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XVI

An eben diesem Nachmittag (zur selben Stunde, als Edouard mit seinem Neffen Georges plauderte) empfing Olivier, nachdem Bernard ihn verlassen hatte, den Besuch von Armand.

Armand Vedel war kaum wiederzuerkennen: frisch rasiert, lächelnd, erhobenen Hauptes, präsentierte er sich in einem funkelnagelneuen, nur etwas zu knapp sitzenden Anzug, dessen leise Komik er empfand und spöttisch-übertreibend hervorhob.

»Ich wäre schon früher zu dir gekommen, wenn ich nicht so abscheulich viel zu tun gehabt hätte! … Weißt du schon, daß ich jetzt Sekretär von Passavant bin oder, wenn du lieber willst: Chefredakteur der Zeitschrift, die er herausgibt? Ich bitte dich nicht, daran mitzuarbeiten, denn Passavant scheint mir ziemlich geladen auf dich zu sein … Übrigens neigt unsere Revue entschlossen nach der Linken. Deshalb hat sie auch gleich zu Anfang den guten Bercail und seine Hirtengesänge vor die Tür gesetzt …«

»Kein gutes Zeichen für sie«, sagte Olivier.

»Und hat zum Ersatz dafür mein ›Gefäß der Nacht‹ aufgenommen, das übrigens, wenn du erlaubst, dir gewidmet sein wird.«

»Kein gutes Zeichen für mich«, sagte Olivier.

»Passavant wollte sogar, daß diese geniale Dichtung an der Spitze der ersten Nummer erschiene. Aber solcher Auszeichnung widersetzte sich meine natürliche, von seinen Lobsprüchen allerdings hart auf die Probe gestellte Bescheidenheit. Wenn ich sicher wäre, deine in der Genesung befindlichen Ohren nicht zu ermüden, würde ich dir eine Schilderung meines ersten Zusammenseins mit dem berühmten Autor des ›Turnrecks‹ geben, den ich bis dahin ja nur durch das Medium deiner Erzählungen gekannt hatte.«

»Ich höre dir mit dem größten Vergnügen zu!«

»Und es ist dir nicht unangenehm, wenn ich rauche?«

»Ich werde mir selbst eine Zigarette anzünden, damit du beruhigt bist.«

»Ich muß dir sagen«, begann Armand, indem er eine aromatische Tabakswolke in die Luft blies, »daß deine Abtrünnigkeit unseren vortrefflichen Grafen in erklecklicher Verlegenheit zurückgelassen hatte. Schließlich ist es ja auch nicht so leicht, einen Ersatz zu finden für … (das soll keine besondere Schmeichelei sein) … für ein solches Bündel von Gaben, Tugenden und Fähigkeiten, wie du es in deiner Person …«

»Kurz? …« unterbrach ihn Olivier, der diese ranzige Witzelei nicht sehr goutierte.

»Kurz: Passavant brauchte einen Sekretär. Nun kannte er zufällig einen gewissen Strouvilhou, den ich zufällig selbst kenne, weil er der Vetter und Ausgeh-Vormund eines Insassen unserer Pension ist, und der zufällig einen gewissen Jean Cob-Lafleur kannte, den du deinerseits kennst.«

»Den ich meinerseits nicht kenne«, sagte Olivier.

»Oh, dann müßtest du ihn kennenlernen, mein Lieber! Das ist ein ganz unerhörter Kerl: eine Art von verwelktem, runzligem, geschminktem Baby, das von Schnäpsen lebt und, wenn es betrunken ist, wunderbare Verse produziert! In unserer ersten Nummer wirst du eines seiner Meisterwerke lesen können. Strouvilhou verfällt also auf die gloriose Idee, diesen Säugling zum Grafen Passavant zu schicken, damit er bei ihm deine Stelle einnehme. Stell' dir den Einzug dieses Wunderknaben in den Palazzo der Rue de Babylone einmal vor! Du mußt wissen, Cob-Lafleurs Anzug ist eine monströse Konglutination aus verkrusteter Wagenschmiere, um die Schultern wallt ihm eine ellenlange Mähne flachsgelber Haare, und dies ganze Menschengebilde sieht immer aus, als habe er sich seit etlichen Jahren nicht mehr gewaschen … Passavant, der nie zugeben würde, daß irgendeine Erscheinung ihn verblüffen könne, behauptet, Cob-Lafleur habe ihm zunächst außerordentlich gefallen. Dieser hatte sich nämlich anfänglich von seiner sanften, lächelnden, schüchternen Seite gezeigt. Wenn er will, kann er dem Gringoire in dem Lustspiel des Théodore de Banville gleichen. Passavant schien geradezu bezaubert von ihm zu sein und war schon im Begriff, ihn zu engagieren. Erwähnen muß ich noch, daß Lafleur nie einen Sou in der Tasche hat … Und nun erhebt sich das Baby, um Abschied zu nehmen –…: ›Bevor ich Sie verlasse, Herr Graf, halte ich es doch für meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß ich einige Fehler habe.‹ –… ›Oh, wer von uns hätte denn keine?‹ –… ›Und einige Laster. Ich rauche Opium.‹ –… ›Meinetwegen gern‹, sagt Graf Passavant, der sich um so Geringes nicht aufregt; ›ich kann Ihnen selber eine ausgezeichnete Sorte anbieten.‹ –… ›Aber wenn ich geraucht habe‹, erklärt Lafleur weiter, ›so verliere ich völlig die Kenntnis der Orthographie.‹ –… Passavant glaubt an einen Scherz, lacht gezwungen und reicht ihm die Hand. Lafleur fährt fort: ›Und außerdem nehme ich Haschisch.‹ –… ›Ich habe gelegentlich selbst welchen genommen‹, sagt Passavant. –… ›Ja, aber unter dem Einfluß des Haschisch kann ich mich nicht enthalten, Diebstähle zu begehen.‹ –… Passavant beginnt zu merken, daß der andere ihn verhöhnt. Und Lafleur, einmal im Zuge, übertrifft nun sich selbst: ›Und überdies trinke ich Äther; und dann zerreiße ich alles und zertrümmere ich alles, was mir in die Hände kommt!‹ Und er bemächtigt sich einer Kristallvase und macht Miene, sie in den Kamin zu schleudern. Es gelingt Passavant gerade noch, sie ihm aus den Händen zu entwinden: –… ›Ich danke Ihnen für Ihre liebenswürdigen Informationen!‹«

»Und er hat ihn zur Tür hinausgeworfen?«

»Und hat dann vom Fenster aus beobachtet, ob Lafleur beim Weggehen nicht etwa eine Bombe in seinen Keller praktizierte!«

»... Aber warum hat dein Lafleur sich so benommen?« fragte Olivier nach einer Pause. »Wenn es ihm wirklich so elend ging, wie du sagst, hätte die Stellung bei Passavant ihm doch aufs dringendste erwünscht sein müssen!«

»Ja, mein Lieber, es scheint eben, seltsamerweise, auf der Welt Menschen zu geben, die gelegentlich das Bedürfnis empfinden, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln … Und außerdem vermute ich, daß Lafleur sich angewidert gefühlt hat von Passavants Luxus, von seiner Eleganz, von seinen vornehmen Manieren, seiner Herablassung, seiner zur Schau getragenen Überlegenheit … Wirklich, all das muß ihn aufgebracht haben! Und ich verstehe das auch sehr gut … Denn im Grunde ist er ein wahres Brechmittel, dein Passavant!«

»Warum sagst du: ›dein Passavant‹? Du weißt doch, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun habe! Und warum hast du denn selber die Stellung von ihm angenommen, wenn du ihn so widerlich findest?«

»Weil ich gerade das gern habe, was mich anekelt … einschließlich meiner eigenen sauberen, oder vielmehr unsauberen Person … Übrigens ist Cob-Lafleur im Grunde eine schüchterne Natur: er hätte alle jene Aufschneidereien nicht von sich gegeben, wenn er sich nicht geniert gefühlt hätte.«

»Na, dieser Erklärungsversuch ist wohl ein bißchen paradox …«

»Nein, es verhält sich in der Tat so! Er fühlte sich geniert und wurde wütend auf sich selbst, weil er sich von jemand einschüchtern ließ, den er im tiefsten verachtete. Und um seine Verlegenheit und seine Wut zu verbergen, hat er sich so toll benommen.«

»Ich kann sein Benehmen nur idiotisch finden!«

»Es ist eben nicht jeder so klug wie du, mein Lieber!«

»Das hast du mir schon letztes Mal gesagt.«

»Welch phänomenales Gedächtnis!«

Olivier war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

»Deine fragwürdigen Bosheiten suche ich zu vergessen«, sagte er. »Aber das letztemal hast du auch sehr ernsthaft zu mir gesprochen, und da hast du mir Dinge gesagt, die ich nie vergessen könnte!«

Armands Blick trübte sich. Mit einem erzwungenen Lächeln antwortete er:

»Oh, das letztemal habe ich so zu dir gesprochen, wie du es selber zu wünschen geruht hast. Du heischtest ein Stück in Moll. Da habe ich dir den Gefallen getan und dir das Klagelied eines Zerrütteten vorgespielt, mit abgründigen Wehleidigkeiten à la Pascal … Was ist da zu machen? Nur wenn ich Gesichter schneide, bin ich aufrichtig!«

»Willst du etwa behaupten, du seiest neulich nicht aufrichtig gewesen, als du so zu mir sprachst, wie du es getan hast? Aber momentan, da spielst du wieder Komödie!«

»Oh, du heilige Einfalt, du hast wirklich die Seele eines Engels! Als ob nicht jeder Mensch fortwährend Komödie spielte, mag er es nun wissen oder nicht! Das ganze Leben ist ja ein einziges Possenspiel, mein Lieber! Aber der Unterschied zwischen uns beiden besteht darin, daß ich ganz genau weiß, daß ich Komödie spiele, während …«

»Während …?« fragte Olivier kampflustig.

»Während zum Beispiel mein Herr Vater –… um deine werte Person doch lieber undiskutiert zu lassen –… sofort voller Rührung auf sich selbst hereinfällt, wenn er so virtuos seine Pastorenrolle spielt. Mit mir dagegen steht es so, daß, mag ich da oben auf der Bühne tun und sagen, was ich will, immer ein Teil meines Wesens im Zuschauerraum bleibt, um den andern Teil zu beobachten, seine Unzulänglichkeiten zu registrieren, ihn auszuzischen oder ihm, gelegentlich, auch Beifall zu klatschen. Wenn ein menschliches Wesen mit solcher Bewußtheit in zwei Teile gespalten ist: wie soll es da noch aufrichtig sein? Ich weiß nicht einmal mehr, was das schöne Wort ›Aufrichtigkeit‹ bedeutet … Da ist eben nichts zu machen: bin ich traurig, so finde ich mich grotesk und muß darüber lachen; bin ich aber lustig, so produziere ich so dumme Späße, daß ich darüber weinen möchte.«

»Auch mir wird ganz elend zumute dabei … Ich wußte nicht, daß du so krank bist, mein armer Kerl!«

Armand zuckte mit den Achseln. Dann sagte er in völlig verändertem Tone:

»Soll ich dir, zum Trost, den Inhalt unserer ersten Nummer erzählen? Daß mein ›Gefäß der Nacht‹ darin paradieren wird, das weißt du schon. Ferner wird es geben einen Dialog von Alfred Jarry, vier ›Privatgedichte‹ von Cob-Lafleur, lyrische Prosa von Leon Ghéridanisol, dem Insassen unserer Pension, und endlich das ›Plätteisen‹, eine kritische Abhandlung großen Stils, in der die Tendenzen der Zeitschrift zum Ausdruck kommen werden. Dies essayistische Meisterwerk ist von mehreren Mitarbeitern in gemeinsamer Anspannung zustande gebracht worden.«

Olivier, der nichts Rechtes zu sagen wußte, fragte unbeholfen:

»Wie kann ein Meisterwerk entstehen aus der Zusammenarbeit verschiedener Individualitäten?«

Armand brach in Lachen aus:

»Aber, mein Bester, ich brauchte das Wort ›Meisterwerk‹ doch nur im Scherz! In Wirklichkeit würde schon die Bezeichnung ›Werk‹ eine krasse Überschätzung enthalten … Was ist übrigens eigentlich ein ›Meisterwerk‹? Gerade diese Frage sucht unser ›Plätteisen‹ zu klären. Im ›Kulturbesitz der Menschheit‹ existiert eine große Anzahl von Werken, deren Berühmtheit von aller Welt konventionell nachgebetet wird, während kein Mensch jemals gewagt hat, sie einfach idiotisch zu nennen! Daher bringen wir, zum erbaulichen Exempel, an der Spitze unserer Nummer eine Reproduktion der Mona Lisa, in deren rätselhaft lächelndes Antlitz wir einen gewaltigen Schnurrbart hineingepinselt haben … Du wirst sehen, mein Lieber: das ist von frappanter Wirkung!«

»Willst du damit sagen, daß du die Mona Lisa für eine idiotische Kitschmalerei hältst?«

»Aber nicht im geringsten! (Obwohl ich sie auch nicht so über alle Begriffe herrlich finden kann …) Du verstehst mich nicht. Idiotisch ist nur die Bewunderung, die man solchen Leinwänden entgegenbringt. Idiotisch ist die dumpfe Subalternität, die von den sogenannten ›Meisterwerken‹ nur mit dem Hute in der Hand zu sprechen wagt! Das ›Plätteisen‹ (das ist übrigens auch der Titel der Zeitschrift selbst) beabsichtigt, diese Ehrfurcht zu diskreditieren, sie dem Fluche der Lächerlichkeit preiszugeben … Ein gutes Mittel ist auch, der Bewunderung des geneigten Lesers irgendein wirklich idiotisches Machwerk eines völlig hirnverbrannten Autors anzubieten, wie zum Beispiel mein famoses ›Gefäß der Nacht‹ …«

»Und Passavant ist mit alledem einverstanden?«

»Es amüsiert ihn ungemein.«

»Da sehe ich doch, wie gut ich daran getan habe, mich davonzumachen!«

»Sich davonmachen: so lautet für jeden von uns einmal die Parole, nicht wahr? … Und diese geistreiche Bemerkung bietet mir zwanglos das Stichwort, mich selbst davonzumachen. Also: adieu!«

»Bleib doch noch einen Augenblick, du Hanswurst … Weshalb sagtest du, dein Vater spiele seine Pastorenrolle virtuos? Hältst du ihn nicht für gläubig?«

»Mein guter Vater hat sein Leben so eingerichtet, daß er weder das Recht noch die Möglichkeit mehr hat, nicht gläubig zu sein. Ja, er ist gläubig von Berufs wegen; ein Funktionär der religiösen Überzeugung. Diesen Glauben seinen Mitmenschen einzutrichtern, darin besteht seine Lebensaufgabe, das ist die Rolle, die er spielt und die er aufrechterhalten muß bis an sein seliges Ende. Doch wer kann wissen, was im verborgensten Geheimfach seines Innern vor sich geht? … Es wäre sehr indiskret, ihn danach fragen zu wollen, nicht wahr? Und ich glaube, er selbst fragt sich auch niemals danach. Sein ganzes Leben verläuft ja so, daß er nie Zeit haben kann, sich danach zu fragen. Er hat seine Tage vollgepfropft mit einem Haufen von Verpflichtungen, die jeden Sinn verlören, wenn seine Überzeugung nachließe; so daß also diese Überzeugung von jenen Verpflichtungen erfordert und genährt wird. Er bildet sich ein, er sei gläubig, weil er immer weiter so lebt, als wenn er gläubig wäre. Er ist nicht mehr frei, ungläubig zu sein … Wenn sein Glaube wankte, das wäre die Katastrophe, mein Lieber! Das wäre der Krach für uns alle! Bedenke, daß alle meine Angehörigen dann plötzlich nichts mehr zu essen hätten! Dieser Gesichtspunkt ist ja für uns so eminent wichtig: Papas Glaube ist unser aller Broterwerb! Wir leben alle von Papas Glauben. Und wenn da nun plötzlich einer kommt und mich fragt, ob Papa wirklich gläubig sei: ja, du mußt mir zugeben, lieber Olivier, daß es nicht sehr zartfühlend von dir war, eine solche Frage an mich zu richten!«

»Ich dachte, ihr lebtet hauptsächlich vom Ertrage eurer Pension?«

»Das stimmt auch so ziemlich. Aber es ist wieder nicht sehr zartfühlend von dir, mich um meinen pathetischen Schlußeffekt bringen zu wollen!«

»Du selbst glaubst also an gar nichts mehr?« fragte Olivier traurig, denn er liebte Armand sehr und litt unter dessen qualvoller Zerrüttung.

»Infandum, regina, iubes renovare dolorem … Du scheinst zu vergessen, mein Lieber, daß meine Eltern ursprünglich einen ›Geistlichen‹ aus mir machen wollten. Zu diesem Zweck bin ich mit Religion bestrahlt worden wie eine Treibhauspflanze und genudelt mit frommen Lehren wie eine Stopfgans, damit, wenn auch keine Leber-Pastete, so doch ein Streber-Pastor aus solcher Züchtigung zum Vorschein komme … Aber es hat sich gezeigt, daß ich nicht berufen war. Schade um mich, nicht wahr? Ich hätte vielleicht einen fabelhaften Bußprediger abgegeben … Meine Berufung bestand eben darin, der Dichter des ›Gefäßes der Nacht‹ zu sein …«

»Mein armer Freund, wenn du wüßtest, wie leid du mir tust!«

»Ja, du hast immer ein Herz von purem Gold gehabt, wie mein Vater sagen würde … ein Herz, das ich nun aber nicht länger mißbrauchen will!«

Er nahm seinen Hut. Er war fast schon auf der Türschwelle, als er sich noch einmal umwandte:

»Also nach Sarah fragst du mich gar nicht?«

»Weil du mir nichts sagen könntest, was ich nicht schon von Bernard wüßte.«

»Er hat dir gesagt, daß er die Pension verlassen hat?«

»Er hat mir gesagt, deine Schwester Rachel habe ihn dazu aufgefordert.«

Armands eine Hand lag auf der Türklinke. Sein Spazierstock, in der andern, hielt den zerrissenen Vorhang hoch. Der Stock war in ein Loch des Vorhangs geraten und vergrößerte es.

»Erklär mir das, wenn du kannst«, sagte er, und sein Gesicht ward mit einem Male sehr ernst. »Rachel ist, glaube ich, das einzige Wesen auf dieser Welt, das ich liebe und achte. Ich achte sie, weil sie tugendhaft ist. Aber ich begehe ihr gegenüber lauter Handlungen, die ihre Tugendhaftigkeit verletzen müssen. Was Bernard und Sarah betrifft, so hatte sie keine Ahnung von deren Verliebtheit. Ich war es, der ihr alles erzählt hat … Und dabei hat der Augenarzt ihr das Weinen verboten! … Das ist alles ziemlich sonderbar.«

»Darf man dich momentan für aufrichtig halten?«

»Ja, ich glaube, das ist das Aufrichtigste in mir: mein fanatischer Haß gegen alles, was man Tugend nennt … Versuche nicht, zu begreifen. Du weißt nicht, was eine puritanische Kinderstube aus uns machen kann: sie läßt einem eine Rachsucht zurück, von der man niemals geheilt werden kann …, nie im Leben kuriert werden kann, falls ich nach mir selber urteilen darf … Bei dieser Gelegenheit« –… so fügte er grinsend hinzu –… »könntest du mir vielleicht sagen, was ich da habe.«

Er legte seinen Hut wieder hin und trat ans Fenster.

»Da, an der Lippe, innen.«

Er hob seine Lippe mit einem Finger hoch.

»Ich sehe nichts«, sagte Olivier.

»Aber ja doch, da, an der Seite!«

Olivier entdeckte, nahe am Mundwinkel, einen weißlichen Fleck. Etwas geängstigt:

»Das ist eine Aphthe«, sagte er, um Armand zu beruhigen.

Dieser zuckte mit den Achseln.

»Sag doch keine Dummheiten, du: ein so ernsthafter Mann! Zunächst ist das Substantiv ›Aphthe‹ masculini generis; und ferner ist ein Aphthe etwas Weiches und geht vorüber. Das Ding aber, das ich da habe, ist hart und schwillt von Woche zu Woche mehr an. Und es verursacht mir einen unangenehmen Geschmack im Munde.«

»Hast du es schon lange?«

»Es ist über einen Monat her, daß ich's bemerkt habe. Aber, wie es in einem ›Meisterwerk‹ heißt: »›Mein Übel kommt aus größrer Ferne …‹«

»Ja, mein Lieber, wenn es dich beunruhigt, dann mußt du eben einen Arzt fragen!«

»Glaubst du, daß ich auf dich gewartet hätte, um dieser Erleuchtung teilhaftig zu werden?«

»Na, und was hat der Doktor gesagt?«

»Ich habe nicht auf dich gewartet, um der Erleuchtung teilhaftig zu werden, daß ich unbedingt zu einem Arzt gehen müßte … Aber ich bin trotzdem nicht hingegangen, weil, falls es sich um die Krankheit handelt, die ich vermute, ich es lieber gar nicht wissen will.«

»Das ist aber furchtbar leichtsinnig von dir!«

»Nicht wahr, das ist leichtsinnig?! Und dabei so ungemein begreiflich, mein Lieber! …«

»Es ist ein unbegreiflicher Leichtsinn, sich nicht behandeln lassen zu wollen!«

»Und sich dabei gleich zu Beginn der Behandlung sagen zu müssen: ›es ist zu spät!‹ Diesem Gedanken verleiht ja Cob-Lafleur so lichtvollen Ausdruck, wenn er in einem der ›Privatgedichte‹ konstatiert:

Alle Dinge sind verpflanzbar,
Fügt euch dieser Evidenz,
Und die winterliche Tanzbar
Tanzt bereits den nächsten Lenz.«

»Ach ja, Literatur kann man aus allem machen!«

»Ganz recht, aus allem! Aber in manchen Fällen ist das immerhin ziemlich schwer … Na, also adieu! … Doch was ich dir noch sagen wollte: ich habe Nachricht erhalten von Alexandre … Ja, von meinem älteren Bruder, weißt du, der vor ein paar Jahren nach Afrika ausgerückt ist, wo er zunächst erbärmliche Geschäfte gemacht und alles Geld, das Rachel ihm schickte, verpulvert hat. Aber neuerdings scheint es ihm bedeutend besser zu gehen. Er hat sich da irgendwo an dem großen Flusse Cazamanca etabliert und schreibt mir nun, er treibe jetzt einen blühenden Handel und werde bald in der Lage sein, alles Geliehene zurückzuerstatten.«

»Womit handelt er denn?«

»Oh, was weiß ich davon? Mit Kautschuk, mit Elfenbein, vielleicht mit Negern … kurz: mit allem Möglichen! Er fordert mich auf, zu ihm zu kommen.«

»Und hättest du Lust dazu?«

»Ich möchte am liebsten sofort hinreisen! Aber davon kann ja leider keine Rede sein, weil ich demnächst zum Militär muß … Alexandre ist eine komische Kruke, ungefähr in meinem Genre … Ich glaube, ich würde mich gut mit ihm verstehen … Da, willst du seinen Brief lesen? Ich hab' ihn gerade bei mir.«

Er zog ein Kuvert aus der Tasche und entnahm ihm mehrere Blätter, deren eines er Olivier hinreichte:

»Es lohnt sich nicht für dich, den ganzen Brief zu lesen. Fang da an.«

Olivier las:

 

›Seit vierzehn Tagen bin ich hier in Gesellschaft eines merkwürdigen Individuums, das ich in meine Behausung aufgenommen habe. Diesen Kerl scheint die Tropensonne verrückt gemacht zu haben. Zuerst glaubte ich, er hätte das Delirium, aber er ist offenbar regelrecht wahnsinnig. Dieser absonderliche Junge –… ein Mensch von ungefähr dreißig Jahren, groß und stark, ziemlich hübsch und, nach seiner Sprechweise, seinen Manieren und seinen zarten Händen zu urteilen, sicherlich ›aus guter Familie‹ –… glaubt sich allen Ernstes vom Teufel besessen; oder, falls ich seine Hirngespinnste richtig gedeutet habe, so scheint er sich selbst für den Teufel zu halten. Es muß ihm irgendein verdammt böses Abenteuer zugestoßen sein, denn im Traum und in dem halbschlafartigen Zustande, in den er oft verfällt (und dann redet er mit sich selbst, als ob ich gar nicht vorhanden wäre), phantasiert er unaufhörlich von abgehackten Händen … Und da er sich dabei furchtbar hin und her wälzt und die Augen dermaßen grauslich rollt, als wäre er wirklich ein Dämon der Hölle, so habe ich dafür Sorge getragen, daß alle Waffen aus seiner Nähe entfernt werden. In der übrigen Zeit ist er ein braver Kumpan, ein angenehmer Tischgenosse (du kannst dir denken, wie erwünscht mir das ist, nach so vielen Monaten des Alleinseins), der mir auch bei meinen Handelsgeschäften tüchtig zur Seite steht. Von seinem früheren Leben spricht er nie, so daß ich nicht dahinterkommen kann, was er eigentlich ist. Er interessiert sich besonders für Insekten und Pflanzen, und, nach manchen seiner Äußerungen zu schließen, muß er ein ungewöhnlich kenntnisreicher Mann sein. Es scheint ihm bei mir gut zu gefallen; er spricht nie davon, daß er wieder weg wolle; und so kann er meinetwegen gern bleiben, solange er mag. Ich hatte gerade eine Hilfe nötig: also ist dieser Sonderling im günstigsten Moment hier aufgetaucht …

Ein sehr häßlicher Neger, der ihn auf seiner Flußfahrt die Cazamanca aufwärts begleitet hat und mit dem ich ein bißchen ins Plaudern gekommen bin, spricht von einer Frau, die mit ihm reiste und die, wie es scheint, eines Tages, als ihr Fahrzeug umgeschlagen war, im Flusse ertrunken ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn mein lieber Hausgenosse dieses Ertrinken einigermaßen begünstigt hätte … Wer sich hierzulande eines Nebenmenschen zu entledigen wünscht, der findet reiche Auswahl an Möglichkeiten, und hinterdrein kümmert sich keine Seele mehr um eine so harmlose Geschichte … Sollte ich noch einmal Näheres über den Fall dieses interessanten Satanskindes erfahren, so schreibe ich dir's. Noch lieber freilich möchte ich dir alles mündlich erzählen, wenn du erst hier bist! Na ja, ich weiß: die Frage deiner Dienstzeit … Da muß ich eben noch warten. Aber wenn du mich überhaupt je wiedersehen willst, so mußt du wenigstens im Prinzip entschlossen sein, hierherzukommen. Denn meine Neigung zur Rückkehr nach Europa ist im Laufe der Zeit gleich Null geworden. Ich führe hier ein Leben, das mir gefällt, ja, das mir geradezu auf den Leib zugeschnitten zu sein scheint. Mein Handel blüht, und der Stehkragen der Zivilisation wäre für mich ein Halseisen, in das ich mich nie wieder bequemen könnte …

Anliegend wieder ein Scheck, den du verwenden kannst, wie es dir beliebt. Der vorige war für Rachel. Behalt diesen für dich …‹

»Das weitere ist nicht mehr interessant«, sagte Armand.

Olivier gab den Brief zurück, ohne ein Wort zu sagen. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß der Mörder, von dem da die Rede war, sein eigener Bruder sein könne. Vincent hatte seit langem nichts mehr von sich hören lassen; seine Eltern glaubten ihn in Amerika. Übrigens machte sich Olivier seinetwegen nicht viel Gedanken.


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