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26.
Von Goethes Abneigung gegen Kirchen und Frömmler und seiner Verehrung der Bibel als Lebensbuch der Menschheit


Wie ist es zu erklären, daß Goethe, der nach seiner eigenen Angabe fast der Bibel allein seine sittliche Bildung schuldig ist, deren Begebenheiten, Lehren, Symbole und Gleichnisse sich, wie er sagt, tief bei ihm eingedrückt hatten und auf die eine oder andere Weise wirksam gewesen waren; daß er, dessen Übereinstimmung mit der Bibel und Luther sich in allen seinen Worten und Aussprüchen nachweisen läßt, in vielen protestantischen Kreisen, sei es zum Ruhm oder zum Schimpf, als der große Heide gilt? Von den Katholiken will ich hier nicht reden, da der Katholizismus in seiner jetzigen erstarrten Form mit der Weltanschauung der Bibel nichts mehr zu tun hat. Allein hätten die Protestanten nicht alle mit Entzücken ihr Glaubensbekenntnis bei Goethe in schönster Gestaltung erkennen sollen? Dies ist ja auch zum großen Teil geschehen; denn man muß bedenken, daß Luther weit mehr im öffentlichen und persönlichen Leben als grade innerhalb der Kirche nachgewirkt hat. Es ist selbstverständlich, daß zwischen Religion und Kirche unterschieden werden muß, und doch wird dieser wesentliche Unterschied selten in Betracht gezogen. Goethe war allerdings ein Gegner der Kirchen, wie sie zu seiner Zeit waren, und noch mehr ein Gegner der Frömmler. Während er sich sehr wohl mit allen Gläubigen verstand, seien sie gebildet oder ungebildet, waren ihm die Frommen und besonders die vornehmen Frommen, die eine Art Sport mit dem Glauben trieben, verhaßt. Durch den Deismus hatte sich eine Auffassung Christi als eines wohlwollenden Reisepredigers breitgemacht, der Pietismus gefiel sich mehr mit einem heiligen Schafhirten, wodurch der göttliche Heros seiner Größe beraubt wurde und einem Genius wie Goethe verleidet werden mußte. Sicherlich kannte Goethe die Bibel gut genug, um den Genius der Menschheit von solchem historischen Klebestoff befreien zu können; aber man kann sich niemals äußern ganz ohne Bezug auf die Gesellschaft seiner Zeit und ihrer Auffassungsweise, und auf diese sind manche seiner Auslassungen gemünzt. Die winselnden Lobpreisungen Gottes, die eigentlich nur eine Selbstverherrlichung waren, das beständige Hineinzerren des Unerforschlichen in die kleinlichsten persönlichen Angelegenheiten war ihm ein Greuel. »Wäret ihr durchdrungen von seiner Größe, ihr würdet verstummen.« Wenn nun Goethe einerseits von den sogenannten Frommen dieser Art sich energisch zu unterscheiden gewillt war, so lag es ihm doch andrerseits am Herzen, der biblisch-germanischen Weltanschauung, wie sie der Entwickelung des deutschen Volkes in der Geschichte zugrunde liegt, eine reine Darstellung zu geben. Denn obwohl er ein Gegner aller Systeme war, so fand er doch, es täte dem Menschen ein Positives not, das man ihm von Generation zu Generation überlieferte, und »dies Positive sollte das Rechte und Wahre sein«. Er war sich bewußt, daß die uns überlieferten christlichen Symbole, die einst schlechthin geglaubt, als ein Angeschautes wirklich und gültig waren, da nun diese Anschauungsweise fehlte, in eine andere Sprache müßten übertragen werden, um sie dem mitwirkenden Verstande zugänglich zu machen. »So wie heutigen Tages diese Dinge im Gespräch und Kurs sind, ist es nichts als ein Mantsch.« Es bestand zu Goethes Zett eine wissenschaftliche Sprache, die von ganz anderen Dingen zu handeln glaubte als von den Gegenständen des Glaubens; und eine religiöse, bei der vielleicht einige wenige etwas fühlten, fast niemand aber sich etwas denken konnte; die Übereinstimmung in diesen beiden Sprachen bemühte sich Goethe nachzuweisen.

Es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht, als ich erfuhr, daß Goethe dasselbe vorschwebte, was ich seit langer Zeit anzubahnen mir vorgenommen habe. Kann ich hoffen, verständlich zu machen, was Goethe so meisterhaft in großen Zügen entworfen hat und was doch nicht begriffen wurde? Die Schwierigkeit ist die, daß der Verstand stets eine systematische Darstellung verlangt, welche aber niemals da gegeben werden kann, wo es sich um Leben und Wahrheit handelt, der man nur anschauend, erfahrend, erlebend sich nähern kann.

Als ein Beispiel, was für ein Mantsch entstehen kann durch die Unklarheit der Vorstellungen über die höchsten Dinge, führe ich folgendes an. Gottfried Keller verlor nach seiner eigenen Angabe und Überzeugung unter dem Einflusse Feuerbachs, dessen Vorlesungen er besuchte, den Glauben an die Unsterblichkeit und hat, wie wohl allgemein bekannt ist, eine seiner anziehendsten Mädchengestalten mit diesem neugewonnenen Unglauben ausgestattet. Sehen wir näher zu, so bestand derselbe nur in der Einsicht, daß der Verstorbene, wie Keller selbst es einmal ausdrückt, sein Selbstbewußtsein nach dem Tode nicht wieder erwischt, und dies ist in der Tat auch die Frage, um die es sich eigentlich dreht, wenn Menschen über Unsterblichkeit streiten oder im Ungewissen sind. Nun aber ist in der Bibel niemals behauptet worden, der Mensch behalte im ewigen Leben das Selbstbewußtsein, wie denn unsere Bezeichnungen für verschiedene Bewußtseinsstufen dort überhaupt nicht üblich sind. Nur soviel sagt Christus, daß die Menschen in der Auferstehung weder freien noch sich freien lassen, sondern gleichwie die Engel Gottes im Himmel sind. Die Engel Gottes richten Botschaften Gottes an die Menschen aus, die wir Impulse nennen, unerklärliche Wirkungen, die wir empfangen. Abraham, Isaak und Jakob leben, weil sie fortwirken, und wie schon der Lebende nicht lebt, soweit er von sich weiß, sondern soweit er wirkt, lebt auch der Verstorbene fort in seiner fortdauernden Wirkung.

Gottfried Keller empfand den Verlust seines früheren Glaubens an die Unsterblichkeit auch durchaus nicht als seelische Verarmung, vielmehr behauptete er, seitdem mit größerer Inbrunst zu leben, ebenso wie wir uns auch Dortchen Schönfund nicht etwa als kühles, materielles Wesen ohne Ideale vorstellen. Im Grunde war mit Gottfried Keller das Gegenteil vorgegangen von dem, was er meinte: er war von kirchlichen, deistischen oder anderen zeitlichen Vorurteilen befreit und näherte sich derjenigen Auffassung des Himmlischen, die Christus und nach ihm andere große Genien gehabt haben. Das Selbstbewußtsein bezeichnet allerdings einen Höhepunkt des Bewußtseins innerhalb der Menschheit, nicht aber als dauernder Zustand, sondern als Schwungbrett, so möchte ich sagen, zu seinem Gegenteil, zum Hinausgehen über sich selbst und Einmünden in das Bewußtsein eines größeren Ganzen durch Liebe oder Begeisterung. Wir können uns von der Möglichkeit eines individuellen Daseins ohne Selbstbewußtsein eine Vorstellung machen, wenn wir an die Ekstase denken, an das völlige Sichselbstvergessen, welches von einigen Menschen vorübergehend schon im Leben erreicht wird, auf Augenblicke, und bis zu einem gewissen Grade jedem bekannt ist.

Wissen, Bewußtsein oder Sinn ist überall, nicht aber Selbstbewußtsein, das ist, was wir zu wenig wissen oder bedenken. Sinn oder Geist, denn das ist dasselbe, ist überall; daß er ist, wissen und erleben wir, daß er Fleisch wird, ist ein Mysterium, das wir nicht erklären, nur anbetend verehren können. Weil das Selbstbewußtsein dem Menschen vorbehalten ist, bildet er sich ein, daß nur er Sinn oder Bewußtsein habe, welches doch allverbreitet ist. Wir nennen es im Verhältnis zum Selbstbewußtsein das Unbewußte und könnten es, auf der anderen Seite des Selbstbewußtseins, auch das Überbewußte nennen. Das Selbstbewußtsein, das wir als etwas Positives empfinden, ist eine Hemmung für das All-Bewußtsein; durch die Beziehung auf einen Punkt wird die All-Beziehung unterbrochen.

Im »Verlorenen Lachen« läßt Gottfried Keller den Jukundus sich folgendermaßen über seine Religiosität äußern: »Ich glaube, der Sache nach habe ich wohl etwas wie Gottesfurcht, indem ich Schicksal und Leben gegenüber keine Frechheit zu äußern fähig bin. Ich glaube nicht verlangen zu können, daß es überall und selbstverständlich gutgehe, sondern fürchte, daß es hie und da schlimm ablaufen könne, und hoffe, daß es sich dann doch zum Bessern wende. Zugleich ist mir bei allem, was ich auch ungesehen und von andern ungewußt tue und denke, das Ganze der Welt gegenwärtig, das Gefühl, als ob zuletzt alle um alles wüßten und kein Mensch über eine wirkliche Verborgenheit seiner Gedanken und Handlungen verfügen oder seine Torheiten und Fehler nach Belieben totschweigen könnte. Das ist einem Teil von uns angeboren, dem anderen nicht, ganz abgesehen von allen Lehren der Religion. Ja, die stärksten Glaubenseiferer und Fanatiker haben gewöhnlich gar keine Gottesfurcht, sonst würden sie nicht so leben und handeln, wie sie wirklich tun. Wie nun dieses Wissen aller um alles möglich und beschaffen ist, weiß ich nicht; aber ich glaube, es handelt sich um eine ungeheure Republik des Universums, welche nach einem einzigen und ewigen Gesetze lebt und in welcher schließlich alles gemeinsam gewußt wird. Unsere heutigen kurzen Einblicke lassen eine solche Möglichkeit mehr ahnen als je; denn noch nie ist die innere Wahrheit des Wortes so fühlbar gewesen, das in diesem Buche hier steht: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.«

Bedeutsamerweise läßt Gottfried Keller die schlicht bibelgläubige Landfrau mit dieser tiefsinnigen Erklärung des Dichters einverstanden sein. Wir sehen hieraus und aus anderen Stellen, daß sein überkommener Kindergott ein deus ex machina war, der die Welt von außen bewegte, und daß er, als sich ihm allmählich der aus den Tiefen der Welt heraus die Welt schaffende und umhüllende ewige Vater entschleierte, zunächst glaubte, kein gläubiger Christ mehr zu sein, »der Sache nach« aber doch Gottesfurcht zu haben. So ähnlich ging es Goethe, wenn dieser auch klarer sah und entschiedener fühlte, und so ging und geht es unzähligen, daß sie sich gerade dann für Unchristen zu halten anfangen, wenn sie den wahren Sinn des Christentums zu ahnen beginnen. Was durchbrochen werden muß, sind die konfessionellen oder deistisch-wissenschaftlichen Irrtümer, die sich überall festgesetzt und die altheiligen Sinnbilder, die jedem gesunden Geiste von selbst aufgehen, verdunkelt haben.

Ich führe als ferneres Beispiel den Streit zwischen Idealisten und Materialisten an, ob alles von außen durch die Sinne in den Menschen hineinkomme oder ob ihm ein Gottesbewußtsein angeboren sei. Das letztere war die Meinung Goethes, wovon ich schon gesprochen habe. Weiß man nun, daß das Angeborenem des Gottesbewußtseins Trieb zur Gattungsbildung, zur Bildung eines höheren Ganzen bedeutet, so wird man wenigstens nicht ins Blaue hinein widersprechen. Wie schon gesagt, sind Tiere, Pflanzen, Sterne Individuen so gut wie wir, nur daß sie kein Selbstbewußtsein haben; wohl aber haben sie Gottesbewußtsein, nämlich das Bewußtsein des höheren Kreises, zu dem sie gehören. Das Bewußtsein eines jeweils höheren Ganzen ist angeborenes Gottesbewußtsein, welches uns zu immer höheren Kreisen und endlich zu dem allumfassenden Gott führt, der sich im Einzelnen offenbart. Wenn uns Menschen, Tiere, Pflanzen und Sterne den Eindruck der Heiligkeit machen, so ist es wegen ihres Gottesbewußtseins, demzufolge sie gehorsam dem höheren Kreise, in den sie hineingewachsen sind, dienen.

Willst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:

Was sie willenlos ist, sei du es wollend; das ist's.

Nur darf darunter nicht verstanden werden, als solle und könne unser Wollen die Unwillkürlichkeit des nicht selbstbewußten Geschöpfes ersetzen; das Unwillkürliche muß bleiben, aus dem der Trieb zum Ganzen hervorgeht, und das der bewußte Wille in sich aufzunehmen hat.

Noch eins greife ich heraus: es würde unseren Begriff vom Christentum in wünschenswerter Weise klären, wenn wir wissen, daß »ewiges Leben« soviel heißt wie »fortwirkendes Leben«. Im ewigen Leben sind wir nicht anderswo, sondern in der Welt wie jetzt, nur daß wir ihr nicht körperlich, sondern dynamisch, als Kraft, innewohnen.

Goethe kannte die Bibel zu gut, um nicht gewiß zu sein, daß der Irrtum nicht dort, sondern bei den Menschen sei; diese Kenntnis kommt immer mehr abhanden, noch mehr freilich das Verständnis. Ich glaube kaum, daß der beste und feinste Philosoph nicht einmal etwa so gesagt hat: Wir dürfen über der kindlichen Auffassung und Darstellung der damaligen Zeit (womit die Zeit der Christus, Paulus, Luther gemeint ist) die Größe ihrer Ideen nicht übersehen. Der moderne Mensch sieht auf diejenigen herab, die die Kraft der Anschauung des Ganzen hatten, welche ihm fehlt, und glaubt sich, mit seinem Stückwerk hantierend und weise darüber redend, über die erhaben, die von seinen Schnitzeln nichts wußten, weil sie das Ganze besaßen. Wenn wir von Kräften sprechen, wo jene von Göttern sprachen, sind wir deswegen nicht klüger; wir tun es, weil wir wesentlich selbstbewußt denkende Menschen sind und vom Gedanken ausgehen, während die Menschen früherer Zeit und die hervorragenden Menschen aller Zeit ganze Menschen sind, denen sich, weil sie sich ganz, körperlich, seelisch und geistig betätigen, auch die Welt in allen ihren Erscheinungen zum individuellen Ganzen rundet.

Wäre es nun nicht besser, als daß man in unklarer Weise bald Christus, bald Luther beschimpft und inzwischen aus persischen und chinesischen Dichtungen Weisheitskörner ausgräbt und sich an diesen delektiert, den Glanz der Wahrheit anzubeten, der von den Symbolen der Bibel ausstrahlt, und dieselbe Wahrheit in den Worten zu erkennen, die die großen Genien, die uns teuer sind, verkündet haben?

Schiller, Goethe geistesverwandt, erkannte das Bestreben seines Freundes »durch Vermeidung der trivialen Terminologie die Andacht Ihres Gegenstandes zu purifizieren und gleichsam wieder ehrlich zu machen«. Er machte diese Bemerkung in bezug auf Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele und fand, daß der Übergang von der Religion überhaupt zur christlichen durch die Erfahrung der Sünde meisterhaft gedacht sei. Es ist der Übergang von der Naivität des jungen, wesentlich unbewußten Menschen zur Verantwortlichkeit des selbstbewußt Gewordenen. »Ich finde in der christlichen Religion«, schreibt Schiller bei dieser Gelegenheit, »vertualiter die Anlage zum Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben scheinen mir bloß deswegen so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion.«

Ganz ebenso begründet Goethe bei Gelegenheit der Reformationsfeier »den Hauptbegriff des Luthertums«« in einem Brief an Zelter: »Dieser Grund nun beruht auf dem entschiedenen Gegensatz von Gesetz und Evangelium, sodann der Vermittelung solcher Extreme. Setzt man nun, um auf einen höheren Standpunkt zu gelangen, anstatt jener zwei Worte: Notwendigkeit und Freiheit, mit ihren Synonymen, mit ihrer Entfernung und Annäherung, so siehst du deutlich, daß in diesem Kreise alles enthalten ist, was den Menschen interessieren kann. Und so erblickt denn Luther in dem Alten und Neuen Testament das Symbol des großen, sich immer wiederholenden Weltwesens. Dort das Gesetz, das nach Liebe strebt, hier die Liebe, die gegen das Gesetz zurückstrebt und es erfüllt, nicht aber aus eigener Macht und Gewalt, sondern durch den Glauben, und nun hier durch den ausschließlichen Glauben an den allverkündigten und alles bewirkenden Messias. Aus diesem wenigen überzeugt man sich, wie das Luthertum mit dem Papsttum nie vereinigt werden kann, der reinen Vernunft aber nicht widerstrebt, sobald sie sich entschließt, die Bibel als Weltspiegel zu betrachten, welches ihr eigentlich nicht schwer fallen sollte.«

Darüber, was mit der Bibel als Weltspiegel gemeint ist, spricht sich Goethe anderwärts deutlich aus: »Jene große Verehrung, welche der Bibel von vielen Völkern und Geschlechtern gewidmet worden, verdankt sie ihrem inneren Werte. Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völker, weil sie die Geschichte eines Volkes zum Symbol aller übrigen aufstellt, die Geschichte desselben an die Entstehung der Welt anknüpft und durch eine Stufenreihe irdischer und geistiger Entwickelungen, notwendiger und zufälliger Ereignisse bis in die entferntesten Regionen der äußersten Ewigkeiten hinausführt … Dieses Werk verdiente gleich gegenwärtig wieder in seinen alten Rang einzutreten, nicht nur als allgemeines Buch, sondern als allgemeine Bibliothek der Völker zu gelten, und es würde gewiß, je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, immer mehr zum Teil als Fundament, zum Teil als Werkzeug der Erziehung, freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genützt werden können.«

Wenn Goethe die Geschichte eines Volkes als Sinnbild für die Geschichte aller Völker gelten läßt, nimmt er eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Leben derselben allerdings an. Ein jedes entsteht im Dunkel aus geringen Keimen, es entwickelt und bildet sich kämpfend, es gelangt aus dumpfer Unbewußtheit, unter Gesetzen sich beugend, zum Selbstbewußtsein, sein überhandnehmender Erhaltungswille führt es zu höherer Zivilisation, in der die Einfalt seine Sitten verdirbt, seine Propheten suchen es zu den Anfängen zurückzuführen, es widerstrebt und muß früher oder später durch gewaltsame Mittel verwandelt oder zerstört werden. Diesem Gesetze des Werdens, Blühens, Reifens und Vergehens sind die Völker und alles aus Natur und Geist Gewachsene unterstellt, wie denn Goethe auch die Kunst als ein Lebendiges, ein Ζῶον angesehen wissen will, »das einen unmerklichen Ursprung, ein langsames Wachstum, einen glänzenden Augenblick seiner Vollendung, eine stufenfällige Abnahme wie jedes andere organische Wesen, nur in mehreren Individuen, notwendig darstellen muß«. Innerhalb dieses Gesetzes ist den Völkern die Freiheit gewahrt, durch Personen, in die der Geist Gottes sich ergießt, den Gehalt ihres Daseins in unsterbliche Form zu fassen und als verheißendes Sternbild künftigen Geschlechtern und Völkern voranzuleuchten. Ja, an diesen himmlischen Früchten wirken alle mit, so wie im einzelnen Menschen nur durch die Mittätigkeit des gesamten Organismus die höchste Leistung entsteht, und in ihrem Samen gehen alle wieder auf.

Von der Ansicht Goethes aus über die Bibel als Weltspiegel begreift man leichter sein Wort, daß die christliche Religion eine »intentionierte politische Revolution« sei, die, verfehlt, nachher moralisch geworden sei. Wenn Religion diejenige Kraft ist, die die Einzelnen notwendig und freiwillig zu einem Ganzen verbindet in immer weiteren Kreisen bis ins Unendliche und wiederum das Ganze mit dem Einzelnen, um durch ihn vertreten zu sein, und wenn Politik ein Ausdruck für die Beziehungen der Völker untereinander und innerhalb eines jedem ist, so ist in der Tat kein Unterschied zwischen Religion und Politik. Nur daß wir unter Politik jetzt einseitig die bewußte Führung dieser Beziehungen verstehen, woraus das Befremdende der Zusammenstellung zu erklären ist.


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