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Lehnte Goethe auch die kirchlichen Dogmen ab, so glaubte er doch an gewisse Gesetzlichkeiten, zu denen der menschliche Geist anschauend gelangen kann, Urphänomene, wie er sie nannte, hinter denen man unmittelbar die Gottheit zu gewahren glaube. Das Wort Gesetze vermeidet man besser, da man zu den Urphänomenen nicht durch Abstraktion und Berechnung gelangt, sondern durch die Sinne und die Vernunft oder Phantasie, indem man mit dem Äußeren zugleich das Innere anschaut. Als Urphänomene, die man auch Urtatsachen des Geistes nennen könnte, führte Goethe die Polarität, die Steigerung und die Spiraltendenz an. Die Polarität ist die Eigentümlichkeit des Geistes, sich in zwei Gegensätze gespaltet zu offenbaren, die ihre Vereinigung in einem Dritten suchen. Gott ist das Maß zwischen zwei Gegensätzen, die er selbst hervorbringt. Diese Spaltung und Vereinigung geht durch die ganze Natur und zeigt sich namentlich im Menschen selbst, der in der Vereinigung von Vater und Mutter, Mann und Weib, ein Neues, Drittes darstellt. Aus den sich entgegengesetzten und zugleich sich ergänzenden Geschlechtern entsteht immer wieder das Kind, ein Ganzes, das doch, als Teil, immer wieder Ergänzung suchen muß. Wir sehen, daß wir das Urphänomen von der Polarität in der Bibel als die Lehre vom dreieinigen Gott finden, der den Menschen zu seinem Bilde schafft. Goethe selbst erinnerte sich, als ihn bei Betrachtung einer Pflanze der Gedanke als Naturgesetz erfaßte, daß ein Wesen seine Existenz fortsetze, solange es gehe, dann aber sich zusammennehme, um wieder seinesgleichen hervorzubringen, an die Legende der Bibel, wonach Gott sein Ebenbild erschaffe, und er verglich damit die Künstler und Dichter, welche gleichfalls in ihren Werken ihr eigenes Ebenbild nach außen versetzen. Der Unterschied ist der, daß die Bibel vom Geist als vom persönlichen Gott spricht, während Goethe zum Urphänomen durch Betrachtung der Individuen gelangt, von ihnen auf den All-Geist schließend; es ist klar, da Gott die Einheit in der Vielheit ist, daß man zum gleichen Ergebnis kommen muß, ob man nun von dieser oder von jener ausgehe, sofern man nur beide ins Auge faßt. Ein Lieblingsspruch Goethes war der aus dem Buch Hiob: »Siehe, er geht vor mir über, ehe ichs gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ichs merke.« Wenn er diesen seiner Metamorphose der Pflanzen voranstellte, so war er sich wiederum bewußt, daß die Grundidee seiner Lehre im großen Buche Gottes und der Völker schon enthalten war. Durchdringt doch die Empörung gegen den Tod als Vernichter, der Aufschrei des bewußten Menschen, der sich seines Rechtes auf Leben bewußt ist, das Alte Testament, und ertönt doch aus dem Neuen die beseligende Antwort, daß der Tod der Übergang zum neuen Leben ist, daß wir nicht sterben, sondern verwandelt werden. Tod ist nur in der Erstarrung dessen, der sich erhalten, sich nicht verwandeln lassen will. Die sogenannte Spiraltendenz, von der Goethe zuerst durch den Naturforscher Martius hörte, und die er mit jugendlicher Leidenschaft ergriff, hat er selbst ausgedrückt in den Worten, daß alles sich runden, aber nicht schließen solle. So steht dies Urphänomen im engsten Zusammenhang mit der Verwandlungslehre oder dem Zusammenhang von Geburt und Tod; denn die Spirale entsteht eben dadurch, daß die schließende Bewegung rechtzeitig durch eine eröffnende durchbrochen wird.
Das Urphänomen der Steigerung, durch welches innerhalb der Natur der Mensch, innerhalb der Menschheit der Übermensch, der Heros, hervorgebracht wird, durchstrahlt die ganze Bibel hundertfach in Lehre und Gestaltung. Von der Erschaffung des Menschen zum Bilde Gottes bis zu der Forderung: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, zur Ergießung des Heiligen Geistes auf Maria begegnen wir überall dem sehnlichen Streben der Kreatur nach göttlicher Vollkommenheit und der entgegenkommenden Gnade von oben. Wie Goethe der Stufenfolge der Entwickelung im Natürlichen und Menschlichen nachgegangen ist, darf ich zum Teil als bekannt voraussetzen, teils habe ich schon darauf hingewiesen. Wie sich die Steigerung in der Geschlechterfolge vollzieht, dazu führte die Beobachtung, daß, in der Natur wie in der Menschheit, verschiedene auseinander sich entwickelnde Formen schließlich in einer letzten gipfeln, die alle Eigenschaften der früheren zusammenfaßt und das Wesen dieser Reihe oder dieser Reihen in der größten ihnen möglichen Vollkommenheit ausprägt. Nach tausendfältigen Pflanzen, sagt Goethe, erscheint eine, worin alle übrigen enthalten sind, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: der Mensch. »Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der Blüte und dem Samen. In der Tierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Tieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem sich die Kräfte konzentrieren. Was so bei einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Korporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelheiten, die sich aneinanderschließen, bringen als Gesamtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienenkönig … So bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen.« Dasselbe spricht die Bibel aus, wenn sie Christus einerseits des Menschen Sohn und dann wieder das Haupt der Menschheit nennt, welcher alle vertritt. Der Stammbaum, durch welchen der Sohn Gottes, Jesus von Nazareth, mit David verbunden ist, liest sich langweilig; aber er führt uns doch anschaulich am höchsten Beispiel grade das vor, was Goethe als allgemeines Phänomen in der Natur verfolgte, wie das Urbild und höchste Ziel des auserwählten Volkes, der durch den und zu dem es geschaffen war, durch seine Geschlechter hindurchgeht, um sich schließlich, von einer reinen Jungfrau empfangen, als der Letzte des Volkes, das er zum Tode führt, weil mit ihm sein Ziel erreicht ist, zu offenbaren. Neben der natürlichen Folge besteht die geistige: Christus, durch seinen natürlichen Vater in seinem Volke verwurzelt, wurde durch Moses und die Propheten, seine Vorläufer, vorverkündet. Goethe nannte das Bedürfnis des Umgangs mit hohen Vorgängern das Zeichen einer höheren Anlage. »Es geht durch die ganze Kunst eine Filiation. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner Vorgänger benutzte, und daß eben dies ihn groß machte. Männer wie Raffael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußen auf der Antike und dem Besten, was vor ihnen gemacht worden. Hätten sie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, so würde wenig von ihnen zu sagen sein.« Über das Urphänomen der Gegenwirkung oder Hemmung, des Teufels, hat Goethe sich im »Faust« ausgelassen, indem er an die Symbolik der Bibel und Luthers anknüpfte. Sonst spricht er auch von den retardierenden Dämonen, von der Notwendigkeit des Druckes und Zwanges, und daß nur der Widerspruch produktiv mache.
Als ein ferneres Beispiel, wie die gleichen Ideen in der Bibel und bei Goethe ausgedrückt sind, führe ich folgendes an. Über die vielberedete Frage, wie Gotteswort und Menschenwort zu unterscheiden, woran der von Gott gesandte Prophet zu erkennen sei, heißt es in der Bibel: »Ob du aber in deinem Herzen sagen würdest: Wie kann ich merken, welches Wort der Herr nicht geredet hat? Wenn der Prophet redet in dem Namen des Herrn und wird nichts draus, und es kommt nicht, das ist das Wort, das der Herr nicht geredet hat; der Prophet hat's aus Vermessenheit geredet, darum scheue dich nicht vor ihm.« Als Eckermann Goethe fragte, woher man wisse, welche Tendenz recht und welche falsch sei, antwortete Goethe, die falsche Tendenz sei nicht produktiv, habe keine Folge, wirke nicht fort. »Echt ist das Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwickelung dient.« Das Produktiv-Fortwirkende ist ihm gleichbedeutend mit Genie, und was die Bibel Prophet nennt, ist ja nichts anderes als Genie. Gott selbst nennt sich: Ich werde sein, den Ewig-Künftigen, Ewig-Fortwirkenden.
Was Goethe Steigerung nennt, finden wir in der Bibel ausgedrückt durch die Stellung des Menschen zwischen den Tieren und Gott, Polarität und Spiraltendenz durch das Mysterium der Dreieinigkeit. Die Bibel schließt stets anschaulich das Moment der Persönlichkeit ein, während Goethe sich an dieser Stelle der entpersönlichten Redeweise unserer Zeit bedient.