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Ich komme noch einmal auf die Frage zurück, warum es üblich ist, in Goethe den Unchristen, den großen Heiden zu sehen. Dies nun liegt zum Teil in seiner Abneigung gegen die bestehenden Kirchen und gegen die Frömmelei, in welcher Hinsicht er sich wohl auch selbst so nannte. Außerdem muß man in Betracht ziehen, was ich schon erwähnte, daß das griechische Heidentum mit dem Christentum verwandt ist, eigentlich darin ausmündet, dagegen zu dem nachchristlichen Judentum in einem scharfen Gegensatz steht. Dies letztere nun wieder verträgt sich gut mit der baconischen, der modernen oder wissenschaftlichen Weltanschauung, die man wohl deshalb, weil im Abendlande die christliche Religion Staatsreligion ist, mit der christlichen verwechselt und der man das Heidnische in Bausch und Bogen entgegenzusetzen pflegt. In Wirklichkeit stehen sich die heidnisch-christlich-germanische und die modern-wissenschaftliche gegenüber, getrennt durch den Unterschied von Anschauung und Abstraktion, von Unbewußtem und Bewußtem, von persönlicher Verantwortlichkeit und Staat.
Der moderne Mensch kann nicht gut anders als Christus mit irgendeinem Ismus, sei es auch nur mit der »allgemeinen Menschenliebe« in Verbindung zu bringen. Christus dagegen, wie die ganze Bibel, lehrt die Nächstenliebe, die sich allerdings zur Menschenliebe erweitert. Zu irgendeinem Ganzen kann man immer nur durch das Nächste gelangen, an das man sich anschließt. Menschenliebe, wenn sie nicht bei Worten bleibt, tritt nur in Organisationen, Nächstenliebe tritt persönlich in Kraft. »Der lebendig begabte Geist, sich in praktischer Absicht ans Allernächste haltend, ist das Vorzüglichste auf Erden.« Die Beziehungen zu Menschen betreffend läßt denn Goethe einen jeden mit der Familie beginnen. Die Natur spricht den Mann los, wenn er Vater geworden ist und gelernt hat, »nach anderen zu fragen, bevor er nach sich fragt«. Er endet im Kommunismus, aber in einem durchaus persönlichen, indem der Einzelne so viele er vermag an dem, was er besitzt, teilnehmen läßt.
Nun gibt es zweifellos auch unter modernen Menschen viele, die, wenn sie Unrecht leiden sehen, augenblicklich angreifen und helfen möchten. Allein wenn auch gewohnheitsmäßig nicht schon die Neigung dahin geht, allen auf einmal helfen zu wollen, so ist doch die Verquickung der Verhältnisse so, daß man meist nur helfen kann, indem man sich bemüht, Gesetze zu ändern, Einrichtungen zu treffen, zu organisieren. Wer möchte Lassalle ein ritterliches Herz absprechen? Doch gewann er persönlich zu den unteren Schichten des Volkes, für die er sich einsetzte, gar kein gutes Verhältnis, kam ungern mit ihnen in persönliche Berührung. Wir haben große Menschenfreunde gesehen, wie z. B. Barnardo, der die verlassenen und verwahrlosten Kinder in London sammelte und für ihre Erziehung sorgte. Aber abgesehen davon, daß seine Wirksamkeit bald zu einer Art von Verwaltungstätigkeit ausartete, wo bleibt die Gegenwirkung, die Bestrafung des Unrechts? Wen sollte man überhaupt bestrafen? Die unglücklichen, selbst verwahrlosten und verkommenen Eltern? Die Gesellschaft? Wie zieht man die Gesellschaft zur Verantwortung? Es ist in unserer Zeit kein Schuldiger da, und deshalb haftet heroischen Persönlichkeiten, wenn sie nicht Organisatoren werden, leicht etwas Don Quichotteskes an. Lassalle war, indem er die sozialdemokratische Partei gründete, sicher, mit Marx verglichen, ein Mensch, der sich »praktisch ans Allernächste hielt« und darum vorzüglich, lebendig tätig und fortwirkend. Dennoch beförderte er damit die Entpersönlichung unseres Lebens und eine Richtung, die seiner eigenen Neigung und Begabung gar nicht entsprach. So ist jeder Mensch mit seiner Zett verwachsen und ist es unmöglich, durch Rückwärtsbewegung zu den Anfängen zurückzukehren. Ein neuer Anfang des Guten kann oft erst dann Platz greifen, wenn eine falsche, sagen wir durch Übertreibung falsch gewordene Tendenz bis zu ihrem Äußersten verfolgt worden ist.
Dächte man nun, Goethe wäre bei seiner Abneigung gegen die bestehende Kirche ein Gegner der Kirche überhaupt gewesen, so wäre das ein Irrtum. Er beschäftigte sich oft mit dem Problem, wie denn die Kirche eigentlich beschaffen sein müßte, um dem menschlichen Bedürfnis genugzutun. Geht man davon aus, daß das Göttliche eine Kraft ist, die das Leben schafft, erhält und leitet, die Kraft, aus der alles Lebende seinen Ursprung nimmt, so müßte es unser dringendstes Bemühen sein, mit dieser Kraft im beständigen Zusammenhang zu bleiben. Nun ist aber der Zusammenhang des Göttlichen mit dem Irdischen, des Geistes mit dem Stoff, ein ewig unerforschliches Geheimnis; er ist da, und wir nennen das Verbindungsglied zwischen beiden Glauben. Immer wird der freiwehende Geist nach seinem Gefallen die Gefäße seiner Gnade wählen; allein daneben ist es nötig, daß die Menschheit in einer stetigen Verbindung mit ihm bleibt, und dies geschieht eben durch die Sakramente. Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum. Das Geheimnis des Einswerdens von Geist und Fleisch vollzieht sich durch den Glauben in den heiligen Handlungen, die als ein leuchtender Segensbogen unsere Erdentage mit dem Himmel verbinden. Im Hinblick darauf bemerkt Goethe einmal, daß wir in der protestantischen Kirche nicht genug Sakramente hätten; denn wenn auch das Abendmahl durchaus im Mittelpunkt stände, so wären doch auch Ehe und Tod Punkte, in denen das Jenseitige geheimnisvoll aufglühe. Indessen muß man sagen, daß, wieviel Sakramente man auch hätte, sie alle unwirksam sind, wenn das Verbindungsglied des Glaubens fehlt.
Christus war kein Organisator, so wenig Luther und so wenig Goethe einer war. Er begründete die Kirche, indem er das Sakrament des Abendmahls einsetzte, übrigens aber machte er die Personen seiner Jünger zu ihren Trägern, gab ihr also ein rein persönliches Leben. Indessen entsteht naturgemäß durch die Verpflichtung, die Lehre zu bewahren und die Sakramente auszuteilen, eine Kirche als feste Einrichtung, die alsbald den Gesetzen jeder Organisation unterliegt. Sie überleben nämlich alle ihren Gründer nur kurze Zeit und bedürfen, um nicht zu erstarren, steter Erneuerung durch geniale Personen, wie sie ja auch innerhalb der christlichen Kirche von Zeit zu Zeit aufgetreten sind. Die Voraussetzung dazu ist aber der Kampf, die Gegenwirkung, welcher tatsächlich das kirchliche Leben im Mittelalter lebendig erhielt. Luther hat tiefsinnige, beherzigenswerte Worte darüber gesprochen, daß eine Organisation, auch die Kirche, erstarrte, wenn sie nicht beständig verwandelt würde; allein dies Verwandeln hängt nicht vom Willen des Menschen ab, sondern die rechte, zeitgemäße Form bildet sich im Kampfe, in Wirkung und Gegenwirkung heraus; fehlt dieser, so bemühen sich die klügsten menschlichen Berechnungen umsonst. Der längst erstarrten katholischen Kirche wurde durch das Entstehen der evangelischen noch einmal ein gewisses Leben eingeflößt; seitdem dann eine allgemeine Toleranz die Kämpfe zwischen den verschiedenen Kirchen aufgehoben hat, ist die katholische, als Kirche, wieder in ihre vorige Starrheit zurückgesunken und die evangelische hat ihre Bedeutung verloren. Das geistige Leben spielt auf einem anderen Boden als dem kirchlichen, nämlich auf dem sozialpolitischen, und nur von dort aus ist eine religiöse Erneuerung denkbar, wenn diese Richtung dahin gekommen ist, daß sie einen persönlichen Charakter annehmen kann.
Das schwierigste Problem der heutigen Menschheit besteht darin, daß niemand eine Gegenwirkung ertragen will, und daß das Leben doch an die Gegenwirkung gebunden ist.
Ich kann mich nicht bereden lassen,
Macht mir den Teufel nur nicht klein.
Der Kerl, den alle Leute hassen,
Der muß was sein!
Der Gegengott ist so gut Gott wie Gott. Luther war groß genug, dies einzusehen, und groß genug, die katholische Kirche in den Ländern, wo das Luthertum herrschte, nicht mit Gewalt unterdrücken zu wollen. Dennoch mußte er als Mensch den Untergang des Papsttums wünschen; und wie entstände der Kampf, wenn nicht eines den Untergang des andern nach seiner Überzeugung wünschen müßte? Schlimm ist nur, wenn die Ermüdung des Alters den Kampf überhaupt aufhebt. Darum ist die Jugend schöpferisch, weil sie die Gegenwirkung aufsucht und zwischen Wirkung und Gegenwirkung sich als in ihrem Elemente bewegt. Wo diese Neigung ist, ist Jugend; haben wir noch Jugend in diesem Sinne?