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In Poussins Briefen findet sich nirgends eine Spur davon, daß er sich seinen Eltern gegenüber verpflichtet gefühlt habe. Mit keinem Wort bedauerte er je, daß er sie verlassen hatte. Freiwillig nach Rom verpflanzt, verlor er jede Lust zur Rückkehr, ja, man könnte sagen jede Erinnerung.
Paul Desjardins (Poussin).
Monsieur Profitendieu hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Er fand, sein Kollege Molinier, der ihn den Boulevard Saint-Germain entlang begleitete, gehe recht langsam. Albéric Profitendieu hatte im Justizpalast einen besonders arbeitsreichen Tag gehabt. Nun spürte er auf der rechten Seite einen gewissen Druck, und das machte ihm Sorge: bei ihm schlug jede größere Anstrengung auf die Leber, die ziemlich empfindlich war. Er dachte an das Bad, das er nehmen wollte; durch nichts erholte er sich besser von den Sorgen des Tages als durch ein gutes Bad. In Voraussicht dessen hatte er heute nachmittag nichts zu sich genommen, weil die Klugheit gebietet, mit unbelastetem Magen ins, wenn auch nur lauwarme, Badewasser zu steigen. Vielleicht war das übrigens nur ein Vorurteil; aber Vorurteile sind ja die Grundpfähle der Zivilisation.
Oscar Molinier hatte Mühe, mitzukommen. Er beschleunigte seine Schritte, so sehr er konnte. Aber er war viel kleiner und weniger schenkelstark als Profitendieu; außerdem geriet er, mit seinem etwas verfetteten Herzen, leicht außer Atem. Profitendieu, noch frisch mit fünfundfünfzig Jahren, schlanken Wuchses, rüstigen Ganges, wäre am liebsten davongelaufen. Aber er wußte doch zu sehr, was schicklich ist: sein Kollege war älter als er und ihm in der Rangstufe voran, er schuldete ihm Respekt. Außerdem mußte er sich seine Wohlhabenheit verzeihen lassen, die, nach dem Tode der Eltern seiner Frau, beträchtlich war, während Monsieur Molinier über keine andern Mittel verfügte als sein Präsidentengehalt, eine lächerlich geringe Remunerierung der hohen Position, die er um so würdevoller ausfüllte, als seine Mittelmäßigkeit sich dahinter verbarg. Profitendieu ließ seine Ungeduld nicht merken, er wandte sich nach Molinier um, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte. Übrigens interessierte ihn das, was Molinier sagte, in hohem Grade, nur war ihr Gesichtspunkt nicht der gleiche. Die Diskussion belebte sich.
»Lassen Sie das Haus überwachen«, sagte Molinier. »Nehmen Sie die Aussagen des Portiers und der angeblichen Aufwärterin zu Protokoll –… alles ganz vortrefflich! Nur bedenken Sie, daß, falls Sie die Untersuchung zu energisch betreiben, die Beherrschung des Falles Ihnen entgleiten wird … Ich will sagen, es besteht Gefahr, daß diese Affäre Sie weiter mitreißt, als Sie ursprünglich wohl gedacht haben.«
»Solche Bedenken dürfen aber doch den Gang der Justiz nicht beeinflussen!«
»Hm! Sehen Sie, mein Freund: wir wissen beide, was die Justiz sein sollte und was sie in Wirklichkeit ist. Selbstverständlich tun wir unser Bestes; aber mit aller guten Absicht erreichen wir doch immer nur Annäherndes. Der Fall, der Sie gerade beschäftigt, ist besonders heikler Natur: unter fünfzehn Beschuldigten (oder die es, auf ein Wort von Ihnen, morgen sein können) sind neun Minderjährige. Und etliche unter diesen Kindern sind, wie Sie wissen, Söhne höchst achtbarer Eltern. Deshalb würde ich, wie die Dinge liegen, jeden Haftbefehl für einen schweren Mißgriff halten. Die Parteiblätter würden sich der Sache bemächtigen, und Sie hätten das Tor geöffnet für Erpressung und Verleumdung jeder Art. Und wie Sie's auch anstellen: trotz aller Vorsicht könnten Sie nicht verhindern, daß gewisse Namen öffentlich genannt würden … Ich bin nicht befugt, Ihnen Ratschläge zu erteilen: Sie wissen, wieviel lieber ich selbst mir Rat holen möchte von Ihnen, dessen Pflichtgefühl, Scharfsinn und Unbeirrbarkeit ich stets bewundert habe … Aber an Ihrer Stelle würde ich so vorgehen: ich würde diesen peinlichen Skandal dadurch zu beenden suchen, daß ich die vier oder fünf Rädelsführer unschädlich machte … Oh, ich weiß, daß sie nicht leicht zu fassen sind, aber das ist schließlich unser Handwerk, nicht wahr? Ich ließe die Wohnung, den Schauplatz jener Orgien, schließen, und dann bedächte ich die Eltern der jungen Missetäter mit einer kleinen Mahnung, einem leisen, diskreten Wink –… nur zu dem Zweck, Rückfälle zu verhindern … Übrigens: die Frauen, die können Sie einsperren; dagegen habe ich gar nichts; es scheint sich da um ein paar abgründig verdorbene Geschöpfe zu handeln, von denen man die bürgerliche Gesellschaft befreien sollte. Aber, nochmals, schonen Sie die Kinder! Kleben Sie die Etikette ›Nichtvorhandensein der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht‹ auf die Akten und lassen Sie die Kleinen möglichst lange im heilsamen Zweifel, ob sie wirklich mit dem Schrecken davongekommen sind. Bedenken Sie, drei von ihnen sind noch keine vierzehn Jahre alt, und ihre Eltern halten sie gewiß für Musterexemplare von Unschuld und Reinheit. Na, alles was wahr ist –… sagen Sie mal lieber Freund: haben wir in diesem Alter eigentlich schon an Mädchen gedacht?«
Er war stehengeblieben, mehr von seiner Beredsamkeit als vom Gehen erschöpft, und zwang Profitendieu, den er am Rockärmel festhielt, desgleichen zu tun.
»Oder, wenn wir daran dachten«, begann er wieder, »so war's auf eine ideale, mystische, gewissermaßen religiöse Art. Doch die Kinder von heute, sehen Sie, die haben keine Ideale mehr … Wie geht es übrigens Ihren eigenen Kindern? Selbstverständlich hab' ich das alles nicht für sie gesagt. Ich weiß ja, bei ihnen wären, dank Obhut und Erziehung, solche Verirrungen undenkbar.«
In der Tat, bis jetzt hatte sich Profitendieu seiner Söhne nur rühmen können. Doch über eines täuschte er sich nicht: die beste Erziehung konnte nicht aufkommen gegen böse Instinkte. Gott sei Dank hatten seine Kinder keinerlei böse Veranlagung, ebensowenig wie, offenbar, die Kinder von Molinier; und so würden sie sich aus eigenem Antrieb vor schlechtem Verkehr und schlechter Lektüre in acht nehmen. Denn warum sollte man verbieten, was man doch nicht hindern konnte? Die Bücher, die man einem Kinde verbietet, die verschafft es sich heimlich doch. Sein persönliches System war einfach: er warnte die Kinder nicht vor schlechten Büchern, aber er suchte alles so einzurichten, daß sie gar kein Verlangen danach hatten. Was die fragliche Affäre anlangte, so wollte er noch darüber nachdenken und versprach auf alle Fälle, nichts ohne Verständigung Moliniers zu unternehmen. Man würde die unauffällige Überwachung einfach fortsetzen, und da das Übel nun schon drei Monate währte, so mochte es schließlich noch ein paar Tage oder Wochen weiterhin dauern. Außerdem standen die Schulferien bevor, und mit ihnen würden sich die kleinen Bösewichte in alle Winde zerstreuen. Also auf Wiedersehen.
Den Rest seines Weges konnte Profitendieu nun schnellen Schrittes zurücklegen.
Kaum zu Hause angelangt, lief er ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Antoine, der nach seinem Herrn ausgespäht hatte, kreuzte ihn, scheinbar unabsichtlich, im Korridor.
Dieser treue Diener war seit fünfzehn Jahren im Hause; er hatte die Kinder aufwachsen sehen. Sicherlich hatte er im Laufe der Zeit allerlei mit ansehen können, und manches andere argwöhnte er. Aber er tat so, als bemerke er nichts von dem, was man ihm zu verheimlichen wünschte. Bernard hatte immer eine gewisse Zuneigung zu Antoine gehegt, und er hatte nicht weggehen wollen, ohne ihm Adieu zu sagen. Vielleicht hatte es ihn auch gelockt, einen Bedienten ins Vertrauen zu ziehen bezüglich einer Sache, von der die Familie selbst noch nichts wußte. Doch muß zu Bernards Gunsten gesagt werden, daß um jene Stunde niemand von den Seinigen zu Hause war. Außerdem hätte er sich ja nicht von ihnen verabschieden können, ohne daß sie versucht hätten, ihn zurückzuhalten. Das aber wünschte er zu vermeiden. Zu Antoine hatte er einfach gesagt: »Ich gehe weg.« Aber bei diesen Worten hatte er ihm so feierlich die Hand gereicht, daß der alte Diener erstaunt gewesen war.
»Monsieur Bernard kommt zum Abendessen nicht zurück?«
»Auch nicht zum Schlafen, Antoine.« Und da der andere unschlüssig blieb und nicht recht wußte, wieviel er begreifen und ob er noch etwas fragen sollte, so wiederholte Bernard bedeutsam: »Ich gehe weg«, und fügte hinzu: »Ich hab' einen Brief auf …« –… er konnte sich nicht entschließen, zu sagen, »auf Papas Schreibtisch« –… »also ich hab' einen Brief auf den Schreibtisch gelegt. Adieu.«
Und indem er Antoine die Hand drückte, war es ihm, als nehme er Abschied von seiner ganzen Vergangenheit. Noch einmal sagte er: »Adieu«, dann stürzte er davon, um den Seufzer, der ihm in die Kehle stieg, nicht hören zu lassen.
Antoine überlegte, ob es nicht eine schwere Verantwortung sei, ihn so weggehen zu lassen –… aber wie hätte er ihn zurückhalten können?
Daß dieser Weggang Bernards für die ganze Familie eine ungeheuerliche Überraschung bedeute, dessen war sich Antoine nun durchaus bewußt, aber die Rolle des perfekten Dieners verbot jede Äußerung des Erstaunens. Er durfte nichts wissen von dem, was Monsieur Profitendieu noch nicht wußte. Natürlich hätte er einfach sagen können: »Weiß Monsieur, daß Monsieur Bernard weg ist?«, aber damit hätte er allen Vorsprung eingebüßt, und das war keineswegs nach seinem Geschmack. Wenn er so ungeduldig auf seinen Herrn wartete, so um sachlichen, ehrerbietigen Tones, als hätte er eine gewöhnliche Bestellung Bernards auszurichten, folgende, sorgsam vorbereitete Worte von sich zu geben:
»Monsieur Bernard hat, bevor er wegging, einen Brief für Monsieur auf dem Schreibtisch gelassen.«
Dieser Satz klang so unverfänglich, daß man ihn vielleicht gar nicht beachten würde; doch hatte er sich vergebens um eine gewichtigere, zugleich harmlos scheinende Formulierung bemüht.
Da Bernard sonst keinen Abend außerhalb des Hauses verbrachte, so vermochte Monsieur Profitendieu von Antoine verstohlen beobachtet –… eine gewisse Erregung nicht zu unterdrücken.
»Was? Bevor er …?«
Er faßte sich augenblicklich. Sollte er sich betroffen zeigen vor einem Subalternen? Seine Überlegenheit verließ ihn nicht, und so sagte er nur, mit meisterhafter Ruhe: »Es ist gut.«
Und, schon auf dem Wege ins Arbeitszimmer:
»Wo, sagst du, liegt dieser Brief?«
»Auf dem Schreibtisch von Monsieur.«
In der Tat bemerkte Profitendieu gleich bei seinem Eintreten etwas Weißes, das recht auffällig mitten auf den Tisch gelegt worden war. Doch Antoine gab sein Opfer nicht so rasch frei, und Monsieur Profitendieu hatte den Brief kaum geöffnet, als an die Tür geklopft wurde.
»Ich habe vergessen, Monsieur zu sagen, daß zwei Herren im kleinen Salon warten.«
»Was für Herren?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gehören sie zusammen?«
»Es scheint nicht so.«
»Was wollen sie denn?«
»Ich weiß es nicht; sie möchten Monsieur sprechen.«
Profitendieu fühlte sich am Ende seiner Geduld.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß ich zu Hause nicht belästigt sein will –… zumal um diese Zeit! Ich habe meine Empfangsstunden im Palais … Warum hast du sie eintreten lassen?«
»Sie sagten, sie hätten Monsieur etwas Dringendes mitzuteilen.«
»Und sie sind schon lange da?«
»Seit einer Stunde ungefähr.«
Profitendieu fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Die andere Hand hielt Bernards Brief. Antoine stand an der Tür, würdig, unbeweglich. Endlich erlebte er das beglückende Schauspiel, daß der Herr Untersuchungsrichter seine Selbstbeherrschung verlor, daß er –… zum allerersten Male –… mit dem Fuß auf die Erde stampfte und schrie:
»Man soll mich in Ruhe lassen! Ich wünsche in Ruhe gelassen zu werden! Sag ihnen, ich sei beschäftigt; sie sollen ein andermal wiederkommen.«
Antoine war kaum hinaus, als Profitendieu an die Tür stürzte und ihm nachrief:
»Antoine! Antoine! … Und dreh in der Badestube die Hähne zu.«
Hübsche Zeit jetzt, ein Bad zu nehmen! Er trat ans Fenster und las:
Monsieur,
Eine gewisse Entdeckung, die ich heute nachmittag zufällig gemacht habe, hat mir gesagt, daß ich aufhören muß, Sie als meinen Vater anzusehen. Das ist mir eine unendliche Erleichterung. Ich habe mich, wegen der Geringfügigkeit meiner Liebe zu Ihnen, jahrelang für ein entartetes Kind gehalten: jetzt weiß ich, daß ich Ihr Kind überhaupt nicht bin, und das ist mir bei weitem lieber. Vielleicht meinen Sie, ich sei Ihnen Dank schuldig, weil Sie mich ebenso gehalten hätten wie Ihre eigenen Kinder? Aber ich habe in Ihrer Stellung zu meinen (halben) Geschwistern und zu mir immer einen Unterschied verspürt, und ferner kenne ich Sie gut genug, um zu wissen, daß Ihr Handeln einzig vom Schreckgespenst eines Skandals diktiert ist. Sie wünschten eine Sachlage, die Ihnen nicht gerade zur Ehre gereicht, zu verdecken, und das war schließlich ja auch das beste, was Sie tun konnten. Ich gehe von Hause weg, ohne meiner Mutter Adieu zu sagen, weil ich dabei vielleicht in Rührung verfiele und weil ich ihr eine peinliche Szene ersparen möchte. Ich glaube kaum, daß ihre Neigung zu mir besonders lebhaft ist; da ich meist in Pension war, hat sie eigentlich kaum Zeit gehabt, mich kennenzulernen; und da mein Anblick sie unablässig an eine Episode erinnerte, deren Spuren sie gern verwischen möchte, so wird sie mich wohl leichten, frohen Herzens von der Bildfläche verschwinden sehen. Sagen Sie ihr, falls Sie den Mut dazu haben, daß ich es ihr nicht verüble, mich zum Bastard gemacht zu haben, sondern daß mir das lieber ist, als mich von Ihnen erzeugt zu wissen. (Entschuldigen Sie diese Redeweise: meine Absicht ist nicht, Ihnen Beleidigungen zu sagen; aber meine Äußerungen werden Ihnen erlauben, mich zu verachten, und das wird Sie erleichtern.)
Falls Sie wünschen, daß ich Schweigen bewahre über die geheimen Gründe, die mich aus Ihrem Hause treiben, so versuchen Sie mich in keiner Weise zur Rückkehr zu bewegen. Mein Entschluß, Ihren Herd zu verlassen, ist unwiderruflich. Wieviel Kosten mein bisheriger Unterhalt Ihnen verursacht hat, kann ich nicht abschätzen –… der Unwissende mochte sich von Ihnen ernähren lassen, aber in Zukunft will ich selbstverständlich keinen Sou mehr von Ihnen annehmen. Der Gedanke, dazu gezwungen zu sein, wäre mir unerträglich; ich glaube, daß ich lieber Hungers sterben als noch einmal von Ihrem Tische essen möchte. Zum Glück darf ich vermuten, daß meine Mutter, als sie Ihre Frau wurde, reicher war als Sie. Ich kann also annehmen, daß ich von dem Vermögen meiner Mutter gelebt habe. Ich danke ihr, halte alles übrige für beglichen und bitte sie, mich zu vergessen. Sie werden wohl ein Mittel finden, denen, die sich vielleicht darüber wundern, meinen Weggang zu erklären. Ich ermächtige Sie, mich zu belasten (was Sie übrigens sowieso tun würden).
Ich zeichne mit Ihrem lächerlichen Namen, den ich mit Schande bedecken und Ihnen vor die Füße werfen möchte,
Bernard Profitendieu.
Nachschrift. –… Ich lasse alle meine Sachen zurück. Caloub kann sie ja noch brauchen –… hoffentlich mit besserer Legitimation als ich!
Monsieur Profitendieu sank in einen Sessel. Er wollte nachdenken, aber es wirbelte ihm alles im Kopfe. Außerdem verspürte er auf der rechten Seite, da, unterhalb der Rippen, ein leises Stechen. Kein Zweifel möglich: das war die Leberkrise. War denn nicht wenigstens Mineralwasser im Hause? Wenn doch seine Frau zurück wäre! Wie sollte er ihr das Geschehene nur mitteilen? Ihr den Brief zeigen? Er war ungerecht, dieser Brief, abscheulich ungerecht! Mußte man nicht empört sein über soviel Bosheit? Profitendieu möchte seine Traurigkeit für Empörung nehmen. Er atmet heftig, und es entringen sich ihm schnelle kleine Seufzer: »O mein Gott!« Der seitliche Schmerz vermischt sich mit der Traurigkeit, beweist und lokalisiert sie. Ihm ist, als empfände er Seelenschmerz in der Leber. Er wirft sich in einen Stuhl und liest Bernards Brief noch einmal. Traurig zuckt er mit den Achseln. Gewiß, dieser Brief ist grausam gegen ihn; aber er spürt einen trotzig-selbstbewußten Wurf darin. Keines seiner anderen Kinder, seiner wahren Kinder, hätte einen solchen Brief schreiben können, und er selbst, ihr Vater, ebensowenig. Gewiß, das Fremdartige in Bernards Charakter, jenes Wilde, Ungezähmte –… das hat er stets tadeln zu müssen geglaubt; um so deutlicher fühlt er jetzt, daß er Bernard, gerade um dieser herben Züge willen, so geliebt hat, wie er die andern nie geliebt hat.
Seit einigen Augenblicken hört man Musik aus dem Nebenzimmer. Es ist Cécile, die, vom Konzert zurück, sich ans Klavier gesetzt hat und immer denselben Satz einer Barcarole hartnäckig wiederholt. Schließlich hält Albéric Profitendieu es nicht mehr aus. Er öffnet leise die Tür und sagt klagenden, beinahe flehenden Tones (denn die Leberkolik hatte sich verschlimmert, und er war immer etwas ängstlich damit gewesen):
»Meine kleine Cécile, möchtest du nicht einmal nachsehen, ob wir Eau de Vichy im Hause haben? Wenn nicht, so laß, bitte, welches holen. Und dann wäre es freundlich von dir, wenn du ein bißchen mit dem Spielen aufhören wolltest.«
»Es geht dir nicht gut, Papa?«
»Oh doch, ganz gut. Nur muß ich bis zum Abendessen etwas nachdenken, und dabei stört mich deine Musik.«
Und liebenswürdig, denn der Schmerz macht ihn milde, fügt er hinzu:
»Es war übrigens hübsch, was du gespielt hast. Was war es denn?«
Er zieht sich zurück, ohne auf Antwort zu warten. Übrigens beabsichtigt Cécile auch gar nicht zu antworten, da sie weiß, daß er nichts von Musik versteht und den Tannhäuser-Marsch mit »Komm, Karlinchen« verwechselt (wenigstens behauptet sie das). Doch er öffnet die Tür von neuem:
»Mama ist noch nicht zurück?«
»Nein, noch nicht.«
Das ist peinlich. Wahrscheinlich kommt sie so spät, daß vorm Essen keine Zeit mehr bleibt, mit ihr zu sprechen. Und was könnte er sich ausdenken, um Bernards Abwesenheit wenigstens vorläufig plausibel zu machen? Die Wahrheit konnte er doch nicht sagen! Er konnte doch den Kindern das Geheimnis von Mamas verjährtem Seitensprung nicht ausliefern! Ach, jene Sache war ja längst vergeben, vergessen, wiedergutgemacht! Die Geburt eines letzten Sohnes hatte die Versöhnung besiegelt. Und plötzlich taucht nun aus der Vergangenheit dieser rächende Schatten auf, dieses längst verschwunden geglaubte Gespenst …
Aber was gibt es da noch? Die Tür zu seinem Arbeitszimmer hat sich leise geöffnet. Rasch steckt er den Brief in seine innere Rocktasche. Jetzt hebt sich sachte der Vorhang: es ist der kleine Caloub.
»Papa, sag mir, bitte, was bedeutet dieser lateinische Satz? … Ich werde nicht klug daraus.«
»Ich habe dir doch gesagt, daß du nicht eintreten sollst, ohne anzuklopfen! Und du sollst mich auch nicht jeden Augenblick stören, verstanden? Dies ewige Fragen! Immer verläßt du dich auf andere, anstatt auf dich selbst! Gestern war es die geometrische Aufgabe, und heute ist es ein –… von welchem Autor ist er denn, dein lateinischer Satz?«
Caloub hält ihm das Heft hin:
»Das hat er uns nicht gesagt. Aber, sieh, hier: du erkennst es sicherlich gleich. Er hat's uns diktiert, aber vielleicht habe ich nicht genau nachgeschrieben. Ich möchte wenigstens wissen, ob es richtig ist …«
Monsieur Profitendieu nimmt das Heft –… doch er leidet zu sehr. Sanft macht er sich los von dem Kinde:
»Später. Jetzt ist Zeit zum Essen. Ist Charles schon da?«
»Er ist unten in seinem Bureau.« (Der Herr Rechtsanwalt empfing seine Klienten im Erdgeschoß.)
»Dann sage ihm, er möge zu mir 'raufkommen. Mach schnell!«
Die Klingel ertönt. Endlich kommt Madame Profitendieu nach Hause. Sie entschuldigt sich wegen der Verspätung: sie habe viele Besuche machen müssen. Sie ist betrübt, ihren Gemahl leidend zu finden. Was kann man für ihn tun? Er sieht wirklich recht elend aus. –… Nein, er habe keinen Appetit; man möge sich ohne ihn zu Tisch setzen; aber nach dem Essen möge sie, mit den Kindern, wieder zu ihm kommen. –… Bernard? –… »Ach ja, sein Freund … du weißt: der, mit dem er die mathematischen Nachhilfestunden hatte … der hat ihn zum Abendessen abgeholt.«
Profitendieu fühlte sich besser. Zuerst hatte er gefürchtet, die Schmerzen würden ihn hindern, zu sprechen. Aber es war doch so wichtig, eine Erklärung für Bernards Verschwinden zu geben! Jetzt wußte er, was er zu sagen hatte, so peinlich es sein mochte. Er fühlte sich stark und entschlossen. Nur davor hatte er Angst, daß seiner Frau schlecht werden könne, daß sie ihn unterbreche durch Tränen, durch einen Schrei …
Eine Stunde später tritt sie wieder ein, mit den drei Kindern. Sie kommt näher. Er fordert sie auf, dicht bei ihm Platz zu nehmen.
»Versuch ruhig zu bleiben«, sagt er leise und doch gebieterisch zu ihr, »und sprich kein Wort, hörst du? Nachher reden wir beide zusammen.«
Er hat ihre Hand genommen und hält sie lange.
»Also, setzt euch, Kinder. Ihr steht ja da wie die Examinanden vorm Professor! … Also, ich habe euch etwas sehr Trauriges mitzuteilen. Bernard hat uns verlassen und wir werden ihn … eine Zeitlang nicht wiedersehen. Ich muß euch heute etwas offenbaren, was ich euch, damit ihr Bernard wie einen Bruder lieben solltet, bisher verborgen habe; denn Mama und ich, wir liebten ihn wie unser eigenes Kind. Aber er war nicht unser Kind … und ein Onkel von ihm, ein Bruder seiner wirklichen Mutter, die ihn uns auf ihrem Sterbebette anvertraut hatte, ist heute abend gekommen und hat ihn mitgenommen.«
Ein bedrücktes Schweigen folgt diesen Worten. Man hört nur Caloub, der sich die Nase schneuzt. Alle warten, in der Meinung, der Vater werde mehr sagen. Doch er macht eine Bewegung:
»Geht jetzt, Kinder; Mama und ich möchten allein sein.«
Wie die Kinder hinaus sind, verbleibt Profitendieu lange stumm. Die Hand seiner Frau, die noch in der seinen ruht, ist wie tot. Mit der andern hält sie ihr Taschentuch an die Augen gepreßt. Sie sitzt gebeugt da und wendet ihr Gesicht ab, um zu weinen. Und durch das Schluchzen hindurch, das sie schüttelt, hört Profitendieu sie murmeln:
»Oh, wie grausam Sie sind! … Sie haben ihn weggejagt …«
Er war entschlossen gewesen, ihr Bernards Brief nicht zu zeigen; doch, angesichts einer so ungerechten Beschuldigung, holt er ihn hervor:
»Da: lies.«
»Ich kann nicht.«
»Du mußt lesen!«
Er denkt nicht mehr an sein Leiden. Er folgt ihr mit den Augen. Zeile für Zeile, während sie liest. Vorhin, als er sprach, hatte er seinen Tränen kaum gebieten können; jetzt verläßt ihn jede Erregung: er beobachtet seine Frau. Was denkt sie? Mit derselben anklagenden Stimme, durch dasselbe Schluchzen hindurch murmelt sie:
»Oh, warum hast du's ihm gesagt? … Das hättest du nicht tun dürfen.«
»Aber du siehst doch, daß ich ihm nichts gesagt habe … Lies doch genauer.«
»Ich hab' genau gelesen … Aber wie hat er's denn entdeckt? Wer hat's ihm gesagt?«
Also daran denkt sie! Das ist ihre Hauptsorge! … Dieser Schicksalsschlag hätte ein neues Einverständnis von Mann und Frau bewirken sollen; aber dunkel spürt Profitendieu, wie ihrer beider Gedanken in verschiedener Richtung gehen. Und während sie jammert, anklagt, zurückfordert, versucht er diesen widerspenstigen Sinn zu sanfteren Gefühlen hinzulenken:
»Es ist die Sühne«, sagt er.
Er hat sich erhoben, aus unbewußtem Herrschbedürfnis. Nun steht er hoch aufgerichtet, seines körperlichen Schmerzes nicht achtend, und legt gewichtig, zärtlich, bedeutsam seine Hand auf Marguerites Schulter. Er weiß sehr gut, daß sie ihre ›flüchtige Irrung‹ (als solche hat er den Fall rubriziert) stets nur höchst unvollkommen bereut hat. Nun möchte er ihr sagen, daß die jetzige Prüfung eine Art Buße sein könne –… doch vergebens sucht er diesen Gedanken in eine passende, nicht verletzende Form zu kleiden. Marguerites Schulter widersteht dem leichten Druck seiner Hand. Marguerite weiß leider genau, daß aus allen Vorkommnissen des Lebens, selbst den geringsten, in unerträglicher Weise irgendein moralischer Lehrsatz hervorgeht, ans Licht gezogen von ihrem Manne. Alles deutet er nach seinen Dogmen. Jetzt neigt er sich über sie. Folgendes möchte er ihr sagen:
»Meine arme Freundin, siehst du: aus der Sünde kann nichts Gutes erwachsen. Es war unnütz, deinen Fehler verdecken zu wollen. Ich habe für dieses Kind getan, was ich konnte; ich hab' es gehalten wie mein eigenes. Doch nun gibt Gott uns zu verstehen, daß es ein Irrtum war, sich anzumaßen …«
Aber schon beim ersten Satz hält er inne.
Und sicherlich begreift sie diese wenigen, sinnvollen Worte. Sicherlich sind sie ihr ins Herz gedrungen, denn sie beginnt von neuem zu schluchzen, heftiger als zuvor. Dann sinkt sie zusammen, fast als wolle sie vor ihm auf die Knie fallen. Doch er neigt sich zu ihr und hält sie … Was flüstert sie unter Tränen? Er nähert sein Ohr ihrem Munde und vernimmt:
»Da siehst du es … da siehst du es … Ach, warum hast du mir verziehen? … Oh, ich hätte nicht wiederkommen sollen!«
Fast muß er erraten, was sie sagt. Dann verstummt sie. Sie kann nicht besser ausdrücken, was sie empfindet. Wie hätte sie ihm auch klarmachen sollen, daß sie sich in der Tugend, die er von ihr verlangte, eingekerkert fühlte? daß sie darin erstickte? und daß sie heute weniger ihren Fehltritt bereut, als vielmehr die Tatsache, ihn bereut zu haben?
Profitendieu hat sich aufgerichtet. »Meine arme Freundin«, sagt er streng und würdig, »ich fürchte, du bist heute abend in etwas oppositioneller Laune. Es ist spät. Man sollte lieber schlafen gehen.«
Er hilft ihr, sich zu erheben. Dann begleitet er sie in ihr Zimmer, drückt seine Lippen auf ihre Stirn, kehrt in sein Arbeitszimmer zurück und wirft sich in einen Sessel. Seltsam: die Leberkrise ist vorüber. Aber er fühlt sich ganz gebrochen. So bleibt er lange sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, zu traurig, um zu weinen. Er hört nicht, daß draußen geklopft wird, doch beim Geräusch der sich öffnenden Tür blickt er auf: es ist sein Sohn Charles.
»Ich wollte dir gute Nacht sagen.«
Charles tritt näher. Er hat alles begriffen. Er möchte seinem Vater das zu erkennen geben. Er möchte ihn seines Mitgefühls, seiner Liebe und Ergebenheit versichern. Doch (wer hätte das von einem Advokaten gedacht?) er äußert diese Empfindungen auf höchst ungeschickte Weise. (Vielleicht ist sein Benehmen aber gerade deswegen ungeschickt, weil seine Gefühle aufrichtig sind?) Er umarmt seinen Vater. Die Ausführlichkeit, mit der er den Kopf an dessen Schulter gelehnt hält, beweist diesem, daß der Sohn verstanden hat. Er hat so gut verstanden, daß er jetzt den Kopf ein wenig hebt und fragt (wiederum höchst linkisch; aber er ist so aufgeregt, daß er die Frage nicht unterdrücken kann):
»Und Caloub?«
Die Frage ist lächerlich, denn so sehr Bernard sich von den übrigen Kindern unterschied, so unverkennbar ist bei Caloub die Familienähnlichkeit. Profitendieu klopft Charles auf die Schulter:
»Nein, nein! Da kannst du ruhig sein. Nur Bernard!«
Darauf Charles, bedeutungsvoll:
»Es verjagt Gott den Eindringling, um …
Doch Profitendieu unterbricht ihn: dieser Ton berührt ihn nicht angenehm.
»Sei still.«
Vater und Sohn haben sich nichts mehr zu sagen. Es ist bald elf Uhr. Lassen wir Madame Profitendieu in ihrem Schlafzimmer, wie sie dasitzt auf einem unbequemen kleinen Stuhl. Sie weint nicht; sie denkt an nichts. Auch sie möchte das Haus verlassen; aber sie wird es nicht tun. Schon damals, als sie mit ihrem Geliebten, Bernards Vater (dessen Bekanntschaft wir nicht zu machen brauchen), hatte fliehen wollen, war sie zu der Erkenntnis gekommen: »Ich kann's anstellen, wie ich will: ich werde doch immer nur eine ehrbare Frau bleiben.« Sie hatte Angst vor der Freiheit, vor dem Verbotenen, vor der Ungebundenheit; und so kehrte sie nach Ablauf von zehn Tagen reuig in die eheliche Gemeinschaft zurück. Von ihren Eltern hatte sie, als Kind, oft genug zu hören bekommen: »Du weißt nie, was du willst.« Lassen wir sie. Cécile schläft schon. Caloub sieht verzweifelt auf die Kerze neben seinem Bett; sie wird nicht lange genug brennen, um ihn den Kriminalroman, über dem er Bernards Entschwinden vergessen hat, noch beenden zu lassen. Neugierig wäre ich gewesen, zu erfahren, was Antoine seiner Freundin, der Köchin, wohl erzählt haben mag; doch man kann nicht überall sein. Jetzt ist die Stunde da, wo Bernard, der Verabredung gemäß, zu Olivier kommen soll. Ich weiß nicht genau, wo er heute abend gegessen hat und ob er überhaupt gegessen hat. Er ist ungehindert an der Portiersloge vorbeigekommen; nun schleicht er verstohlen die Treppe hinauf …