das heißt verwandelt und zu seinen Anfängen zurückgeführt werden, damit es sich in Kämpfen wieder verjünge. Je mehr Widerstandskraft und Leidensfähigkeit, desto mehr Jugend, je weniger Leidensfähigkeit, desto mehr Erstarrung.
Wie die Erhöhung der Widerstandskraft und Leidensfähigkeit der einzige Weg ist, innere Leiden zu verringern, so ist die Abstumpfung der Gefühle der sicherste Weg zum Untergange. Was nicht mehr reagiert, ist tot, und wo die Seele nicht mehr reagiert, ist geistiger Tod. Je mehr Geduld und Leidensfähigkeit ein Volk hat, desto mehr Jugend und Zukunft hat es, weil es desto bildungsfähiger und entwickelungsfähiger ist. Im Leben der Einzelnen wie im Leben der Völker dürfen wir stets glauben, daß die Leiden zu ihrem Besten dienen, und daß jede Krone des Glückes und des Sieges, die sich nicht über Wunden schließt und die nicht Dornen birgt, trügerischer Flitter ist. Per aspera ad astra! Es ist erstaunlich, daß eine uralte Weisheit, die von allen den großen Führern und Lehrern der Menschheit in ihrem Leben und ihren Worten wiederholt wurde, so sehr in Vergessenheit geraten, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden konnte: Nicht Leiden und Übel eifrig aufsuchen, noch ihnen ängstlich ausweichen sollen wir, sondern uns kräftig machen, diejenigen, die uns treffen, zu überwinden, das sollte unser Ziel sein. Es war eine unvollkommene Auffassung der Griechen, vom Neide der Götter zu sprechen; aber es ist mehr als kindisch zu sagen, wenn Gott allmächtig wäre, müßte er das Leiden aus der Welt schaffen. Unser Leiden ist mit der Höhe unseres Selbstbewußtseins verbunden. Es würde stets uns angemessen sein und niemals unerträglich werden, wenn wir das Verhängte geduldig ertrügen und nicht vielmehr zu verdrängen suchten, worauf es verschärft zurückkehrt. Es würde überhaupt aufhören, wenn unser Selbstbewußtsein aufhörte; würden wir aber Leidenslosigkeit um diesen Preis erkaufen wollen?