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Während seines ganzen Lebens hat Goethe die moderne Wissenschaft und ihre Vertreter bekämpft, indem er die Haltlosigkeit ihrer Grundbedingungen klarlegte und auf ihre Unproduktivität, d. h. auf ihren Mangel an Folge hinwies. Bacon wollte die Natur nicht mehr ex analogia hominis betrachtet wissen; Goethe betont immer wieder, wie durch die Ablösung der Natur vom Menschen sie entpersönlicht, entgeistet, zum Stoff gemacht wurde.
»Der Mensch an sich selbst,« schreibt er an Zelter, »insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann. Und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will. Ebenso ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, sowie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt. Dafür steht ja eben der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen: Was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?«
Man begreift, wenn man dies durchdacht hat, gewiß besser die eigentümlichen Worte, die Wilhelm Meister dem Astronomen sagt, der ihn den Sternenhimmel durch ein Fernrohr ansehen läßt. »Ich begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen, wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie mir es auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist: denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt.« Man bedenke, daß nach Biblisch-Goethescher Anschauung es der innere Sinn, der Geist ist, der sich die Sinne, als seine Werkzeuge, schafft und sicherlich in Übereinstimmung zu sich schafft. Wilhelm Meister sieht zwar ein, daß er diese Gläser »so wenig als irgendein Maschinenwesen« aus der Welt bannen wird; »aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt«. Diese Bemerkungen erinnern an die, welche Jeremias Gotthelf gelegentlich über den entsittlichenden Einfluß der Eisenbahnen macht, entsittlichend deshalb, weil sie das Maß der Entfernungen in einer mit den Kräften des Menschen nicht mehr übereinstimmenden Art verändert haben. Durch das ganze Maschinenwesen hat der Mensch seine Leistungen vermehrt, ohne seine Kräfte vermehrt zu haben, was auf diese Kräfte wieder herabmindernd zurückwirken, sein Selbstgefühl aber, wiederum im krassen Mißverhältnis zu seiner Kraft, ins Maßlose steigern muß.
Ich führe noch einige verwandte Aussprüche Goethes an:
»Mikroskope und Fernrohre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.«
»Die Theorie ist nicht nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.«
»Das Subjekt ist bei allen Erscheinungen wichtiger, als man denkt.«
»Was ist im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Seiten uns zu schaffen machen und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein innewohnendes Gesetz bändigt und sanktioniert.«
»Die Sinne trügen nicht, aber das Urteil trügt.«
Ähnlich sagt Schiller: »Erst mit dem Rationalismus entsteht das wissenschaftliche Phänomen und der Irrtum.«
Wie Goethe es stets für richtiger hielt, nicht nur zu polemisieren, sondern das Falsche durch positive Leistungen zu bekämpfen, so setzte er der entpersönlichten modernen Wissenschaft eine Weltanschauung entgegen, welche den Menschen auffaßt als aus der Natur hervorwachsend, von ihr umfangen, von ihr lernend und zugleich sie leitend und beherrschend. Der Mensch ist ihm ein hilfloses, ganz und gar unwissendes, zu lenkendes Geschöpf Gottes in Gottes Hand; aber auch ein Gott, insofern er ein kollektives Wesen, ein Vertreter der Menschheit, ja der gesamten Natur ist, in welchem sie selbst sich krönt, unerschöpflich insofern himmlische Kräfte in ihm wirksam sind, deren er sich bemächtigen kann dadurch, daß er sich ihnen gläubig hingibt. Die Erde ist ihm ein »großes lebendiges Wesen, das in ewigem Ein- und Ausatmen begriffen ist«. Ebenso lebendig ist ihm die Sonne, er hätte sonst nicht gesagt, daß er sie anbete. Es gibt für ihn in der Natur keine anderen als lebendige Kräfte; auch die Schwerkraft ist ihm rhythmisch, pulsierend. Auch er zwar sucht und sieht in der Natur Gesetze, zu deren Kenntnis er durch Anschauung und Erfahrung gelangt, er ahnt und erkennt gewisse Urphänomene, in denen wie in einem allerdünnsten Schleier die Gottheit sich verbirgt; aber dies ist es eben, daß die Gottheit in ihnen lebt. Die Urgesetze sind ihm aufs innigste mit der All-Persönlichkeit Gottes verbunden, der Liebe und Vernunft nicht hat, sondern ist, des Ewig-Unerforschlichen, Ewig-Anzubetenden, der dieser Gesetze sich mit persönlicher Freiheit als persönlicher Herr bedient.
Wie die Bibel unterscheidet er Menschenwort und Gotteswort, Menschenvernunft und Gottesvernunft, welch letztere unendlich hoch über jenen steht. »Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.«
Was das Göttliche vom Menschlichen unterscheidet ist, daß das Göttliche produktiv tätig ist und eine Folge hat, welche wiederum Reales hervorbringt, während das Menschliche wohl tätig, aber nicht schaffend, nur trennend und zusammensetzend ist. Der wesentliche Unterschied zwischen Schaffen und Zusammensetzen war Goethe wohl bekannt, und er tadelte deshalb das französische Wort komponieren als unzulänglich.
Ich erinnere wieder an den Satz: bei der göttlichen, produktiven Tätigkeit wird Kraft entfaltet und Stoff verzehrt; bei der menschlichen wird umgekehrt Kraft verdrängt und Stoff vermehrt. Ich könnte auch sagen, alles Menschliche will Dauer, Gott will Verwandlung. So erklärt sich das erschreckende Anwachsen des Stoffes in unserer Zeit und die Herrschaft der Masse; auf der anderen Seite der Mangel an Schaffenskraft und die unordentlichen Ausbrüche der natürlichen Triebe, das Verschwinden von Religion, Poesie und Kunst, die Zunahme der Geisteskrankheiten und Selbstmorde.
Diejenigen, welche diese Tatsachen und Gedanken vielleicht am ehesten zu würdigen wissen, sind die modernen Seelenärzte, und es muß anerkannt werden, daß sie als die ersten das Problem aufdeckten und auf den Zusammenhang von Verdrängung, das heißt Nichtäußerung und geistiger Erkrankung oder Verkümmerung hinwiesen.
Goethe, der von seinem Vater die Neigung sich einzumauern ererbt hatte, machte gelegentlich Schiller gegenüber folgende interessante Bemerkung: »Man weiß in solchen Fällen nicht, ob man besser tut, sich dem Schmerz natürlich zu überlassen, oder sich durch die Beihilfe, die uns die Kultur anbietet, zusammenzunehmen. Entschließt man sich zum letzteren, wie ich es immer tue, so ist man dadurch nur für den Augenblick gebessert, und ich habe bemerkt, daß die Natur durch andere Krisen immer wieder ihr Recht behauptet.« Auch erkannte er das Dämonische in dem Ausschlag, der bei bevorstehenden Bällen das Gesicht seiner Schwester zu entstellen pflegte. Was nun aber die Folgerungen betrifft, die die Psychiater im allgemeinen aus ihrer Entdeckung zogen, so dachten sie, daß es mit einem bloßen Sichäußern und Sichgehenlassen getan sei und bedachten zu wenig, daß der kranke Mensch sich schon gar nicht frei mehr äußern kann, und daß erst die Gegenwirkung von außen die unwillkürliche Äußerung im Individuum hervorruft. Wer wollte sich aber vermessen, diese so herbeizuführen, wie sie in eben diesem Falle erforderlich wäre? Not lehrt beten. Im Zusammenhange des natürlichen Lebens ist für Wirkung und Gegenwirkung gesorgt, wo auf allen Seiten die natürlichen Triebe, namentlich der Machttrieb, unterdrückt werden, kann eine allgemeine Erstarrung um sich greifen und so das Übel stets vermehren. Wer weiß, wie oft die Leiden, die uns treffen, uns vor dem schrecklichsten Elend des geistigen Todes bewahren müssen! Immer ist es zuletzt einzig die Not, die mit unentrinnbaren Stößen den Funken der lebendigen Kraft aus dem Herzen der Einzelnen wie der Völker schlägt und auf die wir in gewissen Fällen als auf die letzte Retterin angewiesen sind.