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9.
Inwiefern Luther doch der modernen Entwickelung dienen mußte


Es ist nicht zu leugnen, daß Luther, obwohl er in der Ideenwelt des alten freien Reichs persönlicher Beziehungen lebte, dem Territorialfürstentum gedient hat. Das ist daraus zu erklären, daß es einen Volkskaiser nicht mehr gab, da ja die habsburgischen Kaiser längst nichts anderes mehr als erbliche Fürsten waren. Hier ist dem Einzelnen die unüberschreitbare Grenze gesetzt; wenn ein Volk den kindlich unbewußten Trieb zum Ganzen nicht mehr hat, mittels dessen es seine Vertreter aus sich selbst hervorbringt, so kann kein Wille eines einzelnen oder mehrerer es anders mehr als von außen zusammenhalten. Einzig das hätte Luther versuchen können, eine Republik wie die eidgenössische zu gründen mit den Mitteln, die die Ritterschaft und die Bauernschaft ihm gaben. Allein sein Instinkt war aufs bestimmteste dagegen, und zwar aus folgenden Gründen. Das alte Reich war aus Selbstverwaltung des Volkes und Einzelherrschaft gemischt, ein Rechtszustand zwischen Freiheit und Gehorsam, wie er nur aus Kämpfen erwächst, niemals willkürlich hervorgebracht wird. Auch in einem solchen Verhältnis erhält die Landbevölkerung sich jung und bleibt das Depot, wie Goethe es ausdrückt, in welchem das Volk seine Jugendkraft bewahrt, durch die es sich stets erneuern kann. Wo reine Selbstverwaltung herrscht, wird diese Niederlage an Naturkraft schließlich aufgesogen. Ein anderes kommt dazu: die Art und das Schicksal eines Volkes sind bestimmt durch den Charakter der Erde, die es bewohnt: der Mensch ist wahrhaft das Kind von Erde und Sonne. Viele Länder sind durch natürliche Grenzen so geschützt, daß sie, wie England, leicht ihre Unabhängigkeit erhalten oder, wie die Schweiz, neutral bleiben können; Deutschland, mit undeutlichen Grenzen, den Übergriffen seiner Nachbarn ausgesetzt, muß sich kriegerisch erhalten, wenn es nicht in Knechtschaft geraten will. Die Deutschen waren deshalb von alters als tapferes und kriegerisches Volk berühmt. Ein kriegerisches Volk muß aber auch im Frieden an Führerschaft gewöhnt sein, an eine solche, die auf freiwilliger Unterwerfung beruht, damit dem Heere die Lebendigkeit und der Schwung nicht fehlen, die es zur Ausführung seiner Bewegungen braucht. Man wird deshalb bei kriegerischen Völkern oft eine angestammte Aristokratie finden, die Vorherrschaft gewisser Familien, deren bevorzugte Stellung auf der Anhänglichkeit einer umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung beruht, ein Verhältnis, das sofort aufhört, segensreich zu sein, wenn die patriarchalischen Familien sich zu einer festen Aristokratie zusammen- und vom Volke abschließen, dessen Anhänglichkeit sich in Unfreiheit verwandelt. Als Schutz der Freiheit erhob sich im Reiche über allen der Kaiser, dessen Macht mit der Freiheit und Kraft des Volkes zusammenfiel. Eine rein demokratische Republik ist nicht die geeignete Staatsform für ein Volk, das kriegsbereit sein muß; in der erblichen Beamtenmonarchie können allerdings gewaltige Kriegsleistungen erzeugt werden, da sie aber vom Volke nicht unwillkürlich hervorgebracht werden, erschöpfen sie seine Selbsttätigkeit, welche ja überhaupt in dieser Staatsform erlahmt.

Man hat es vielfach beklagt, daß Luther sich nicht auf die Bauernschaft und die freie Reichsritterschaft stützte, die ihm bereitwillig entgegenkamen. Er hätte dann sicherlich ein heldenhaftes Ende gefunden und sein Andenken würde in den Augen mancher vielleicht reiner sein, zugleich aber auch bedeutungsloser und schwankender als das eines träumerischen Don Quijote, der dem gespenstischen Irrlicht einer erstorbenen Vergangenheit nachjagte. Die ganze Entwickelung der Neuzeit hätte ohne Luthers Sieg nichtstattfinden können, welche alles Große gezeitigt hat, was unser Leben schmückt und verherrlicht. Ist doch das Leben so reich, daß jede Zeit, erstarrt sie nur nicht, ihre Götter und Helden hat, und kann doch die Sehnsucht nach verlorener Herrlichkeit Gestalten schaffen, die denen gleichkommen, welche das Glück der Erfüllung hervorbringt. Vernichtend ist nur der Grundsatz und das System, welche den Reichtum des persönlichen Lebens in eine übereinstimmende Uniform spannen wollen und unter dem Vorgeben eines allgemeinen Glücks das Glück despotisch töten, welches in der Möglichkeit für jeden besteht, seine Antriebe zwischen Wirkung und Gegenwirkung zu äußern.

Wer Zukunft schaffen soll und daher das Wahre mit dem Wirklichen verbinden muß, kann nicht auf einem beweisbar richtigen Lehrsatz fußen, sondern er muß, wie heftig er auch das Falsche bekämpfen und wie gründlich er es besiegen mag, gewisse Irrtümer oder Irrwege seiner Zeit mit einschließen. Christus allerdings, als der Heiland eines untergehenden Volkes, war von jeder Irrung frei; das Reich hingegen dauerte durch Luther als Deutschland fort. Wenn Luther, wie es der Fall ist, stets den Stachel des Vorwurfs im Gewissen trug, daß er nicht den Märtyrertod erlitt, so spricht sich darin wohl das geheime Bewußtsein aus, daß er und sein Werk nur dann ohne inneren Widerspruch hätte bleiben können, wenn er mitsamt dem Reich damals untergegangen wäre. Der Widerspruch im Leben eines Volkes ist desto stärker, je höher sein Selbstbewußtsein steigt; desto stärker ist seine Sucht, sich zu erhalten und seine Unfähigkeit, unterzugehen. Europa ist demjenigen zu Dank und Bewunderung verpflichtet, der es wenigstens zu einer durchgreifenden, alles erschütternden Verwandlung zwang.


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