Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Urkirche und die großen Kirchenväter waren weit entfernt, die Natur oder das Natürliche als das Böse zu betrachten, was der Kirche in ihrer späteren Entwickelung, wenigstens gewissen Richtungen, allerdings vorgeworfen werden kann. Das Unrecht, welches aus Übermaß an Kraft, aus Leidenschaft begangen wird, betrachteten die Kirchenväter nicht als Böses, vielmehr betonten sie, daß die Kraft an und für sich, als Natur, stets gut sei und nur dadurch böse werde, daß sie sich in einer falschen Richtung bewege. Es ist die einseitige Richtung auf sich selbst. Das Böse, was sich naiv offenbart, ist, weil es nicht in der Gesinnung, im Bewußtsein liegt, eigentlich gar nicht da. Die Sünde müsse erscheinen, lehrte der heilige Augustinus, sonst könne der Mensch die Wiedergeburt nicht erfahren. Das eigentlich Böse dagegen erscheint nicht, es hat gar keine Natur und keine Kraft, sondern sein Wesen ist grade das, sich auf sich selbst zurückzuziehen. »Das Böse«, so sagt Augustinus, »ist keine Natur, sondern wider die Natur. Auch die verderbten Naturen sind nur insofern böse, als sie verderbt sind, insofern sie aber Natur sind, sind sie gut. Darum ist auch der Anfang und die Natur des Teufels, welche von Gott ist, gut. Gänzlich kann das Gute nicht vernichtet werden, weil dann die Natur selbst vernichtet werden würde, welche eben gut ist. Das Böse ist darum gar nicht, wenn nicht das Gute ist, an dem es vorkommen kann.«
»Es gibt keine wirkende Ursache des bösen Willens,« heißt es weiter, »sondern nur eine ermangelnde; denn der böse Wille ist kein Tun, sondern eine Ohnmacht, ein Unterlassen. Die Ursachen solcher Ohnmacht, die nicht wirkend, sondern ermangelnd ist, auffinden wollen, heißt soviel als die Finsternis sehen wollen.«
Ferner: »Das Gute entspringt einer größeren Energie des Willens, das Böse einer geringeren Betätigung desselben, einem Ermatten. Nicht eine erhöhte und gesteigerte, sondern eine verminderte und geschwächte Willenskraft gibt sich in der Sünde kund.« Ja, die Kraft, womit das Böse das Gute bekämpft, ist, nach einem anderen Kirchenvater, selbst gut.
In allen Äußerungen der Kirchenväter sehen wir, daß damals noch das Wesen Gottes als schöpferische Tätigkeit gefaßt wurde, an welcher die Menschen, als ein Teil dieser Tätigkeit, mitwirken. Jedoch wird die göttliche Tätigkeit als rhythmisch begriffen, so daß der Tätigkeit ein Ruhen folgt, welches stets wieder überwunden werden muß. Das Sein ist in der schöpferischen Tätigkeit, welche von innen nach außen, vom Ich auf ein Nicht-Ich gerichtet ist, das Nichtsein in der Beziehung auf sich selbst, und dies Nichtsein ist ein Ermatten, ein Fallen, eine Schwere.
Nun wissen wir aus der Bibel, daß Gott am siebenten Tage in der Betrachtung seiner Werke ruhte. Nicht die Ruhe ist also Sünde, welche in irgendeiner Beziehung zu einem Nicht-Ich steht. Das Empfangen einer Wirkung, das Dulden, gehört so notwendig zur Bewegung wie das Einatmen zum Ausatmen, es ist ein Schweben, nicht ein Fallen. Das Böse liegt immer in der Übertreibung, in der Maßlosigkeit. Und doch ist auch die Maßlosigkeit noch nicht das Böse, da sie zu neuen Offenbarungen führt, die ein neues Maß zwischen tieferen Spannungen setzt, sie setzt eine Kraft voraus. Das lebendige Ruhen, die Empfänglichkeit, das Leiden ist eine Kraft; böse ist die absolute Ruhe, das absolute Nichts, das Insichselbstversunkensein oder der auf sich selbst gerichtete Wille, der geistige Tod. Der Teufel geht in den Tod über.
Man darf das Nichtsein oder die Selbstbeziehung in diesem Sinne nicht mit dem verwechseln, was wir gewöhnlich Egoismus nennen. Der Wille ist die spezifisch menschliche Kraft; Augustinus nennt den Willen Kern und Mittelpunkt der Persönlichkeit, ja man könne sagen, der Mensch sei nichts anderes als Wille. Durch den Fall nun werde der Wille, wie Augustinus es ausdrückt, zu sich selbst geneigt, er werde unfrei, durch Satan gebunden.
Das heißt, der Mensch ist von Natur egoistisch, er muß sein eigenes Glück wollen, bis sein Wille durch die Liebe von ihm selbst auf Gott und den Nächsten gerichtet wird. Solange der Wille sich naiv egoistisch äußert, begeht er höchstens verzeihliche Sünden gegen das von Gott aufgestellte Gesetz, er wird satanisch, wenn er bewußt wird und aus Stolz, um keine Strafe, keine Gegenwirkung leiden zu müssen, sich nicht mehr offen äußert. Er wird dann Satan in seiner Majestät, das sich selbst verzehrende Feuer im Menschen.
Man muß festhalten, daß der Anfang und die Natur des Teufels, also des Einzelwillens, von Gott, gut ist. Das Böse ist in der Dreieinigkeit eingeschlossen und bleibt, solange die Dreieinigkeit gebunden ist, in der ganzen Persönlichkeit, gut. Ich möchte dies durch folgendes Beispiel erläutern. In die Bilder der Außenwelt, die wir vermittels des Auges haben, sind die verkehrten Bilder eingeschlossen, die dadurch verkehrt entstehen, daß das Ausgedehnte auf einen Punkt bezogen wird. Wir werden uns aber der verkehrten Bilder nicht bewußt. Ebenso haben wir im Gehirn, von dem das Auge, Werkzeug des Geistes, ein Abbild ist, die verkehrten Vorstellungen, welche aber unwillkürlich richtiggestellt werden. Das Falsche, das Irrige, das Verkehrte ist in unsere Vorstellungswelt eingeschlossen, ebenso das Böse in unsere Willenswelt, und muß fortwährend überwunden werden. Würden wir die verkehrten Bilder aus unseren Augen herausnehmen, so entstünden gar keine Bilder, denn das Verkehrte geht dem Richtigen voran. »Nach der geschichtlichen Ordnung«, so sagt Augustinus, »wird immer zuerst ein Bürger der irdischen und hierauf ein Bürger der himmlischen Stadt geboren. Der letztere wird als ein Fremdling in der Welt geboren … zuerst das Gefäß der Schmach und dann das der Ehre, weil in jedem Menschen überhaupt zuerst das, was verworfen wird, nämlich das Natürliche, vorhergeht, und darum auch in der Geschichte, die wie das Leben eines einzigen Menschen betrachtet werden kann, mit einem solchen Anfang begonnen werden muß. Darin müssen wir aber nicht bleiben, das Gute hat vielmehr darauf zu folgen. Demzufolge wird zwar nicht jeder böse Mensch ein guter, keiner aber wird gut, welcher nicht vorher böse war.« Auf der tiefsten Kenntnis der menschlich-göttlichen Dinge beruht die volkstümliche Auffassung, daß das Böse, auch in Beziehung auf den Körper, sich äußern muß, nicht nach innen schlagen darf, ja daß das Böse, welches sich äußert, eigentlich als gut zu betrachten ist.
Darin, daß Gott das A und das O, das Ganze und der Einzelne ist, der das Ganze vertritt, darin, daß Gott Heiliger Geist ewig wieder verwandelt, was Gott Vater hat wachsen lassen, und daß der Sohn, von Satan verführt, weil er Ebenbild Gottes ist, Gott selbst sein und ewig dauern will, darin daß Gott ein Ruhender und zugleich ein Schaffender, ein Vergangener und zugleich ein Ewig-Künftiger, daß er vollkommen ist und doch die Möglichkeit des Bösen in sich schließt, liegt ein innerer Widerspruch, der niemals aufgehoben werden kann und der gerade das Unvergleichliche und über alles menschliche Maß Erhabene im Wesen Gottes ausmacht. »Gott ist urvollkommen«, so lehrt der Kirchenvater Dionysius, »alle Gegensätze in sich tragend. Weil er den einheimischen Krieg des Alls zur Vereinung führt, ist er der Friede, welchem die urgeteilte Menge zustrebt, das Band der Welt. Die Vereinigung aller Dinge in ihm zieht aber nicht die Vernichtung ihrer Eigentümlichkeit nach sich, denn Gott gewährt ihnen als Friede die Existenz.« Überall finden wir eine tiefsinnige und großherzige Auffassung vom Wesen der göttlichen Kraft, die sich in der Natur und im Wort, zugleich durch den Menschen, gegen ihn und über ihm offenbart. Weit davon entfernt war die alte Kirche, ein System lehren zu wollen oder sich einzubilden, Gott könne durch Dogmen dem Menschen nähergebracht werden; sie predigte vielmehr die hohen Symbole der Bibel und erläuterte sie durch Erfahrung aus Natur und Geschichte.
Indessen die Schwäche des Menschen brachte es mit sich, daß sich fortwährend die Angriffe derer mehrten, welche die Phantasie nicht hatten, durch welche allein Gott erkannt werden kann, und noch viel weniger die Kraft, sich Gott durch ihr Tun anzunähern. Der Verstand, gut als mitwirkend, in die Phantasie eingeschlossen, erweist sich als unzulänglich, sowie er für sich allein arbeiten will; denn da er vom Ich ausgeht und zum Ich zurückführt, selbstbewußt ist, dreht er sich immer im Kreise. Von der Wirkung auf die Ursache schließend, glaubt er zu einer letzten Ursache gelangen zu können, gelangt aber immer nur zu Ursachen, die wiederum Wirkungen sind. Da es, wie Augustinus sagt, nur freiwillige und darum geistige Ursachen der Dinge gibt, nämlich Gott und die vernünftigen Geister (der moderne Mensch würde sagen, da sie aus dem Unbewußten, dem Unwillkürlichen kommen), so ist es unmöglich, daß der Verstand die Ursachen begreift, der überhaupt als solcher erst nach dem Auseinanderfallen der Dreieinigkeit frei wird von der freitätigen, schaffenden persönlichen Kraft also gar nichts weiß. Der Verstand, das heißt das bewußte Denken des Menschen kann nur nachahmen und übertreiben, rechnen, trennen und zusammensetzen, schaffen kann er nicht.
Die Einwände des Verstandes, welche gegen die junge Kirche erhoben wurden, hatten anfänglich das Gute, daß große Männer sich des Sinnes ihres Glaubens deutlicher bewußt wurden und ihn in Worte faßten. Sie gingen dabei mit genialer Behutsamkeit vor, indem sie möglichst nur die Einwände zurückzuweisen, aber eine Fassung zu vermeiden suchten, durch welche die lebendige Wahrheit des Christentums begrifflich eingeschränkt würde. Die Symbole unseres Glaubens sind die Symbole des ewig fließenden Lebens; allein der Verstand liegt immer auf der Lauer, sie mit Schlingen in »ein System zu verstricken, wie die menschliche Trägheit nach Erstarrung des beweglichen Lebens trachtet. Auch innerhalb der Kirche trat allmählich eine Ermattung und Erstarrung ein. Sie verlor das Bewußtsein davon, daß die Welt durch den Menschen fortwährend der schaffenden Kraft Gottes angenähert und verbunden werden muß, wenn sie nicht durch eigene Schwere ins Nichts stürzen soll; sie vergaß, daß Gott sich in der Welt offenbart, daß er ihr aber nicht räumlich, sondern dynamisch, als Kraft, innewohnt.
Die ketzerischen Angriffe gegen die Kirche gingen hauptsächlich von Frankreich und England aus, am wenigsten von Deutschland, dem überwiegend von unvermischten Germanen bewohnten Lande, die, noch jung, wesentlich von schaffender Kraft erfüllt, sich mit Verstandeskonstruktionen und Zweifeln noch nicht abgaben, sondern die Symbole des Glaubens gläubig erfaßten. Die Angriffe nun waren berechtigt, insofern sie der Herrschsucht und dem Dogmatismus der Kirche galten; aber sie waren falsch, weil sie vom Verstande ausgingen und die Kräfte, die einst zur Bildung der Kirche geführt hatten, nicht kannten und werteten. Sie zogen deshalb auch den kürzeren der Kirche gegenüber und haben im allgemeinen nur das unerbauliche Schauspiel eines Kampfes zwischen Begriffsspielerei und hochmütiger Beschränktheit auf beiden Seiten hinterlassen.
Der junge Abälard scheint einem so modern, als wäre man ihm einmal in einer Großstadt auf der Straße begegnet: sehr begabt, ebenso eitel, zuversichtlich, in bezug auf seine Größe nichts für unmöglich haltend, liebenswürdig, von leidenschaftlicher Sinnlichkeit und glänzendem Verstande, zur Zeit seiner Liebesblüte auch als Dichter glücklich.
Was er der Autorität der Kirche entgegenstellte, hat viel Bestechendes, wie ja überhaupt die Sprache des Verstandes leichter zu verstehen ist, als die des Glaubens. Es handelte sich zunächst um eine grundsätzliche Feststellung der Beziehung von Glauben und Wissen oder Glauben und Vernunft. Daß es eine natürliche Vernunft und dementsprechend natürliche Religion gibt, geht auch aus der Bibel hervor. Wenn es nun Vernunft und Religion aus Natur gibt, welche sich längst vor dem Erscheinen Christi zeigte, wozu bedurfte es dann überhaupt Christi und einer Offenbarung? Wäre die Vernunft noch Vernunft, wenn sie der Offenbarung widerspräche? Wenn ihr eine Grenze gesetzt wäre? Wirkt sie nicht in jedem Menschen?
Es wurde von seiten Abälards wie von seiten der Kirche der übliche Fehler gemacht, daß sie nur ein Entweder-Oder kannten, während die Wahrheit paradox ist und die Gegensätze umfaßt.
Die Kirchenväter hatten gesagt, die Wunder geschähen nicht wider die Natur, sondern wider die den Menschen bekannte Natur, es seien also Geheimnisse. So sagt auch Goethe, ohne daß ihm vermutlich diese Bemerkung des heiligen Augustinus bekannt war: »Geheimnisse sind noch keine Wunder.« Die Frage spitzte sich darauf zu, wer schließlich darüber zu entscheiden habe, was echte Offenbarung sei? Die Entscheidung wollte Abälard nicht der Kirche zugestehen, welche sich allein das Recht anmaßte, die Bibel auszulegen, sondern der Vernunft, und zwar natürlich seiner eigenen, welche er gewissermaßen als Gott erklärte. Wenn er nun dazu kam, Vernunft und Vernunftglauben zu unterscheiden, eine cognitio intuitiva und den Verstand, so erinnert er an Luther, nur daß Luther von der Intuition, Abälard vom Verstande ausging, was freilich ein wesentlicher Unterschied ist. Wesentlich ähnlich in der Mischung von Verstand und Intuition scheinen Abälard und Nietzsche. An Nietzsche gemahnt es auch, wie Abälard seine eigenen Ansichten mißfallen, wenn er sie aus dem Munde seiner Nachbeter hört. Da seine Meinung allgemeine Geltung findet, scheint es ihm nicht mehr seine Meinung zu sein, denn er wollte ja gerade von der allgemein geltenden sich absondern.
Abälard selbst war geistvoll genug, um zu fühlen, daß seine Lehre nicht unanfechtbar war, daß ihr etwas mangelte; nur fiel es ihm nicht ein, daß der Irrtum darin bestand, aus dem Glauben eine Angelegenheit des Verstandes, des Fürwahrhaltens zu machen. Er hatte recht zu behaupten, daß Christus nichts gelehrt hatte, was nicht irgendwann einmal schon gesagt worden war; aber er begriff nicht, daß Christus erschienen war als eine neue Ergießung göttlicher Kraft, durch welche die erstarrte Welt in Gluten verjüngt wurde.
Den Mut und die Hingabe des Märtyrers hatten Abälard und seinesgleichen nicht; sie wirkten anregend, aber nicht als schaffende Kraft. Die damalige Kirche hatte sich schon als etwas Fertiges, Geschlossenes, Herrschendes festgesetzt und war vom lebendigen Gott verlassen. Die Wunder, welche sie tat, oder von denen sie redete, beruhten auf Betrug oder Selbsttäuschung; sobald aber dem Wunder der Verstand entgegengesetzt wurde, mußte das Gemüt des naiven Menschen sich doch wieder zur Kirche hingezogen fühlen, welche den geheiligten Namen wenigstens aufbewahrte. Die Symbole der Kirche waren ausgeleert, man unterschied schon ihr Erscheinen und Bedeuten und wußte nicht einmal recht, was sie bedeuten sollten; aber es waren doch Symbole, die einmal lebendig gewesen waren, die Philosophen hingegen sprachen in Begriffen, in Allgemeinheiten, die vom Leben abgelöst waren und nur ein Schattendasein hatten. Die Scholastik hob sich schließlich selbst auf, indem die Nominalisten erklärten, daß das Allgemeine keine Existenz habe, sondern daß nur das Einzelne wirklich sei. Auch hier konnten wieder nur Mißverständnisse entstehen, da man an der paradoxen Wahrheit vorbeiging, daß nur das Einzelne Existenz hat, das zum Ganzen strebt, und nur das Allgemeine, das sich durch Einzelnes offenbart.
Indessen rollte das Begriffswesen doch weiter und breitete sich sogar siegreich aus, was nicht befremden kann, wenn man bedenkt, daß mit dem Erscheinen Christi der Keil des Selbstbewußtseins die Dreieinigkeit gespalten hat, das getrennte Leben der Kräfte die Regel und ihre Vereinigung ein schönes Wunder ist, das immer seltener wird, je weiter wir zeitlich von Christus entfernt sind.