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33.
Vom Überwiegen der erhaltenden Kraft über die wachsende und sich opfernde in unserer Zeit


Soll ich kurz zusammenfassen, worin unser Unglück besteht, kann ich sagen, in dem Überwiegen des Bewußten über das Unbewußte, besser gesagt das Unwillkürliche, oder in dem Überwiegen des Erhaltungstriebes über den Trieb, zu wachsen, und den Trieb, zu opfern.

»Die Natur füllt mit ihrer grenzenlosen Produktivität alle Räume. Betrachten wir nur bloß unsere Erde: alles, was wir böse, unglücklich nennen, kommt daher, daß sie nicht allem Entstehenden Raum geben, noch weniger ihm Dauer verleihen kann.«

»Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will Dauer; deswegen verdrängt es ein anderes vom Platz und verkürzt seine Dauer.«

Die Natur indessen sorgt durch den allverbreiteten Kampf und die freiwillige Hingabe der elterlichen Generation für alle ihre Kreaturen, indem sie ihnen nicht unbegrenzten Raum und eine ungemessene Dauer, sondern einer jeden die Spanne gönnt, die zu ihrer Lebenskraft, ihren Leistungen und den Bedürfnissen aller im rechten Verhältnis steht. Der Mensch hat sich dieser weisen Führung entrissen, er will sich dem, was er »böse, unglücklich« nennt durchaus nicht unterwerfen, will für sich und alles Seinige in Raum und Zeit unverkürztes Dasein. Da aber das Leben mit dem Tode so zusammenhängt, daß das Maß des Lebens an das Maß des Sterbens gebunden ist, muß, wenn der Erhaltungstrieb des bewußten Menschen eine gewisse Grenze überschritten hat, der Selbstzerstörungstrieb an die Stelle des Wachsen- und Opfertriebs treten.

An die Stelle der persönlichen Höherentwicklung tritt der Fortschritt, die Entwickelung von Technik und Wissenschaft, deren wir uns zur Beherrschung der Natur und zur Erhöhung unserer Bequemlichkeit bedienen. Wie es gut und recht ist, daß der Mensch sich Werkzeuge macht und sie benutzt, so auch, daß er durch Arzneien und geeignete Behandlung sich gesund zu erhalten und die Schmerzen, denen er ausgesetzt ist, zu mildern sucht; auf das Maß oder Übermaß kommt es an. Beginnt unser Organismus, den Unbilden des Lebens immer weniger Widerstand entgegensetzen zu können, so ist es gewiß, daß wir ihn verweichlicht und ihm geschadet haben, anstatt ihm zu nützen; fängt die alte Generation an, der jungen im Wege zu sein, so wäre es besser gewesen, das Leben nicht über die von der Natur gesetzte Grenze zu verlängern. Sollten wirklich Mittel erfunden werden, die Greise zu verjüngen, so würde im Großvaterhaß ein neues Phänomen entstehen, mit dem sich die Heilkunde und die Justiz zu beschäftigen hätten. Bisher war das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln besonders schön und heilig, gerade weil der volle Verzicht der abscheidenden Generation die junge ohne Eifersucht, Neid und Tadel sich im Leben ausbreiten sah. Eine Bemerkung Billroths in einem Briefe ist mir aufgefallen:

»Ich habe übrigens schon seit vielen Jahren das Paradoxon aufgestellt, daß die steigende Vervollkommnung der ärztlichen Kunst und die Verhütung von Epidemien durch die vervollkommneten sanitären Maßregeln wohl dem Individuum zugute kommt, die menschliche Gesellschaft aber ruinieren muß, weil die Vermehrung und Erhaltung der Menschen schließlich zu einem Grade von Übervölkerung führen muß, welcher allen verderblich werden wird.«

Wie prophetisch erscheint jetzt das Wort des berühmten Chirurgen, dessen Geist plötzlich ein ihn selbst erschreckendes Licht auf die Tätigkeit wirft, der er sein Leben gewidmet und in der er Großes geleistet hatte. Gott ist verkehrt mit den Verkehrten. Vergleichen wir damit die Meinungen und Grundsätze der kürzlich gegründeten Deutschen Gesellschaft zur internationalen Regelung der Bevölkerungspolitik oder des Mensch-Erde-Bundes. Die Gründer der Gesellschaft gehen von der Idee aus, daß an der Häßlichkeit, Unnatur und Unsittlichkeit der modernen Kultur, an den gräßlichen Unmenschlichkeiten des Weltkrieges die allzu große Dichte der Bevölkerung schuld sei. Auch sie haben beobachtet, daß das Walten der Natur, die früher dafür sorgte, daß keine Bevölkerung über die Tragfähigkeit des Bodens hinauswüchse, durch die Bestrebungen des Menschen gehemmt ist, und daß die Folge davon die Verdrängung der Natur und ihrer Schönheit ist; aber sie ziehen nicht etwa den Schluß daraus, daß es besser wäre, Gott in der Natur walten zu lassen. Im Gegenteil, die hemmende Tätigkeit des Menschen muß ihrer Meinung nach fortgesetzt werden und nun auch noch die Zunahme der Bevölkerung hemmen, der sie vorher jedes Hindernis aus dem Wege zu räumen suchten. Frankreich mit seiner geringen Geburtenzahl wird nun als beneidenswert angesehen, nur gibt man zu, daß ein einzelner Staat, der diese weise Richtlinie befolge, gegen die anderen dadurch in Nachteil gerate, und daß deshalb notwendigerweise die sämtlichen europäischen Staaten in entsprechender Weise geregelt werden müßten. Ein bevölkerungspolitisches Weltamt müsse einen gleichmäßigen Welt-Geburtenrückgang herbeiführen und dadurch den Bestand des Völkerbundes und des Weltfriedens sichern. Als Mittel zur Einschränkung der Bevölkerungszahl werden Empfängnisverhütung, nötigenfalls künstliche Entfernung der Frucht und unter Umständen vollkommene Unfruchtbarmachung empfohlen. Sollte einmal wieder das gegenteilige Bedürfnis eintreten, so könnten dann geeignete Mittel angewendet werden, um die Bevölkerung zu vermehren. Um der Mechanisierung des Lebens entgegenzutreten und die Natur wieder ins Leben zu führen, wird aus dem tiefsten, geheimnisvollen Brunnen allen Daseins, aus dem bodenlosen Abgrund der schaffenden Kräfte eine vom Staat gedrehte Maschine gemacht. Der Tod, den man mühsam abzuschaffen suchte, wird nun hinterrücks wieder ins Leben eingeführt, aber durchaus nicht so, daß der Erhaltungs- und Genußsucht des Menschen etwas zugemutet würde, sondern auf Kosten des mit dem Opfertriebe verbundenen Wachstumstriebes, die beide unbewußt sind, und aus denen der Einzelne keinen Nutzen zieht. Das letzte bißchen von persönlicher Verantwortlichkeit, das wenigstens die Frauen noch hatten, würde ihnen durch solche Einrichtungen entzogen werden. Es ist merkwürdig und fast unheimlich: wie nach der Abschaffung des Selbstschutzes und der Selbsthilfe die Ausbildung des Staates als Verschlinger aller persönlichen Kraft und Verantwortlichkeit immer weitergegangen ist und weiterzugehen scheint bis zu den äußerst möglichen Folgen, so scheint es auf allen Gebieten zu sein, daß eine Richtung jede in ihr liegende Möglichkeit erschöpfen muß, bis aus Vernunft Wahnsinn, aus Wohltat Plage geworden ist und sie sich selbst, ad absurdum geführt, zerstört. So erschreckte die Erfindung des Schießpulvers schon einsichtige Zeitgenossen, weil der Ausgang des Kampfes dadurch von der persönlichen Tüchtigkeit der Kämpfer unabhängiger wurde; allein in dieser Richtung der Entpersönlichung des Krieges gingen alle Erfindungen weiter, bis man inne wurde, daß der durch immer kompliziertere Waffen immer mehr von der Persönlichkeit abgeleitete Kampf zuletzt barbarischer geworden ist als der Nahkampf der Barbaren.


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