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Aus Edouards Tagebuch (Fortsetzung):
»Den 29. September. –… Den alten La Pérouse besucht. Das Dienstmädchen zögerte, mich eintreten zu lassen. »Monsieur will niemand sehen.« Doch ich ließ mich nicht abweisen, und schließlich führte sie mich in den Salon. Die Fensterläden waren geschlossen, und nur mit Mühe vermochte ich in dem Halbdunkel meinen alten Lehrer zu erkennen, der in einem riesigen Lehnstuhl ganz zu versinken schien. Ohne sich zu erheben und ohne mich anzusehen, reichte er mir, von der Seite her, eine schlaffe Hand, die, nachdem ich sie gedrückt, wie tot zurückfiel. Ich setzte mich neben ihn, so daß ich ihn im Profil sehen konnte. Seine Züge waren hart und starr. Manchmal bewegten sich seine Lippen, aber er sagte nichts. Ich begann zu zweifeln, ob er mich überhaupt erkannt habe. Da schlug die Uhr vier, und er, wie durch das Räderwerk in Gang gesetzt, wandte langsam den Kopf und sagte mit feierlicher Stimme, die doch tonlos und wie von jenseits des Grabes klang:
»Warum hat man Sie eintreten lassen? Die Magd war beauftragt, einem jeden, der nach mir fragen sollte, zu erklären: Monsieur de la Pérouse ist gestorben.«
Was mich bekümmerte, waren nicht so sehr diese aberwitzigen Worte, als der Ton, in dem sie gesagt wurden: ein aufgedunsener, unsäglich affektierter Ton, an den mein alter Lehrer, sonst so natürlich und vertrauensvoll zu mir, mich nicht gewöhnt hatte.
»Das arme Mädchen hat aber nicht lügen wollen«, brachte ich endlich hervor. »Schelten Sie sie darum nicht: ich bin froh, Sie wiederzusehen!«
Er wiederholte mit dumpfer Stimme: »Monsieur de la Pérouse ist gestorben.« Dann versank er wieder in Schweigen. Eine Regung des Mißbehagens packte mich, und ich erhob mich, um zu gehen: vielleicht würde es mir ein andermal gelingen, die Ursache dieser traurigen Komödie zu ergründen. Doch in diesem Augenblick trat das Mädchen wieder ein, eine Tasse dampfender Schokolade in der Hand:
»Will Monsieur sich nicht ein bißchen zwingen? Er hat heute noch nichts zu sich genommen!«
La Pérouse fuhr unwillig auf, wie ein Schauspieler, dem ein ungeschickter Statist seinen Effekt verdirbt:
»Nachher! Wenn ich keinen Besuch mehr habe!«
Doch kaum hatte die Magd das Zimmer verlassen:
»Lieber Freund, wollen Sie die Güte haben, mir ein Glas Wasser zu holen? Ein einfaches Glas Wasser. Ich sterbe vor Durst.«
Im Eßzimmer fand ich Glas und Karaffe und brachte sie. Er goß sich ein, leerte das Glas in einem Zuge und wischte sich die Lippen mit dem Ärmel seiner zerschlissenen Alpaka-Jacke.
»Haben Sie Fieber?« fragte ich.
Dieser Satz rief ihm seine Rolle zurück:
»Monsieur de la Pérouse hat kein Fieber. Er hat nichts mehr! Seit Mittwoch abend weilt Monsieur de la Pérouse nicht mehr unter den Lebenden.«
Ich überlegte, ob es nicht das beste sei, auf sein Spiel einzugehen:
»War es nicht gerade Mittwoch, als der kleine Boris bei Ihnen war?«
Er wandte mir sein Gesicht zu. Bei dem Namen ›Boris‹ huschte ein Schatten seines einstigen Lächelns über seine Züge, und, die düstere Verstellung aufgebend, sagte er:
»Mein Freund, Ihnen kann ich es ja anvertrauen: Mittwoch war der letzte Tag, der mir geschenkt war …«; er hielt inne; dann, leiser: »... der letzte Tag, den ich mir zugebilligt hatte, bevor ich … ein Ende machen wollte.«
Mit Schrecken sah ich La Pérouse auf jenen düsteren Gedanken zurückkommen. Es ward mir bewußt, daß ich seine früheren Äußerungen darüber eigentlich nie recht ernst genommen, ja, daß ich sie fast ganz aus dem Gedächtnis verloren hatte. Das warf ich mir jetzt vor. Und plötzlich erinnerte ich mich an alles. Auch daran erinnerte ich mich, daß er mir damals von einem weiter entfernten Termin gesprochen hatte. Als ich ihn darauf hinwies, gestand er mir, in einem nicht mehr erkünstelten, sondern sogar fast launigen Tone, in bezug auf das Datum habe er mich damals absichtlich irregeführt: er habe es mir gegenüber ein wenig weiter hinausgeschoben, aus Furcht, daß ich sonst versuchen würde, ihn an seinem Vorhaben zu hindern, oder daß ich etwa meine Rückkehr um deswillen überstürzen würde –… aber er habe sich, mehrere Abende nacheinander, auf die Knie geworfen und Gott angefleht, ihn vor seinem Tode den kleinen Boris noch sehen zu lassen.
»Ja, ich war sogar mit Gott übereingekommen«, fügte er hinzu, »daß ich im Notfalle meinen Abschied noch um ein paar Tage hinauszögern dürfe … wegen der bestimmten Zusicherung, die Sie mir gegeben hatten, mir das Kind zu bringen, erinnern Sie sich?«
Ich nahm seine Hand. Sie war eisig. Ich wärmte sie in der meinen. Er fuhr mit eintöniger Stimme fort:
»Als ich dann sah, daß Sie das Ende der Ferien gar nicht abwarteten, um zurückzukehren, und daß ich meinen Enkel zu Gesicht bekommen würde, ohne deswegen ein späteres Datum für meinen Abschied wählen zu müssen, da glaubte ich, daß … da schien es mir, als ob Gott mein Gebet erhört habe. Ich glaubte, er gebe meinem Plane seine Zustimmung. Ja, das glaubte ich. Ich verstand nicht gleich, daß er sich über mich lustig machte, wie immer und überall!«
Er entzog mir seine Hand und fuhr lebhafter fort:
»Also am Mittwochabend wollte ich ein Ende machen, so hatte ich es mir vorgenommen. Und im Laufe desselben Tages haben sie Boris zu mir gebracht. Ich habe im Zusammensein mit ihm nicht ganz die Freude empfunden, die ich erwartet hatte, das muß ich gestehen. Ich habe darüber dann nachgedacht. Natürlich hatte ich auch gar kein Recht, zu hoffen, der Knabe werde besonders glücklich darüber sein, mich kennenzulernen. Seine Mutter hatte ja nie mit ihm über mich gesprochen!«
Er stockte. Seine Lippen zitterten. Ich glaubte, er werde weinen.
»Es ist der innige Wunsch Ihres Enkels, Sie liebhaben zu dürfen; er muß nur erst etwas näher mit Ihnen vertraut werden«, sagte ich, ohne allzugroße Zuversicht.
»Als der Kleine mich verlassen hatte«, hub La Pérouse wieder an, ohne auf meine Worte einzugehen, »und als ich mich nun abends mit mir allein befand (denn Madame de la Pérouse ist ja nicht mehr hier), sagte ich zu mir: ›Nun ist der Moment gekommen!‹ Sie müssen wissen, daß mein verstorbener Bruder mir ein paar Pistolen hinterlassen hat, die immer in einem Etui am Kopfende meines Bettes liegen. Dies Etui holte ich also und setzte mich in einen Lehnstuhl: denselben, in dem Sie mich jetzt sehen. Und lud die eine Pistole …«
Er wandte sich mir zu und wiederholte, jäh aufbrausend, als hätte ich an seinen Worten gezweifelt: –… »Ja, ich habe sie geladen! Sie können sich überzeugen: sie ist auch jetzt noch geladen! … Was ist geschehen? Ich verstehe es immer noch nicht ganz … Ich hob die Pistole an meine Stirn. Ich hielt sie lange gegen meine Schläfe. Aber ich habe nicht losgedrückt. Ich hab es nicht können … Im letzten Augenblick, es ist schmählich zu sagen, hab ich nicht den Mut gehabt, loszudrücken! …«
Während des Sprechens war er immer aufgeregter geworden. Seine Augen glänzten, und ein schwaches Rot färbte seine Wangen. Er sah mich an und schüttelte den Kopf:
»Können Sie sich das erklären? Eine Sache, die so fest beschlossen war! An die ich seit Monaten unaufhörlich gedacht hatte! … Oder sollte es vielleicht gerade daher kommen?! Sollte vielleicht gerade dieses lange Vorausbedenken meinen Mut gelähmt haben? …«
»Genau so, wie Sie alle Freude des Zusammenseins mit Boris in Gedanken vorweggenommen hatten!« bemerkte ich. Doch er fuhr fort:
»Lange Zeit habe ich so dagesessen, mit der Pistole gegen die Schläfe. Den Finger hielt ich am Drücker. Ich drückte auch ein wenig; aber nicht stark genug. Ich sagte zu mir: ›In einigen Sekunden werde ich stärker drücken, und dann wird der Schuß losgehen‹. Ich spürte die Kälte des Metalls an meiner Schläfe und sagte zu mir: ›In einigen Sekunden werde ich nichts mehr spüren; aber vorher werde ich einen schrecklichen Knall hören‹. Bedenken Sie doch: so nahe am Ohr! … Ja, das war es besonders, was mich zurückgehalten hat; die Angst vor dem Knall! … Das ist lächerlich, nicht wahr?, denn wenn man erst tot ist … Ja, aber der Tod sollte ein Schlaf für mich sein, so hatte ich es gehofft; und ein Knall, der schläfert nicht ein: der weckt auf! … Ja, sicherlich war es das, was mich so entsetzt hat: ich hatte Angst, daß ich anstatt einzuschlafen, mit einem jähen Ruck aufwachen würde!«
Er schien sich erst wieder fassen (oder besser: sammeln) zu müssen, und während einiger Augenblicke bewegten sich seine Lippen wie im Leeren. Dann hub er von neuem an:
»Alles das hab ich mir erst später zum Bewußtsein zu bringen gesucht. Im Grunde liegt die Sache so, daß, wenn ich mich nicht getötet habe, ich eben nicht die Freiheit des Willens gehabt habe, es zu tun. Ich sage jetzt: ich habe Furcht gehabt. Aber es war nicht eigentlich das … Etwas meinem Willen Fremdes, etwas Stärkeres als mein Wille hat mich zurückgehalten … Es ist, als habe Gott mir nicht die Erlaubnis zum Weggehen erteilt … Stellen Sie sich eine Marionette vor, die die Szene vor dem Ende des Spiels verlassen wollte … ›Halt, was machen Sie denn da!? Man braucht Sie noch für das Finale! Oh, Sie dachten wohl, Sie könnten weggehen, wann es Ihnen beliebte! …‹ Ja, es ist mir klar geworden, daß das, was wir unseren Willen nennen, die Drähte sind, die uns Marionetten bewegen, und an denen der liebe Gott zieht. Sie verstehen noch nicht ganz, was ich meine? So will ich Ihnen ein Beispiel geben. Ich sage jetzt zu mir: ›Ich werde meinen rechten Arm hochheben‹. Und ich hebe ihn hoch.« (Er tat es.) »Aber ich konnte das nur, weil der Draht schon gezogen war, um mich denken und sagen zu lassen: ›Ich werde meinen rechten Arm hochheben‹ … Und der Beweis dafür, daß ich nicht frei bin, besteht darin, daß, wenn ich den andern Arm hätte hochheben müssen, ich zu Ihnen gesagt hätte: ›Ich will meinen linken Arm hochheben‹ … Nein, ich sehe, daß Sie mich nicht verstehen! Sie sind eben nicht frei, mich zu verstehen … Oh, jetzt ist mir so recht anschaulich geworden, wie Gott sich mit uns amüsiert! Es macht ihm Spaß, uns glauben zu lassen, daß wir, was er uns tun läßt, selbst hätten tun wollen. Darin liegt für ihn ein böser Reiz … Oh, Sie glauben, daß ich wahnsinnig werde!? … Na, stellen Sie sich vor, daß Madame de la Pérouse … Sie wissen, daß sie sich in ein Altersheim zurückgezogen hat … also daß Madame de la Pérouse sich steif und fest einbildet, es sei ein Irrenhaus, in dem sie sich befinde, und ich hätte sie dort einsperren lassen, um sie, als eine unheilbar Wahnsinnige, für immer los zu werden! … Ist es nicht immerhin merkwürdig: jeder beliebige Mensch von der Straße würde einen besser verstehen als die Frau, mit der man sein ganzes Leben verbracht hat! … In der ersten Zeit besuchte ich sie jeden Tag. Doch sowie sie meiner ansichtig wurde: ›Ah, da sind Sie ja wieder! Wollen mich wohl wieder 'n bißchen belauern, was?!‹ Deshalb habe ich schließlich auf diese Besuche, die sie nur noch gehässiger stimmten, verzichten müssen. Ach, wozu soll man noch weiterleben, wenn man keinem Menschen mehr etwas Gutes tun kann!?«
Schluchzen hinderte ihn, fortzufahren. Er barg den Kopf in die Hände. Schon fürchtete ich, er werde in seine frühere Erstarrung zurückfallen, da belebte er sich von neuem:
»Wissen Sie, was sie getan hat, bevor sie aus dem Hause gegangen ist? Sie hat meine Schublade erbrochen und alle Briefe meines verstorbenen Bruders verbrannt! Auf meinen Bruder ist sie immer eifersüchtig gewesen; besonders nach seinem Tode. Jedesmal, wenn sie mich nachts beim Lesen seiner Briefe fand, machte sie mir eine gräßliche Szene … Dann pflegte sie zu sagen: ›Ah, Sie haben also gewartet, bis ich eingeschlafen bin, um sich wieder heimlich zu Ihrem Bruder zu schleichen! … Aber Sie sollten doch lieber zu Bett gehen, denn dieses nächtliche Lesen verdirbt Ihnen nur die Augen!‹ Das sollte klingen, als ob sie um meine Gesundheit besorgt wäre … Aber ich kannte sie besser: es war nichts als Eifersucht! Sie hat mich eben nicht allein lassen wollen mit meinem Bruder!«
»Weil sie Sie liebte! Es gibt keine Eifersucht ohne Liebe.«
»Nun, so ist es desto grauenvoller, daß die Liebe nicht das Glück, sondern das Martyrium des andern im Gefolge haben soll! … Gottes Liebe zu den Menschen ist vermutlich von ähnlicher Art.«
Er war beim Sprechen wieder lebhaft geworden. Plötzlich sagte er:
»Ich habe Hunger. Wenn ich mal was essen will, so bringt mir dieses Dienstmädchen immer nur Schokolade! … Offenbar hat Madame de la Pérouse ihr gesagt, ich nähme nie etwas anderes zu mir. Wollen Sie vielleicht so liebenswürdig sein und in die Küche gehen … die zweite Tür rechts im Korridor … und nachsehen, ob keine Eier da sind? Ich glaube, sie hat mir gesagt, daß welche da wären.«
»Soll sie Ihnen nicht ein Spiegelei machen?«
»Ich glaube, ich äße ganz gern zwei! Wollen Sie die große Freundlichkeit haben? Mir selbst gelingt es ja nie, mich dem Mädchen verständlich zu machen.« –…
»Lieber Freund«, sagte ich, als ich wieder eintrat, »Ihre Eier werden gleich fertig sein! Wenn Sie erlauben, bleibe ich noch da, während Sie sie verzehren. Ja, es wird mir wirklich Freude machen, Ihnen zuzusehen! … Es war mir vorhin besonders schmerzlich, Sie sagen zu hören, Sie könnten keinem Menschen mehr Gutes erweisen. Dabei scheinen Sie den kleinen Boris ganz vergessen zu haben. Nun, Ihr Freund Azaïs macht Ihnen den Vorschlag, in die Pension überzusiedeln und dort in nächster Nähe Ihres Enkels zu leben. Er hat mich beauftragt, Ihnen das zu sagen. Er meint, daß jetzt, wo Madame de la Pérouse nicht mehr hier ist, eigentlich nichts dagegen spräche.«
Ich hatte mich auf einigen Widerstand gefaßt gemacht, doch er fragte kaum nach den Bedingungen der neuen Existenz, die sich ihm so unerwartet bot.
»Wenn ich mich auch nicht getötet habe, so bin ich darum doch nicht weniger tot … Hier oder dort, das bedeutet für mich nicht mehr viel«, sagte er; »Sie können mich mitnehmen.«
Wir verabredeten, daß ich ihn übermorgen abholen solle. Inzwischen würde ich ihm für seine Kleidungsstücke, und was er sonst noch einzupacken wünsche, zwei von meinen Koffern zur Verfügung stellen.
»Da Sie übrigens diese Wohnung doch bis zum Ablauf der Miete behalten«, sagte ich, »so kann man ja gelegentlich wieder herkommen und holen, was noch fehlen sollte.« –…
Das Mädchen brachte die Eier, die er verschlang. Mit Befriedigung sah ich, wie die Natur endlich ihre Rechte geltend machte, und gab dem Mädchen Anweisung, für ein ordentliches Abendessen Sorge zu tragen.
»Ich mache Ihnen soviel Mühe!« sagte er. »Sie sind gut zu mir.«
Ich hätte gewünscht, daß er mir seine Pistolen anvertraute, die ihm ja, sagte ich zu ihm, nunmehr völlig entbehrlich geworden seien; aber er ließ sich nicht dazu bestimmen, sie mir zu geben.
»Sie brauchen keine Angst mehr zu haben! Was ich damals nicht getan habe, das werde ich niemals tun können, das ist sicher! Aber sie sind das einzige Andenken, das ich jetzt noch von meinem Bruder habe, und außerdem muß ich sie behalten, um mich stets daran zu erinnern, daß ich nur ein Spielzeug in den Händen Gottes bin.«