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»Mein Neffe,« sagte er, »laß dich das fortdauernde Mißtrauen nicht wundern, das ich bisher gegen dich beobachtet habe. Mißtrauen ist bei mir eine Notwendigkeit, eine Gewohnheit. Es ist, so zu sagen, mein Talisman, meine Religion, die mich von Gift und Dolch befreit, und damit du erkennst, wie sehr ich Recht habe, dem Nächsten zu mißtrauen, will ich dir das unwürdige Ende jenes tapfern Brandolaccio erzählen. Du weißt sicherlich, wie er durch Gevatterschaft und Gastfreundschaft am Tisch eines seiner leiblichen Vettern verraten wurde. Ich will dir nun diesen Ort zeigen, an dem wir uns eben befinden, und du solltest ihn wol vom Hörensagen kennen; denn der bloße Name des Turms de' Pinzacchi erinnert ja jeden an den Verrat, der am Pfarrer Paganello von seinem Gevatter Cristofano Appulo und seinem Blutsverwandten Morazzano verübt ward. Du mußt die Umstände dieser Begebenheit gehört haben, aber weder die Art noch die geheimen Ursachen wirst du kennen.«
Nun erzählte er mir, wie der Pfarrer im Scharmützel gegen die genuesischen Banden die ganze Terra di Comune an der Spitze von fünfhundert Bewaffneten durchzogen habe, wie der Governatore Grimaldi, da er ihm nicht gewachsen war, ihm Verzeihung antragen ließ, und wie er, überzeugt, daß Paganello diesem Anerbieten mißtrauen werde, heimlich Vincenzo da Chiatra, den Erzfeind jenes, vermocht habe, ihm die Wahrheit zu schreiben, d. h. ihm brieflich den Verrat, welchen er, Grimaldi, unter dem Anerbieten des Friedens verbarg, zu enthüllen. Auf diese Weise habe der Priester, viel eher dem Vorschlag Grimaldi's als der Mitteilung seines Todfeindes Glauben schenkend, sich eingebildet, daß dieser aus Haß seine Versöhnung mit dem Governatore hintertreiben wolle; so traute er eher dem Genuesen als dem Corsen, und wurde von beiden verraten.
»Ich war,« fügte Galvano hinzu, »zur Vendetta in Novale zurückgeblieben, mit etwa zehn Parrocchianen, als Paganello hier mit Appulo, mit Morazzano und mit Guido von Pietrasanta Zwiesprach hielt, und ich erinnere mich, daß die Glocke der Pfarrkirche den drei Meuchelmördern das Zeichen des Verrates gab. Auf das Geschrei der Angreifer und des Verwundeten eilte ich mit meinen Bewaffneten herbei, und da ich von diesem hörte, daß Morazzano sich meiner Verwandtschaft und meines Namens bedient hatte, um die Hinterlist auszuführen, stürzte ich voll Wut auf die Verräter. Es schien mir die Zeit nicht kurz genug, mein Blut und meinen Namen von jenem Flecken der Schande rein zu waschen, und ich war so glücklich, an eben diesem Ort mit dieser Lanze den Verräter meines Vetters zu durchstoßen.«
Diese Erzählung erregte mir Furcht und Grauen; aber weil ich damals die wahren Frevel des Paganello nicht kannte, empfand ich neben dem Schrecken ein gewisses Gefühl von Erbarmen und Liebe zu ihm und zu meinem Ohm. Mir gefiel vor allem an Galvano jene Empörung gegen den Verrat, und daß er Ehre und Freundschaft dem Leben und der Verwandtenpflicht vorzog.
Wir waren mitten in diesen Geschichten, als der Bandit die Glocke in Novale anschlagen hörte und plötzlich von dem Ort, wo er saß, auf die Füße sprang. Er ergriff seinen Sansone, und den Flintenlauf hierhin und dorthin wendend, spürte er rings in das Dickicht hinein. »Im Buschwald,« so sagte er, »darf man nicht einmal den Glocken trauen; ich weiß aus vielen Fällen, daß Glocken oft zu den Häschern reden; doch nein, hier ist nichts zu fürchten; es ist die Glocke des De Profundis.«
Er legte die Muskete auf die Erde, nachdem er sie bereits schußbereit gemacht hatte, und seine Eisenhaube vom Kopf nehmend ging er von mir fort, über einem kleinen Gemäuer zu beten, und nachdem er auf den Knieen einige Gebete gemurmelt hatte, ging er, sie über einem Gebüsch von Brombeeren und Nesseln zu wiederholen.
»Unter jener Mauer,« sagte er mir hierauf, »liegt Paganello begraben, und unter jenen Nesseln einer seiner Mörder, Simone von Arezzo, welcher den Seinigen ganz zuletzt zu Hülfe kam und der einzige war, der als guter Soldat gefochten. Ich habe für Freund und für Feind gebetet, denn ich lebe mit den Todten gern in Frieden. In jenem Kampf trug ich nicht einmal eine Schramme davon, und hier leistete ich dem Pfarrer, nachdem ich ihn gerächt hatte, die Dienste des Priesters, der Schildwache und des Chirurgen, und endlich des Todtengräbers. Ich gab ihm ein verborgenes Grab, wie du siehst, sonder Namen und Kreuz. Was mich damals am meisten kränkte, war dies, daß mein Gefährte bereits verschieden war, als ich kaum hundert Schritte von hier die Leiche Morazzano's fand. Der Schurke war in aller Stille sterben gegangen, den Hügel hinunter, unter jene Steineiche. – Armer Paganello! ihm ward volle Rache, aber er hatte nicht den Trost, sie vollführt zu sehen.«
Als Galvano mich bei diesen Worten schaudern sah, fuhr er fort: »Freilich, das sind schlimme Dinge; aber wundere dich nicht, daß unter so vielen Feinden, die er hatte, gerade ich ihn tödten mußte. Ich hätte nicht ohne Schimpf leiden dürfen, daß ein Anderer die Hände in mein Blut tauchte; und wenn ein Anderer als ich meinen Vetter tödtete, so fiel mir die traurige Pflicht zu, ihn zu rächen; du weißt, so will es die Sitte des Landes. – Es war sein Geschick: er sollte ungerächt sterben.«
Welchen Eindruck auf mein Gemüt jene Todtengebete, jene Gespräche machten, das läßt sich eher denken als sagen. Ein solch abscheuliches und wahrhaft gottloses Gemisch von Mitleid, Religion und Barbarei erschien mir zuerst unerklärlich, besonders an einem so verständigen Manne, als Galvano war; aber bald kehrte ich mit meinen Gedanken zu dem schauervollen Schauspiel zurück, und ich bedachte, wie ein Uebelthäter auf der Flucht schwerlich wieder ein guter Mensch werden könne, ohne sich tausend Gefahren auszusetzen. – Dennoch sagte ich zu mir selbst: der Gedanke an Gott ist der einzige Trost, der einem Menschen übrig bleibt, welcher von seiner Familie getrennt, als Flüchtling und im Bann der Gesellschaft lebt. Und schon fühlte ich die Wahrheit in mir selber; denn noch niemals zuvor hatte ich so viel an Gott und an das künftige Leben gedacht, als an diesem Ort und in diesem Augenblicke, das heißt nahe an jenen beiden Gräbern, im Anblick meines Heimatdorfes und im Begriffe, mich binnen wenig Stunden für immer von der menschlichen Gesellschaft und von aller Tröstung und Sicherheit des bürgerlichen Lebens loszureißen.
Ich eilte, diesen Ort trauriger Erinnerungen zu verlassen; ich folgte der Richtung des Hundes, welcher auf einen Wink seines Herrn gegen den Schlund von Felce dahin sprang. Je mehr ich mich von meinem Dorf entfernte, je tiefer ich mich in die Schluchten und dicht bewachsenen Gründe verwickelte, von denen das Tal finster ist, desto lauter fühlte ich mein Herz schlagen und ein nie empfundener Schauder durchbebte mich. Das Rauschen des Gezweigs, das Schreien und Flügelschlagen der Vögel jagte mich bald auf, bald hemmte es mir den Fuß. Der Schatten der windbewegten Aeste, das leiseste Knurren des Hundes oder sein Stillestehen, selbst die vom Feuer geschwärzten Stämme der Korkeichen, die bekappten Pfäle auf den Feldern, der ferne Rauch der Kohlenmeiler und Capannen, der Pfiff der Hirten in den Bergen erweckten mir Angst und Gewissensbisse. Ich fürchtete meinen Begleiter, ich fürchtete mich vor mir selber; denn schrecklich war in mir der Gedanke an das versprochene Verbrechen, und entsetzlich wieder die Reue selbst, sei es aus Haß, den ich noch heimlich gegen meinen Feind nährte, sei es aus Furcht, meinen Erzfeind in meinem eigenen Begleiter zu finden.
Ungefähr eine Meile jenseits des Schlunds von Felce hielten wir an. Ich sah, daß Galvano dort über Nacht bleiben wollte, und ich suchte ein Lager, wo ich mich ruhig bergen dürfte. Ich dachte nicht mehr daran, daß ich Gigante antreffen sollte, und während des Gesprächs mit meinem Gefährten hatte ich jede Erinnerung an ihn vermieden. Ich hielt mich sogar zurück, Galvano zu andern Vertraulichkeiten aufzufordern, und wahrlich, jedes neue Geheimniß, das er mir enthüllte, lastete auf meiner Seele; es schien mir wie eine neue Fessel, die mich an ihn band. Aber er sagte mir, daß er mir ein letztes Geheimniß offenbaren müsse, und indem er mich an sein Versprechen erinnerte, mir hier Gigante's Bekanntschaft zu verschaffen, begann er von ihm zu reden. Und wer kann mein Erstaunen fassen, als ich hörte, daß jener berühmte Hauptbandit, welcher schon seit so langer Zeit Corsica erschreckte, im Buschwald von einem Pfeil verwundet worden, ja daß er schon vor zehn Monaten gestorben war?
Galvano entschuldigte sich, daß er mir das bisher verschwiegen hatte: »denn es ist, so sagte er, ein Geheimniß, welches allen, selbst dem Bogenschützen, der ihn traf, unbekannt blieb.«
Bei diesen Worten stand ich zwischen Furcht und Schrecken geteilt. »Weißt du es gewiß,« fragte ich hierauf, »daß Gigante todt ist? In der That sagte das Gerücht, er sei krank; aber man hielt es für eine List, und sicherlich glauben ihn heute im Dorf alle am Leben, und daß er noch lebt und das Regiment führt, das zeigen wol seine Feinde, die noch immer im Hause sich verrammelt halten, und noch mehr seine Freunde, welche frank und frei auf den Plätzen umherschwärmen, befehlen, Steuern auflegen und den Behörden Gesetze vorschreiben. Also, entweder starb Gigante in diesen zwei Wochen, oder er lebt noch heute.«
»Du begreifst wol,« antwortete Galvano, »daß ich dir für einen solchen Mann keinen Todtenschein vom Pfarrer aufweisen kann; aber ich kann dir versichern, daß er sich diesmal nicht verstellt. Er ist wirklich todt.« Und nun zeigte er mir in einem Dorngebüsch den Ort, wo, wie er sagte, die Leiche sich hineingekauert habe, einen Brunnen, Serpajo genannt, trocken, mit halb zerbröckelter Umfassungsmauer, und so tief, daß er selbst den Geruch verbarg.
Trotz dieser Erklärungen Galvano's hatte ich über Tintinnajo's Tod meine begründeten Zweifel. Ich war eben aus dem Dorf gekommen, und wußte, daß man die Verwandten des Banditen beschuldigt hatte, ihm in diesen verflossenen Monaten ein Asyl gegeben zu haben, daß man sie sogar thatsächlicher Mitwirkung bei einer seiner neuesten Frevelthaten angeklagt hatte. »Eben deswegen,« fügte ich hinzu, »sind seine Vettern noch jetzt im Kerker. Sollten seine eigenen Verwandten nach so langer Zeit seinen Tod nicht wissen? und wenn sie ihn wissen, sollten sie das Gefängniß erleiden wollen, um das Ansehen zu bewahren, welches ihnen der verwandte Bandit verleiht?«
Diese zwei Mutmaßungen schienen mir gleich unmöglich, und Galvano wußte nichts oder wollte mir nichts erklären. Aber wol wiederholte er mir, daß Gigante weder Uebles noch Gutes mehr verüben könne. Er sagte mir hierauf, daß seit dem Tode Brandolaccio's, und ehe ich sein Genosse geworden, Gigante's Name sein Geleit und sein Schirm, und das Geheimniß von seinem Tode sechs Monate lang seine einzige Sicherheitswache gewesen sei. »Und binnen zwei Tagen wird es auch deine Sicherheitswache sein,« fügte er hinzu und legte den Finger an den Mund, zum Zeichen, daß er mir Stillschweigen anempfehle.
Ich wollte dieses traurige Gespräch abschneiden; ich wandte mich von Galvano, um in einer nahen Grotte mich zu bergen und, wie ich sagte, mich vor dem feuchten und kalten Winde zu schützen, der vom Bergschlund herwehte; aber er verbot es mir. Er sagte mir, daß der Bandit in seiner eigenen Pieve unter offenem Himmel schlafen müsse, daß er nie in eine Höle kriechen dürfe, außer zur Zeit des Sturms und des Schneefalls. Einzig meinen Bogen sollte ich in die Grotte tragen, damit, so sagte er, die Sehne nicht von der Nachtkälte zerspringe. »Und gib Acht, dir die Kaputze fest überzuziehen, daß du nicht einen Katarr davon trägst. Die Jahreszeit ist gut und diese Luft hier sehr gesund, aber ein wenig rheumatisch; und der geringste Husten, der dich befiele, würde uns verderblich sein, zumal am morgenden Tage.«
Also wickelte ich mich in meinen Mantel, und erstarrt vom Hunger, von der Angst und der Kälte, legte ich mich auf die nackte Erde nieder. Ich gab mir Mühe, mich schlafend zu stellen, aber ich dachte daran, wie die Thiere, welche vom Menschen am meisten verfolgt sind, ruhiger und sicherer schliefen, als wir. Die düstern Begebenheiten, die in dieser Gegend vorgefallen waren, und die Unthat, welche wir auf morgen festgesetzt hatten, stellten sich abwechselnd mit allen ihren schrecklichen Folgen vor meinen Geist hin. Kurz zuvor hatte mich die Nachricht vom gewaltsamen Tode jenes fürchterlichen Banditen in etwas aufgerichtet, aber jetzt jagte mir eben dieser Todesfall, und der Gedanke, daß auch ich selber die Partei und den Namen der Settejàcari erwählen solle, einen doppelten Schrecken ein. Ich dachte an jenen Brandolaccio, dessen Name für mich in meiner Kindheit ein Wort des Entsetzens und Abscheus gewesen war; und doch hatte ich ihn nur eben zum ersten mal mit Ruhm von meinem Begleiter aussprechen hören! Ich hatte in meiner Kindheit, als ich mit andern Corsen in der Romagna war, von den wilden und fürchterlichen Thaten und Reden jenes Mannes erzählen hören; ich erinnerte mich, wie er in einem Alter von fünfundzwanzig Jahren sich rühmte, genug gelebt zu haben, weil er alle seine Feinde überlebt habe; ich erinnerte mich, wie ich ohne Betrübniß die Nachricht von seinem Tode vernommen, und wie ich dieselbe Teilnahmlosigkeit, um nicht zu sagen Freude, in den Zügen meiner Genossen gesehen hatte. Ich selbst hatte bei jener Gelegenheit die Fremden mein Vaterland sogar verhöhnen hören, und ich dachte bei mir: du sollst ein elendes Leben führen, schlimmer als das des Wildes, um verhöhnt zu sterben, um die eigene Familie und das eigene Vaterland mit Schmach zu beladen!
In jener tiefen Stille, in jener Einsamkeit ward der Gedanke an die Gegenwart Gottes größer und größer in meinem Herzen: er umfaßte und unterwarf alle andern Mächte meiner Seele. Während dieser unfreiwilligen und heftigen Betrachtungen erweckte mir nicht allein die Vorstellung der zu begehenden Unthat, sondern die Genossenschaft des Banditen selber Gewissensbisse und sie schien mir ein fortgesetztes Verbrechen.
In solchen Gedanken unterbrach mich Galvano, welcher, in seine Kaputze gewickelt, eben an meiner Seite sich niederlegte. Nach der Weise der Flüchtlinge kreuzte er seine Beine mit den meinen und nahm die beiden Zipfel meines Mantels in die Hand, und hierauf schien er mir einzuschlafen. Ich wußte in der That nicht, ob er wie ich sich schlafend stellte, oder ob sein Schlaf nur leicht und unruhig war; aber bei der geringsten Bewegung, die ich mit dem Fuß oder mit der Seite machte, bei jedem seufzenden Odemzug fühlte ich ihn zusammenfahren und hörte ihn dann murren, oder gleichsam trocken husten, als murrte er, und diesem Ton antwortete das Winseln und die Bewegung des Hundes, welcher sich uns zu Füßen hingekauert hatte.
Furchtbar, schrecklich war für mich jene durchwachte Nacht; ich fühlte alle Mühsal, die ich während dieser acht Tage an Leib und Seele erduldet hatte, und indem ich mir die erste Rede zurück rief, welche Galvano selbst über dem Berge von S. Alessio mir gehalten hatte, sagte ich zu mir: »Wol! ich fühle noch nicht das Gewicht weder des privaten, noch des öffentlichen Hasses; ich fühle in meinem Herzen noch nicht den Gewissensbiß einer Schandthat, noch den Schimpf und das Zeichen des Cain auf meiner Stirn.« Ich stellte mir nun vor, welcher Art mein Zustand nach einem ersten Verbrechen sein würde, und sobald der Ruf eines Frevlers und die Gesellschaft von Frevlern für mich eine Notwendigkeit und vielleicht eine Bedingung meines Daseins geworden wären. Was mich am meisten schaudern machte, war dieser Gedanke: nach einem so offenbaren Morde würde ich auf jede Weise vor meinen und vor der Welt Augen den Charakter eines Christen, ja eines Menschen verloren haben, und alle andern Menschen würden ihn in meinen Augen verlieren; und indem ich an jene schrecklichen Ereignisse zurückdachte, welche mir Galvano am Turm de' Pinzacchi mit so kaltem Blut erzählt hatte, so bedachte ich, daß sich der Verbrecher und die Gesellschaft einander wie Ungeheuer betrachten und sich wie wilde Thiere einer verschiedenen Gattung behandeln.
Ich fand keine Rettung vor dieser schrecklichen und schmerzlichen Vorstellung, noch Ruhe vor der Marter des Gewissens, bis ich mich nicht ganz zu dem Gott wandte, welcher jedes Herz prüft, und der vielleicht in diesem Augenblick in das meinige edle Grundsätze legte. Ich schwor in meiner Seele die zugesagte Rache ab; ich bat dafür jenen um Verzeihung, welcher verzeihend für uns starb; ich rief Gott selbst zum Zeugen meines Glaubens aus, ich versprach ihm mich schuldlos zu erhalten, selbst im Angesicht des Todes; und wenn er in seiner Erbarmung es bestimmt hatte, daß ich meine Reue überlebe, so schwor ich den Rest meines Lebens seinem heiligen Dienst und der Erleuchtung und Unterweisung meiner Landsleute zu widmen. – Dieses Gelübde, das ich Gott im Herzen that, gab meinem Geist die Kräfte und die Ruhe wieder, und ich schlief einen sanften Schlaf, bis mich die Stimme Galvano's und das Bellen des Hundes erweckten.
Es war Morgengrauen. Die Spitzen und Gipfel der Berge waren rein von den Dämpfen des Tages, und erschienen leuchtend und klar in der stillen, azurblauen Luft. Die vier Inseln, welche im Ost um Corsica daherstehen, tauchten einzeln am Horizont empor, und die eckigen und schroffen Gipfel des Festlandes, die am Tage nicht sichtbar sind, traten vor uns so bestimmt hervor, daß es schien, sie hätten sich wie durch ein Wunder unsern Gestaden genähert. Ich sah Galvano unbeweglich und mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit auslugen; ich sah, wie er den Morgenduft der Blumen, den scharfen Wolgeruch des Lentiscus, des Cistus und des wilden Lavendels, der die Felsen umsproßte, begierig einatmete; ich sah, wie er sich lange an dem ersten Gesang der Vögel, am Murmeln und Rauschen des Flusses von Alesani erfreute, und wie er mit den Blicken bald die Hängeweiden und die flüchtigen Nebel des Flusses verfolgte, bald sein Auge wandte und auf seinem Heimathügel, auf dem Meeresstrand und der Küste Italiens ruhen ließ.
Unterdeß betrachtete ich seitwärts hinter einem Castanienbaum und durch die Zweige hin mein Haus und mein Fruchtfeld; die Tränen entstürzten mir und ich weinte, als ich den Schall der Glocke von St. Damiano hörte. Dieser Ton erweckte mir das sanfte und redende Bild meiner verwittweten Mutter und mit ihm alle die frommen Gedanken, welche jene herrliche Frau mir mit der Muttermilch eingeflößt hatte. Mein Herz schlug heftig bei ihrer Erinnerung und sein Klopfen selber schien mir eine innerliche Mahnung und ein frommer Ruf von ihr zu sein. Zugleich sah ich den ersten Stral der Sonne, ein Schauspiel, welches den Blicken des Menschen immerdar wie ein Wunder erscheint; sie streifte kaum das Meer, und wie ich sie erscheinen sah, dünkte mich das Geläut der Glocke die Stimme Gottes, welche mir das heilige Versprechen dieser Nacht ins Gedächtniß rief und mich ermahnte, eilig den guten Pfad einzuschlagen.
Galvano suchte mich indeß hinter dem Baume auf, wo ich mich zurückgezogen hatte. »Pietro,« sagte er zu mir, »sahst du nicht, wie sich die Amsel singend von jenem Zweig erhob? und du siehst dort den Mann nicht, der in unserer Richtung daher kommt? Wahrlich, ein braver Bandit das, der seinen Feind von einem andern zuerst erkennen läßt!«
Bei diesen Worten betrachtete er mich aufmerksam, und ich richtete die Blicke nach jener Seite und sah in der That einen Mann, der sich allein und waffenlos dem Schlund von Felce näherte. Aber mein vielleicht zu wenig geübtes Auge vermochte ihn in solcher Entfernung nicht zu erkennen. Es bedurfte nicht viel, daß der Bandit, welcher die Gedanken eines andern so leicht durchschaute, wie er die seinigen leicht verbarg, meine offenbare Veränderung bemerkte und den Abscheu gegen den Mord auf meinem Antlitz ausgedrückt sah. Er hatte sich die Sturmhaube aufgesetzt und die schwarze Maske, welche Zeit und Schweiß rostig gemacht hatten, über das Gesicht heruntergelassen.
»Du willst zurück,« sagte er, »ich merke es wol. Doch gib acht, denn die Reue kommt zu spät. Du hast die Freundschaft eines Flüchtlings gesucht, du hast seine Geheimnisse durchschaut, und wolltest schuldlos bleiben? Nimmermehr! Die Freundschaft eines Verurteilten ist ein festeres Band als die Mitbürgerschaft und das Blut; der Tod Morazzano's hätte es dich lehren sollen. Und dann, hast du schon die Beleidigungen deines Feindes und das Versprechen der Rache vergessen? Wolan denn, wenn keine andere Fessel, so bindet dich dieses Versprechen an mich; diesen Morgen soll der Tod jenes Mannes dort mir das Handgeld deiner Treue sein. Mit dieser That sollst du deinen Kriegernamen verdienen, und ihn heute von dem Ort deiner ersten Rache empfangen. Siehst du jenen dunkeln Schlund, der dem Feld als Graben und Durchgang dient? Man nennt ihn Trabocchetto; im Augenblick wirst du dort deinen Feind auftauchen sehen. Ich trete dir, wie es das Recht heischt, die Ehre der Rache ab, und ich verspreche dir, dich ihrer zu versichern, wenn dein Bogen fehlt.«
Hier schüttete er frisches Pulver auf das Zündloch und setzte das Rad der Archibuse in Schußgerechtigkeit. »Ja,« setzte er hinzu, »solltest du dich weigern, dann, beim Himmel! will ich dich wie einen Verräter betrachten!« – In diesem Augenblick ergrimmte auch Brusco gegen mich, da er die drohende Miene seines Herrn sah, er sträubte sein Haar, und indem er mir wütend sein Gebiß zeigte, schien er nur den Wink seines Herrn zu erwarten, um sich auf mich zu stürzen.
Entschlossen warf ich den Bogen, die Lanze und den Pfeilköcher auf die Erde und sagte mit fester Stimme zum Banditen: »O Galvano, hier bin ich, waffenlos! Du kannst mich tödten, aber, beim ewigen Gott! niemals kannst du mich zum Morde zwingen. Ich schwöre, daß ich um nichts auf der Welt dich verraten werde; aber ich hab' es Gott gelobt, abzusagen jenem frevelvollen Versprechen; und koste es mein Leben, hier in dein Antlitz schwöre ich . . .« – »Genug! genug!« rief Galvano, und indem er seine Visirmaske zurückschlug, senkte er den Flintenlauf auf die Erde. »Sei getrost, o Pietro, und danke Gott, daß du es mit einem Banditen zu thun hast, der ein wenig Manier versteht.«
Er reichte mir die Hand, um mich zu beruhigen, und that wieder so freundlich mit mir, als er es acht Tage zuvor an eben diesem Ort gethan hatte. Bestürzt und wie im Traum starrte ich ihn an; ich sah ihn tief bewegt und gerührt. »O!« rief ich aus, »ich erkenne dich, mein guter Ohm; du hast gesiegt, du hast gesiegt! Ach! vergib mir, daß ich dich bisher verkannte, daß ich nicht deinen ersten Rat befolgte und jenes Versprechen nicht verstand, das du mir hier am ersten Tage gegeben – ja, dieses Versprechen hast du nun wahr gemacht, und nächst Gott verdanke ich es dir, daß ich ein neuer Mensch geworden bin.«
Bei diesen Worten weinte ich bitterlich Tränen des Danks und der Freude; ich hörte nicht zu weinen auf, bis meine Seele sich erleichterte und neue Kraft und Mut gewann. »Ach. wenn es so ist,« sagte ich, »daß du all dies thatest, um mich zu erleuchten, so ist ja das ein Zeichen, daß auch du schon seit lange ein neuer Mensch geworden bist. Ich hoffe von dir heute einen doppelten Trost. Teurer Ohm, beim Andenken meines von dir einst so geliebten Vaters, bei allem, was dir auf Erden das Liebste und das Heiligste ist, ich beschwöre dich, fliehe mit mir aus dieser fürchterlichen Einsamkeit, entsage für immer diesem unwürdigen Leben! Für ein von Natur edles Herz, wie das deinige es ist, muß es entsetzlich und unerträglich sein. Erinnere dich bei Gott, daß diese meine Gedanken deine eigenen sind, denn du hast sie mir in das Herz so lebhaft eingedrückt. Zu sehr hast du bis jetzt deine liebevolle Natur verlarvt, laß sie nun die Welt erkennen und schätzen lernen. Alle, ich bin es überzeugt, selbst deine Feinde werden dir mit Achtung verzeihen. – Folge mir. Jetzt ist an mir die Reihe, dein Führer zu sein und deine Wolthat zu vergelten. Ich will der Welt die verborgenen und seltenen Vorzüge deines Gemütes kund thun, ich will dir die Achtung und die Liebe der Menschen erwerben, und in jedem Falle will ich dir, selbst auf Gefahr meines Lebens, ein Asil, Schutz und Verteidiger gewinnen.«
Hier warf ich mich, im Enthusiasmus der Dankbarkeit und Leidenschaft, in die Arme des Banditen, und lange hätte ich ihn umschlossen gehalten, wenn er mich nicht selbst mit edler Zurückhaltung von seiner Brust abwehrte. »Halt, Knabe,« sagte er, »nicht so hitzig! Meiner Treu! du bist ein wenig außer dir, weil du eine heiße Sommerwoche mit mir im Buschwalde gelebt hast. – Geh' nur, du wärest mir der rechte Bandit! Aber, da du noch zur Zeit in dich gegangen bist, so ist es gut; doch deine Rede, Pietro, das ist eine andere Angelegenheit. Glaubst du, daß ich Predigten nötig haben würde, wenn ich mein Leben ändern könnte? Siehst du nicht, daß meine Wiederherstellung in meinem Lande eine Unmöglichkeit ist? Ich fürchte hier die Reue; ich fliehe vor ihr, wie vor einem Hausfeinde, wie vor einem Freunde, der mir verräterisch nach dem Leben trachtet. Auf denn! nimm deine Waffen und folge mir noch diese kurze Strecke, und ich bitte dich, behalte deine Predigten fein bei dir.«
Mit diesen Worten entfernte er sich allgemach vom Schlund von Felce. Ich war ganz und gar von Bewunderung und Liebe erfüllt, und folgte ihm auf zerrissenen Irrpfaden und durch die nun trockenen und mit Kraut verwachsenen Rinnen der Wildbäche, die am Strand von Bravona münden.
Wir kamen an die Küste von Chiatra, als die Sonne schon hoch war und über den Wolkenhöhen von Elba sich im Meere spiegelte. Dort sahen wir eine kleine, tiefbordige Galere in voller Kriegsrüstung, welche mit lautlosen Rudern der Mündung des Bravonaflusses zusteuerte.
Galvano ließ den Ton seiner Stimme sinken und stand unbeweglich hinter einer Klippe, aufmerksam und mißtrauisch lauschend; dann eilte er schnell gegen die Galere hin, als er die Rudersclaven pfeifen hörte und einen Mann über den Klippen sah, welche stufenweise zum Gestade aufsteigen. Ich erkannte eben jenen Mann wieder, den ich viele Tage zuvor mit meinem Ohm gefunden hatte, als ich ihn über dem Berge Sant' Alessio zum erstenmal aufsuchte. Auf einen Wink jenes Unbekannten sagte mir Galvano das letzte Lebewol; und da ich ihn nicht zu fragen wagte, wohin er sich wende, bot ich ihm in Allem, wessen er bedürfe, meine Hülfe an und versprach ihm in Bezug auf ihn ein unverletzliches Stillschweigen.
»Mein Neffe,« antwortete er, »wisse, daß ich in Corsica nichts mehr mit Geheimnissen zu thun habe. Ich erlaube dir alles, was du gesehen, gehört und in der Einsamkeit der Wälder und Berge erduldet hast, der Welt kund zu thun. Ja, du sollst mir ausdrücklich versprechen – und das ist die einzige Gunst, um die ich dich bitte – die Geschichte dieser acht Tage deines Lebens, so viel du vermagst, in die Oeffentlichkeit zu bringen. Sonst, o Pietro, vergiß meinen Namen und bemühe dich, ihn vergessen zu machen; denn das ist für uns beide das Bessere. Nur unsern Landsleuten sage, du habest den Galeazzino auf jener Galere nach der Küste Afrika's fortsegeln sehen. Endlich verkünde aller Orten den Behörden und dem Volk die große Kunde, daß der berühmte Gigante, der Schrecken Aller, dort in jenem Brunnen sein Grab gefunden hat; und obwol er schon zehn Monate todt ist, wird man ihn doch an der kleinen Gestalt erkennen, denn in Wahrheit, dieser sogenannte Gigante war über der Erde wenig mehr denn fünf Spannen hoch.«
Galvano vernahm mit dankbarer Freude das Versprechen, das ich ihm gab, seinen frommen Wunsch zu erfüllen. Aber er zog seine Hand zurück, als ich mich nahte, sie zum Pfand meiner Treue zu drücken, und mit der Miene, ihm noch weiter zu folgen. Er bedeutete mir, mich schnell von ihm zu entfernen, und nachdem ich ihm das letzte Abschiedswort zugerufen hatte, eilte er, seinen Begleiter zu erreichen, über jene trockenen Stellen des Gestades.
Ich schlug allein und mit vielen Tränen den Weg nach Alesani ein, indem ich Galvano in der Gesellschaft jenes Unbekannten ließ. Und dieser Mann war, wie ich nachher erfuhr, der Pater Guglielmo von Speloncato, der berühmte heilige Bruder vom Orden der Minoriten, welcher mit seinen öffentlichen Predigten auf unserer Insel so viel Frieden gestiftet, so Viele bekehrt und so reichliche Almosen gesammelt hatte, um die Christensclaven in der Barbarei loszukaufen, nach der frommen Gewohnheit der Prädikanten. Ich erfuhr auch, daß er sich in die Tracht der Landleute verkleidet hatte, um dem Haß der Parteien und der politischen Eifersucht der Zeit zu entgehen.
Er fuhr auf jenem Schiff nach Afrika, in Begleitung einiger Väter des Instituts della Mercede, um dem Vaterland viele tapfere und brave Corsen, welche schon lange im Bagno zu Algier schmachteten, wieder zu bringen.
Als ich nun von der Spitze eines Hügels meine Augen nach der Küste zurückwandte, sah ich das Boot, auf welchem die beiden Wanderer standen, mit Kraft gegen die Galere rudern; und ich staunte, als ich diesen unerschütterlichen, im größten Unglück gehärteten Mann sah, wie er bitterlich weinte, während er von diesen ihm so feindseligen und verhängnißvollen Gestaden sich entfernte. Ich folgte dem Schiff mit den Augen; ein frischer Maestrale wehte günstig und es ging südwärts in See. Ich unterschied noch Galvano, als er zum letzten Lebewol seine Archibuse abfeuerte, und sie dann weit von sich in das Meer schleuderte, und ihr nach die Maske und die Sturmhaube.
Welcher Art mein Verhalten war, als ich in mein Dorf zurückgekommen, habe ich hier nicht zu berichten. Es erinnern sich noch alle Corsen der öffentlichen Verwunderung und der allgemeinen Freude, die meine Nachricht von Gigante's Tod erregte, und zumal die Auffindung seiner Leiche coram populo an jenem von mir in Person angezeigten Ort. Bei dieser Botschaft, die mit Hörnerschall durch die Dörfer getragen ward, öffneten sich die lange versperrten Fenster und Thüren der Feinde der Settejàcari, und nach einer langen Einkerkerung sah man aus den Häusern die bleichen und magern Gesichter vieler Landleute hervorschauen. Man sah die Barrikaden von den Balkonen nehmen, und dort die Kleider in die Luft hängen, um sie von dem Modergeruch zu reinigen. Ich sah selbst viele Leute mit geschorenem Bart und ohne Waffen sich auf Platz und Straßen zeigen, oder mit ihren magern Ochsen und ihren rostigen Hacken aufs Feld gehen.
Einige Verwandte des Gigante wurden freigesprochen, weil sie ungerecht angeklagt waren, ihm entweder ein Asil gegeben zu haben oder ihm bei einigen neuen ihm fälschlich beigelegten Verbrechen behülflich gewesen zu sein. Bei dieser Gelegenheit machte ich eine seltsame Erfahrung. Die Vettern des Banditen hatten um seinen Tod gewußt, aber stillschweigend die fünf Monate lange Gefangenschaft ertragen; und sie hatten dieses Geheimniß bewahrt, um ihren Familien die Macht und den Einfluß zu retten, welcher ihnen durch den Ruf des lebenden Banditen zu gute kam. Es schien sie der Kerker nicht einmal zu ermüden, denn er trug dazu bei, jenen öffentlichen Irrtum zu bestärken. Alle wurden auf Befehl des Vicarius in Freiheit gesetzt. Nur ein Verwandter des Todten, welcher den Leichnam heimlich weggebracht hatte, wurde im Gefängniß zurückbehalten, gleichsam schuldig eines Verbrechens neuer Art, d. i. des Attentats gegen die öffentliche Sicherheit, weil er aus böser Absicht dem todten Banditen ein Asil gegeben, und aus gleicher Absicht seinen Tod verhelt hatte.
Es wissen auch alle meine Landsleute, wie ich nach meiner Rückkehr nach Felce, und nachdem ich der friedlichste und ruhigste Jüngling von Alesani geworden war, nicht allein mit allen meinen Feinden Frieden schloß, sondern auch bemüht war, viele alte Feindschaften beizulegen, welche damals meine und die angrenzenden Pievi beunruhigten; und das gelang mir glücklich, denn bald darauf hatte die Rückkehr der Gesandten des Volks vom Hofe zu Mailand und die Ankunft des neuen Vicekönigs in Corsica, sammt der Bestätigung unseres Nationalstatutes, den Ehrgeiz der Caporali und der Cinarchesen niedergebeugt und die Angelegenheiten dieses unglückseligen Landes besser geordnet.
Es wissen endlich Alle, wie ich, in der Ueberzeugung, daß jenes Gelübde ein wahrer Ruf vom Himmel gewesen sei, mich vor Gott dessen entledigen wollte, indem ich mein ganzes Leben seinem heiligen Dienst weihte. Und so habe ich denn hier eben jenes Gelübde und zugleich mein an Galvano gegebenes Versprechen erfüllen wollen, indem ich diese Geschichte treu niederschrieb, meinen Mitbürgern zur Erleuchtung und meinem wolverdienten Lehrer zum Zeugniß der Dankbarkeit.