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XII

 

Aus Edouards Tagebuch:

»Oliviers Sachen von Passavant abgeholt. Kaum zurück von dieser Expedition: gearbeitet. Ruhige, klare Erhebung. Ein Glück, wie ich es noch nie empfunden habe. Dreißig Seiten an den »Falschmünzern« geschrieben, ohne innezuhalten, ohne das Geringste auszustreichen. Wie eine nächtliche Landschaft beim jähen Schein eines Blitzes, so taucht jetzt plötzlich das ganze Drama meines Buches aus dem Dunkeln auf, sehr verschieden von meinen bisherigen mißratenen Erfindungsversuchen. Meine früheren Bücher scheinen mir den künstlichen Wasserbecken der Parks vergleichbar zu sein, jenen Bassins, deren Umriß scharf und vielleicht vollkommen, deren gefangenes Wasser aber ganz ohne Leben ist. Jetzt soll es fließen, das Wasser, seinem natürlichen Hange gemäß, bald schnell, bald langsam, in Windungen und Verästelungen, die ich nicht vorauswissen kann und nicht vorauswissen mag.

Herr Y. behauptet, ein guter Romanschreiber müsse, bevor er sein Werk beginne, schon genau wissen, wie es enden werde. Ich, dessen Erzählung sich aufs Geratewohl verzweigen und verwickeln darf, bin der Meinung, daß das Leben uns niemals etwas vorschlägt, was sich nicht, ebensogut wie als Ziel, auch als neuer Ausgangspunkt auffassen ließe. »Könnte fortgesetzt werden« … das müßten die letzten Worte meiner »Falschmünzer« sein …

Besuch von Douviers. –… Das ist sicherlich ein braver Kerl.

Da ich meine Sympathie übertrieb, hatte ich ziemlich peinliche Ergüsse auszuhalten. Während ich mit ihm sprach, erinnerte ich mich der Worte von La Rochefoucauld: »Für die Empfindung des sogenannten Mitleids bin ich wenig begabt; und möchte es noch viel weniger sein … Mitleid kann man vielleicht gelegentlich äußern: aber man sollte sich ängstlich davor hüten, es je zu empfinden.« Dennoch war meine Sympathie unleugbar echt und ich war bis zu Tränen gerührt. Und diese meine Tränen schienen ihn noch wirksamer zu trösten als meine Worte. Es kam mir vor, als ob er auf seine eigene Trauer mit der größten Freigebigkeit verzichte, sowie er mich weinen sah …

Ich war fest entschlossen, ihm den Namen des Verführers nicht auszuliefern. Aber er hat mich, zu meiner Überraschung, auch gar nicht danach gefragt. Mir scheint, seine Eifersucht fällt in sich zusammen, sowie sie sich nicht mehr unter Lauras Augen weiß. Auf jeden Fall hatte der Energieaufwand seiner Reise zu mir die Intensität jenes Gefühls schon erheblich gedämpft.

Etliches Unlogische in seinem Falle. –… Es empört ihn, daß »der andere« Laura im Stich gelassen habe. Ich mache geltend, daß Laura sonst gar nicht zu ihm zurückgekehrt wäre. Er hat sich vorgenommen, das Kind zu lieben, als wäre es sein eigenes. Die Freuden der Vaterschaft: vielleicht hätte er sie ohne den Verführer niemals kennengelernt? Das habe ich ihm allerdings wohlweislich nicht zu bedenken gegeben, denn das Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit hätte seine Eifersucht aufs neue angefacht. Damit aber wäre diese Empfindung ins Gebiet der Eigenliebe gefallen und hätte aufgehört, mich zu interessieren.

Daß ein Othello eifersüchtig ist, erscheint durchaus verständlich: das Bild des Vergnügens, das seine Frau mit einem andern genossen hat, behext ihn. Aber ein Douviers muß sich, um eifersüchtig zu sein, vergegenwärtigen, daß er allen Grund hat, es zu sein.

Und sicherlich unterhält er diese Leidenschaft aus einem geheimen Bedürfnis, seine etwas winzige Persönlichkeit mit einigem Nimbus zu umgeben. Glück, das wäre für ihn das Natürliche. Er aber will sich selbst interessant finden und schätzt daher nur das mühselig Erreichte, nicht das natürlich Gegebene. Ich habe ihn also zu überreden gesucht, einfaches Glück sei verdienstlicher als dämonische Qual, und dabei doch schwer genug zu erreichen … Sichtlich erleichtert verließ er mich.

 

Inkonsequenz der Charaktere. –… Personen, die von Anfang bis zu Ende eines Romanes oder Dramas genau so handeln, wie man es hatte voraussehen können … Man beansprucht unsere Bewunderung für das Beharrungsvermögen solcher Figuren, die sich für mein Gefühl gerade durch solche Starrheit als künstlich und konstruiert erweisen.

Ich behaupte keineswegs, Inkonsequenz sei ein sicheres Anzeichen von Natürlichkeit, denn man findet, zumal bei Frauen, oft genug eine affektierte Inkonsequenz. Andererseits vermag ich, bei einigen besonderen Charakteren, den Geist der sogenannten Folgerichtigkeit durchaus zu bewundern. Aber in den meisten Fällen wird »Konsequenz« des Wesens nur durch eitle Verkrampfung erzielt und auf Kosten jeglicher Natürlichkeit. Je reicher, je quellender an Möglichkeiten die Natur eines Menschen ist, um so wandlungsfähiger bleibt sie auch, und um so weniger wird sie sich ihre Zukunft von der Vergangenheit diktieren lassen. Den »justum et tenacem propositi virum«, den man uns auf der Schule so dringend als Muster gepriesen hat, kann ich mir eigentlich nur als ein recht trockenes, aller Sublimierung widerstrebendes Präparat vorstellen …

Ich habe auch Kerle von wieder anderer Observanz gekannt, die sich mit viel Sorgfalt eine bewußte Originalität zusammengebraut hatten und deren spleenige Wachsamkeit krampfhaft darauf gerichtet war, ihren paar ausgeklügelten Marotten niemals untreu zu werden: sie waren gewaltig auf dem Posten und erlaubten sich keinerlei Seitensprünge. Ich denke an Y. Z., der den Montrachet, Jahrgang 1904, den ich ihm anbot, absolut nicht trinken wollte: »Ich trinke nur Bordeauxweine«, sagte er. Als ich denselben Montrachet dann für Bordeaux ausgab, schmeckte er ihm plötzlich ganz exquisit.

Als ich noch jünger war, da faßte ich Entschlüsse, die ich für tugendhaft hielt. Es lag mir weniger daran, der zu sein, der ich war, als vielmehr der zu werden, der ich zu sein beabsichtigte. Heute bin ich beinahe so weit, in der Entschlußlosigkeit das Geheimnis des Nicht-Altwerdens zu erkennen.

 

Olivier hat mich gefragt, woran ich arbeite. Ich habe mich verleiten lassen, ihm von meinem Buch zu erzählen und ihm sogar in Anbetracht seiner offenbaren Interessiertheit die Seiten vorzulesen, die ich gerade geschrieben hatte. Dabei hatte ich die größte Angst vor seinem Urteil: man kennt ja den Starrsinn der Jugend und ihre geringe Bereitwilligkeit, einen andern Standpunkt als den eigenen gelten zu lassen. Aber die wenigen Bemerkungen, die er schüchtern äußerte, schienen mir ungemein treffend zu sein, und ich habe für meine weitere Arbeit sogleich Nutzen aus ihnen ziehen können.

Durch ihn, Olivier: durch ihn hindurch fühle und atme ich nunmehr.

Er ist immer noch unruhig wegen der Zeitschrift, die er redigieren sollte, und besonders wegen der Novelle, die er auf Passavants Anregung geschrieben hatte und mit der er jetzt nichts mehr zu tun haben will. Die neuen Dispositionen, die der Graf in bezug auf die Revue getroffen hat, bringen, habe ich ihm gesagt, eine Umgestaltung des gesamten Inhalts mit sich, und Olivier wird keinerlei Schwierigkeit haben, sein Manuskript zurückzuziehen.

Den höchst unerwarteten Besuch des Herrn Untersuchungsrichters Profitendieu empfangen. Er wischte sich die Stirn und atmete schwer, als er vor meiner Tür stand, wohl nicht so sehr infolge der sechs Treppen, die er hatte emporklimmen müssen, als aus Verlegenheit über das Motiv, das ihn zu mir führte. Er behielt seinen Hut in der Hand, auch nachdem er sich in meinem Zimmer von mir auf einen Stuhl hatte nötigen lassen. Er ist ein Mann von stattlichem Äußern; seine Distinktion ist unleugbar.

»Sie sind«, sagte er zu mir, »glaube ich, der Schwager des Präsidenten Molinier. Wegen einer Sache, die dessen Sohn Georges betrifft, erlaube ich mir, Sie heute aufzusuchen. Sie werden, so hoffe ich, einen Schritt gütigerweise entschuldigen, der Ihnen zunächst indiskret erscheinen mag, den aber die Neigung und Hochachtung, die ich meinem Kollegen entgegenbringe, auch in Ihren Augen vielleicht rechtfertigen mögen.«

Er hielt inne. Ich erhob mich, um den Vorhang der zum Nebenzimmer führenden Tür zuzuziehen, damit meine (recht neugierige) Haushälterin, die sich dort aufhielt, uns nicht etwa belauschen könne. Profitendieu billigte meine Vorsicht durch ein Lächeln.

»In meiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter«, hub er nunmehr an, »habe ich mich seit einiger Zeit mit einer Angelegenheit zu befassen, die mir außerordentlich peinlich ist. Schon früher hatte Ihr kleiner Neffe sich in ein Abenteuer eingelassen –… doch dies bleibt ganz unter uns, nicht wahr? –…, in ein ziemlich skandalöses Abenteuer, bei dem ich, in Anbetracht seiner großen Jugend, annehmen will, daß seine Unerfahrenheit und seine Vertrauensseligkeit mißbraucht worden sind; ein Abenteuer immerhin, dessen (mit den Interessen der Justiz nicht ganz leicht vereinbare) … Umgrenzung schon einige Geschicklichkeit von mir erfordert hat. Angesichts eines Rückfalls –… der übrigens, wie ich sofort hinzufügen möchte, von ganz anderer Natur ist –… kann ich nun keine Gewähr mehr dafür übernehmen, daß der kleine Georges wieder so leichten Kaufes davonkomme. Ich zweifle sogar daran, ob solche erneute Schonung im Interesse des Kindes selbst liegen würde, trotz meines freundschaftlichen Wunsches, Ihrem Schwager alle Unannehmlichkeiten zu ersparen. Immerhin will ich es versuchen. Aber ich habe Mitarbeiter, verstehen Sie, Agenten, die sich hervortun möchten und deren Eifer sich manchmal nur schwer zähmen läßt. Oder, wenn Sie lieber wollen: heute kann ich diesen Eifer vielleicht noch zurückhalten, morgen nicht mehr. Und so bin ich denn auf die Idee gekommen, daß es wohl sehr gut wäre, wenn Sie, mein Herr, mit Ihrem Neffen sprechen wollten, wenn Sie ihm sagen wollten, welchen Gefahren er sich aussetzt …«

Profitendieus Besuch hatte mich –… warum soll ich es nicht gestehen? –… zunächst furchtbar erschreckt. Aber dann erkannte ich, daß er weder als Feind noch als richterlicher Beamter kam, und so fühlte ich mich alsbald eigentlich mehr auf amüsante Art unterhalten. Und dieses Gefühl nahm im Laufe seiner weiteren Darlegungen nur noch zu.

»Seit etlicher Zeit«, so fuhr Profitendieu fort, »sind falsche Goldstücke im Verkehr. Ich bin davon unterrichtet. Es ist mir noch nicht gelungen, ihre Herkunft zu ermitteln. Aber ich weiß, daß der kleine Georges –… in aller Naivität, wie ich glauben will –… einer von denen ist, die sie in Umlauf setzen. Außer ihm sind es noch ein paar andere Knaben ungefähr seines Alters, die sich solchen bedenklichen Operationen hingeben. Ich zweifle keinen Augenblick, daß es sich bei der ganzen Sache um eine Spekulation auf die Harmlosigkeit unzurechnungsfähiger Kinder handelt, und daß diese die Rolle der Betrogenen in den Händen einiger älterer Missetäter spielen. Wir hätten nun die minderjährigen Delinquenten längst packen und uns die Herkunft des falschen Geldes ohne weiteres von ihnen sagen lassen können. Aber ich weiß nur zu sehr, wie leicht eine Affäre, wenn sie einmal über einen bestimmten Punkt hinaus ist, uns aus den Händen gleiten kann … Ich will damit sagen: in einem gewissen vorgerückten Stadium kann eine Untersuchung nur noch schwer gestoppt werden, und wir könnten uns gezwungen sehen, allerlei Tatsachen offiziell zur Kenntnis zu nehmen, die wir vielleicht lieber ignorieren möchten … Also ziehe ich es, wie die Dinge liegen, vor, die Ausfindigmachung der wahren Schuldigen zu betreiben, ohne eine Vernehmung ihrer minderjährigen Opfer in Betracht zu ziehen. Ich habe daher Anweisung gegeben, daß man diese Schulknaben ganz in Ruhe lasse. Immerhin kann eine solche Milde nur provisorischen Charakter haben: ich will hoffen, daß Ihr Neffe mich nicht zwingt, jene Anweisung zu widerrufen … Jedenfalls wäre es aufs äußerste erwünscht, wenn man ihm zu verstehen gäbe, daß wir die Augen offen halten. Es könnte sogar nichts schaden, wenn Sie ihm einen gehörigen kleinen Schrecken einjagen wollten; der Knabe befindet sich unbestreitbar auf einer schiefen Ebene …«

Ich versprach, mein Bestes zu tun und Georges zu warnen. Aber zu meinem Erstaunen schien Profitendieu gar nicht darauf zu achten, was ich sagte. Sein Blick hatte sich verloren; er wiederholte ein paarmal: »... auf dem, was man eine schiefe Ebene zu nennen pflegt«, dann verstummte er.

Ich weiß nicht, wie lange sein Schweigen dauerte. Während er so wortlos dasaß, war es mir, als könnte ich mit Augen sehen, wie die Gedanken sich in seinem Innern abwickelten, und, bevor er noch den Mund aufgetan hatte, hörte ich ihn schon sagen:

»Ich bin selbst Vater, mein Herr …«

Alles, was er bisher gesagt hatte, verschwand. Einzig sein Sohn Bernard war noch gegenwärtig. Das übrige war Vorwand gewesen: nur um von Bernard zu sprechen, war Monsieur Profitendieu zu mir gekommen.

Wenn sentimentale Herzensergüsse mir stets peinlich gewesen sind, so war dafür nichts geeigneter, mich zu rühren, als diese verhaltene Erregung. Er suchte ihrer nach Kräften Herr zu werden, aber sein Mund bebte vor innerem Krampf. Er konnte nicht weitersprechen. Er verbarg das Gesicht in den Händen, und plötzlich ging ein konvulsivisches Schluchzen durch seinen ganzen Körper.

»Sie sehen, mein Herr«, stammelte er, »Sie sehen, daß ein Kind uns recht elend machen kann.«

Wozu da noch Zurückhaltung? Ich selbst war heftig erregt und rief:

»Wenn Bernard Sie jetzt sehen könnte, das Herz würde ihm zerschmelzen, dessen bin ich sicher!«

Bei alledem fühlte ich mich in großer Verlegenheit. Bernard hatte fast nie mit mir über seinen Vater gesprochen. Ich hatte die Flucht des jungen Mannes vom häuslichen Herde als etwas ganz Natürliches, ja, sogar Förderliches hingenommen, als etwas, das in diesem speziellen Falle durch das Geheimnis von Bernards Geburt noch besonders motiviert wurde … Aber da enthüllten sich nun bei diesem ›unnatürlichen‹ Vater Gefühle, die um so stärker und echter zu sein schienen, je weniger sie von der ›Stimme des Blutes‹ diktiert waren. Angesichts solcher Liebe und solchen Schmerzes mußte ich mich notgedrungen fragen, ob Bernard recht gehandelt habe, indem er von Hause wegging: ich fand nicht mehr den Mut, sein Verhalten zu billigen.

»Verfügen Sie über mich, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen irgendwie nützlich sein könnte«, sagte ich. »Wünschen Sie, daß ich mit ihm spreche? Er hat einen guten Charakter.«

»Ich weiß, ich weiß … Ja, Sie vermögen viel. Ich weiß, daß er die Sommerwochen in Ihrer Gesellschaft verbracht hat. Meine Polizei ist immer ziemlich gut auf dem Posten … Ich weiß auch, daß er gerade heute sein mündliches Examen hat. Ich habe den Moment, wo ich wußte, daß er in der Sorbonne sein müsse, benutzt, um Sie aufzusuchen. Zu anderer Zeit hätte ich gefürchtet, ihn hier zu treffen.«

Seit einigen Augenblicken war meine Erregung im Sinken begriffen, denn ich hatte bemerkt, daß in fast allen seinen Sätzen das Zeitwort ›wissen‹ vorkam. Und sofort begann ich, weniger auf den Sinn seiner Worte zu achten, als auf das Wiederkehren dieser Eigentümlichkeit, die an seinen Beruf zu erinnern schien.

Der Herr Untersuchungsrichter ›wußte‹ auch, daß Bernard sein schriftliches Examen überaus glänzend bestanden habe. Die Gefälligkeit eines der examinierenden Professoren, den er zufällig persönlich kannte, hatte es ihm ermöglicht, Kenntnis zu nehmen von dem französischen Aufsatz seines Sohnes, einer offenbar ganz ausgezeichneten Arbeit. Er sprach von Bernard mit einer Art verhaltener Bewunderung, die mich auf die Vermutung brachte, er halte sich am Ende gar für den richtigen Vater dieses so überaus begabten Wunderkindes.

»Aber, um Himmels willen«, fügte er hinzu, »erzählen Sie ihm von alledem kein Sterbenswörtchen! Er hat ein so stolzes, so mißtrauisches Gemüt! … Wenn er eine Ahnung davon hätte, daß meine Gedanken, seitdem er von Hause weg ist, Tag und Nacht um ihn gewesen sind, daß ich alle seine Schritte aus der Ferne überwacht habe … Immerhin können Sie ihm sagen, daß Sie mit mir gesprochen haben.« (Er atmete mühselig zwischen den einzelnen Sätzen.) –… »Und Sie sind der einzige, der ihm sagen kann, daß ich ihm nicht böse bin« (das Folgende mit zitternder Stimme) »und daß ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben … als meinen eigenen Sohn. Oh, ich weiß, daß Sie wissen … Was Sie ihm auch noch sagen können …« (ohne mich anzusehen, stockend, in äußerster Verlegenheit:) »ist, daß seine Mutter mich verlassen hat … ja, definitiv verlassen, im Laufe dieses Sommers; und daß, wenn er zu mir zurückkehren möchte, ich …«

Er konnte den Satz nicht vollenden.

Wenn ein großer, kräftiger Mann, von nüchternem Wesen, fest im Leben wurzelnd, in bevorzugter sozialer Stellung, plötzlich auf alle gesellschaftliche Würde verzichtet und sein Herz einem Fremden hemmungslos ausschüttet, so ist mir ein solches Schauspiel in mehrfacher Beziehung interessant. Ich fand wieder einmal bestätigt, daß ich für Offenbarungen von Menschen, die mir fernstehen, empfänglicher bin als für die Intimitäten meiner Freunde. Werde gelegentlich versuchen, mir darüber klarzuwerden.

Profitendieu gestand mir auch, daß er zunächst ein Vorurteil gegen mich gehabt habe, denn er habe sich nie recht zu erklären vermocht (und vermöge es heute noch nicht), wie Bernard sein Elternhaus habe verlassen können, um sich an mich anzuschließen. Deshalb habe er auch so lange gezögert, mich aufzusuchen. Ich mochte ihm natürlich die Geschichte von der Reisetasche nicht erzählen und sprach nur von der großen Anhänglichkeit seines Sohnes an Olivier, dank welcher wir uns schnell befreundet hätten.

»Diese jungen Leute«, nahm Profitendieu wieder das Wort, »stürzen sich in das Leben, ohne zu ahnen, was ihnen dort bevorsteht. Unkenntnis der Gefahren macht sie kühn und tatenlustig. Aber wir, die Väter, wir, die Wissenden, wir zittern um ihr Schicksal. Die Jünglinge nun, wenn sie uns stets mit so ängstlichen Mienen sehen, werden leicht irritiert, und deshalb sollten wir unsere Besorgnis lieber ein bißchen verheimlichen. Ich habe wiederholt beobachtet, wie ungeschickt und unzweckmäßig gerade die zärtlichste Fürsorge der Eltern sich äußern kann. Bis zum Überdruß wird den Kindern in manchen Häusern die bedeutsame Wahrheit gepredigt, am Feuer könne man sich Brandwunden holen … Wäre es da nicht vielleicht doch klüger, in Gottes Namen ruhig mit anzusehen, wie sich die jungen Leute die Finger schließlich mal ein wenig verbrennen!? Erfahrung wirkt stärker als Ermahnung. Ich habe Bernard immer soviel Freiheit gelassen, wie nur irgend denkbar war –… so viel Freiheit, ach, daß er schließlich glauben konnte, ich machte mir betrübend wenig Gedanken um sein Wohlergehen! Wirklich, er scheint da zu einer ganz merkwürdigen Auffassung gelangt zu sein, die möglicherweise ein Motiv geboten hat für seine seltsame Flucht. Und selbst dann noch habe ich es für richtig gehalten, ihm keinerlei Hindernisse in den Weg zu legen; nur aus der Ferne, ohne daß er es merkte, habe ich über ihn gewacht … Gott sei Dank, verfüge ich ja über die geeigneten Mittel dazu!« (Augenscheinlich ist Profitendieu ganz ungemein stolz auf die Organisation seiner ›Polizei‹: dies war schon das drittemal, daß er ihrer Erwähnung tat.) »Ich hätte es durchaus nicht für ratsam erachtet, in den Augen dieses Kindes das Risiko seines Unterfangens abzuschwächen. Ja, soll ich Ihnen gestehen, daß, alles in allem genommen, der Junge mir durch diesen Akt der Unbotmäßigkeit, trotz des großen Kummers, den mir seine Flucht bereitet hat, nur noch enger ans Herz gewachsen ist? Letzten Endes erblicke ich darin einen Beweis von innerem Werte, von hohem Wagemut …«

So ergoß sich des trefflichen Mannes Redestrom, nachdem er einmal Vertrauen gefaßt, unaufhaltsam. Schließlich versuchte ich, das Gespräch zurückzulenken auf Dinge, die mich mehr interessierten, und fragte ihn kurzweg, ob ihm vielleicht einige Exemplare jener gefälschten Goldstücke, von denen er zu Anfang gesprochen hatte, zu Gesicht gekommen seien. Ich war begierig, zu erfahren, ob sie dem Zehnfrankenstück aus Bergkristall glichen, das uns Bernard in Saas-Fee gezeigt hatte. Aber kaum hatte ich die Umstände, unter denen sich jenes Zehnfrankenstück uns präsentiert hatte, kurz gestreift, als Profitendieus Miene plötzlich verwandelt zu werden schien: die Augenlider schlossen sich halb, während in der Tiefe seines Blickes eine seltsame Flamme erglomm; die Fältchen um die Augenwinkel wurden schärfer; die Lippen kniffen sich zusammen; eine gespannte Aufmerksamkeit zog sein ganzes Gesicht in Furchen und Runzeln. Von allem Bisherigen war nun nicht mehr die Rede. Der Justizbeamte hatte den Vater verdrängt, mit einem Schlage existierte für diesen Mann nur noch der leidenschaftliche Spürsinn, den sein Beruf ihm zur Pflicht machte. Er überhäufte mich mit Fragen, kritzelte Notizen in ein Taschenbüchlein und äußerte, er werde einen Kommissar nach Saas-Fee entsenden und aus den Fremdenbüchern der Hotels die Namen aller Gäste dieser Sommersaison feststellen lassen.

»Obwohl«, fügte er hinzu, »jenes falsche Goldstück Ihrem Kramladeninhaber wahrscheinlich von einem durchreisenden Abenteurer angedreht worden ist, der den Ort gleich wieder verlassen hat.«

Worauf ich erwiderte, Saas-Fee liege in einem Hochtal, das nur von einer Seite aus zugänglich sei, und man könne es nicht leicht an einem und demselben Tage erreichen und wieder verlassen. Diese Information schien ihm eine außerordentliche Befriedigung zu gewähren, und er verabschiedete sich von mir unter lebhaften Dankesbezeugungen, mit angeregtem, ja geradezu verklärtem Gesichtsausdruck, ohne auch nur noch mit einer Silbe auf Georges oder Bernard zurückzukommen.«


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