Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Mein Vater war ein Dummkopf, aber meine Mutter hatte Geist. Sie war Quiëtistin. Sie war eine sanfte kleine Frau, die häufig zu mir sagte: »Mein Kind, du wirst in die Hölle kommen.« Aber das machte ihr nicht die geringste Sorge.

Fontenelle (1657–…1757).

Allerdings verließ Vincent Molinier die elterliche Wohnung jeden Abend, aber er ging nicht zu seiner Mätresse. Folgen wir seinen Schritten, obgleich er es eilig zu haben scheint. Von der Höhe der Rue Notre-Dame-des-Champs, in der er wohnt, gelangt Vincent zur Rue Saint-Placide, in ihre Verlängerung bildet, dann in die Rue du Bac, in der noch einige verspätete Bürger zu sehen sind. In der Rue de Babylone bleibt er vor einem Haustor stehen, das sich öffnet. Es ist das Haus des Grafen Passavant. Käme Vincent nicht oft hierher, er würde nicht so sicheren Schrittes in dieses prunkvolle Hotel eintreten. Der Lakai, der ihn empfängt, weiß sehr wohl, wieviel Schüchternheit sich hinter seinem gespielten Selbstvertrauen verbirgt. Vincent übergibt ihm seinen Hut nicht, sondern wirft ihn nachlässig auf einen Sessel. Immerhin besucht er dieses Haus noch nicht lange. Robert de Passavant, der sich jetzt seinen Freund nennt, ist der Freund von allerhand Leuten. Ich weiß eigentlich nicht, wie Vincent und er bekannt geworden sind. Wahrscheinlich schon auf dem Gymnasium, obgleich Robert de Passavant merklich älter ist als Vincent. Sie hatten sich ein paar Jahre lang aus den Augen verloren und sich dann neulich, ganz zufällig, im Foyer eines Theaters wiedergetroffen, im Beisein von Olivier, der ausnahmsweise mit ins Theater gegangen war. Passavant hatte während der Pause den Brüdern Erfrischungen angeboten. An diesem Abend hatte er auch erfahren, daß Vincent sein medizinisches Externat eben beendet hatte und noch nicht recht entschlossen war, ob er sich als Assistenzarzt an einem Krankenhause melden solle; im Grunde interessierte er sich nämlich mehr für Naturwissenschaften als für Medizin; aber der Zwang, Geld zu verdienen … Kurz, Vincent hatte den einträglichen Vorschlag, den Robert de Passavant ihm bald darauf machte, bereitwillig angenommen. Er kam nun jeden Abend zu Robert und sah nach dem alten Grafen, Roberts Vater, den eine ziemlich schwere Operation erschöpft zurückgelassen hatte. Es handelte sich um Verbände, die erneuert werden mußten, um Sondierungen, Einspritzungen und derlei Manipulationen, die erfahrene Hände erforderten. Aber darüber hinaus bewogen den Vicomte geheime Gründe, sich Vincent zu nähern. Und diesen wieder bestimmten andere, Roberts Vorschlag anzunehmen. Roberts geheime Gründe werden wir späterhin zu erforschen trachten. Vincents Motive entsprangen einem dringenden Geldbedürfnis. Wenn man das Herz auf dem rechten Fleck hat, und wenn einem außerdem ein gewisses Verantwortungsgefühl anerzogen worden ist, so macht man einer Frau kein Kind, ohne sich ihr gegenüber einigermaßen verpflichtet zu fühlen, zumal wenn diese Frau ihren Mann verlassen hat, um einem zu folgen. Vincent hatte bis dahin ein leidlich tugendhaftes Leben geführt. Sein Abenteuer mit Laura erschien ihm, je nach der Tageszeit, ungeheuerlich oder ganz natürlich. Es ist ja häufig so, daß das Zusammenkommen einer Anzahl kleiner Tatsachen, deren jede einzelne ganz einfach und harmlos ist, genügt, um eine monströse Summe zu ergeben. Diesen Gedanken wiederholte er sich des öfteren; aber dadurch kam er nicht aus den Schwierigkeiten seiner Lage heraus. Gewiß hatte er nie daran gedacht, sich dauernd mit der Sorge für diese Frau zu belasten, sie etwa, nach erfolgter Scheidung, zu heiraten oder sonstwie mit ihr zu leben. Er gestand sich ein, daß seine Neigung zu ihr keineswegs überschwänglich war; aber er wußte sie in Paris ohne Hilfsquellen. Er war die Veranlassung zu ihrem Elend, er schuldete ihr zum allermindesten eine einmalige Unterstützung für die erste, schlimmste Zeit. Doch nicht einmal diese Unterstützung vermochte er ihr jetzt noch zu gewähren. Vor ein paar Tagen wäre es noch möglich gewesen, denn vorige Woche besaß er noch die fünftausend Franken, die seine Mutter so geduldig und mühselig für ihn auf die Seite gelegt hatte, um den Anfang seiner Laufbahn zu erleichtern. Diese fünftausend Franken hätten sicherlich für die Niederkunft seiner Freundin, für ihre Unterbringung in einer Klinik und für die erste Pflege des Kindes genügt. Doch welchen Dämons Einflüsterungen hatten ihn da betört? Diese Summe, längst für seine Geliebte zurückgelegt und in Gedanken durchaus für sie bestimmt, diese Summe, von der auch nur einen Sou wegzunehmen er für Sünde gehalten hätte –… welcher Dämon hatte ihn eines Abends überredet, sie werde vermutlich unzureichend sein? Nein, Robert de Passavant war es nicht gewesen. Robert hatte niemals etwas Derartiges geäußert. Aber sein Anerbieten, Vincent in den Spielsaal mitzunehmen, war gerade auf jenen Abend gefallen. Und Vincent hatte angenommen.

Das Tückische dieser Spielhölle lag darin, daß dort alles unter Leuten von Welt, unter Freunden, vor sich ging. Robert stellte seinen Freund Vincent dem einen und dem andern vor. An diesem ersten Abend hatte Vincent, so unvorbereitet hier hineingeraten, nicht viel setzen können. Er hatte fast nichts bei sich. Der Vicomte erbot sich, ihm etwas zu leihen; aber Vincent machte keinen Gebrauch davon. Da er jedoch gewann, so bedauerte er, nicht mehr gewagt zu haben, und nahm sich vor, am nächsten Abend wiederzukommen.

»Jetzt kennt Sie hier jedermann, ich brauche Sie nicht mehr zu begleiten«, sagte Robert zu ihm.

Dies geschah in der Wohnung des Herrn Pierre de Brouville, den man vertraulich Pedro nannte. Seit diesem ersten Abend hatte Robert de Passavant dem neuen Freund sein Auto zur Verfügung gestellt. Vincent pflegte Robert gegen elf Uhr aufzusuchen und, bei einer Zigarette, eine Viertelstunde lang mit ihm zu plaudern. Dann ging er in die erste Etage hinauf und verweilte dort längere oder kürzere Zeit beim alten Grafen, je nach dessen Laune, Geduld oder Gesundheitszustand. Darauf brachte ihn das Auto in die Rue Saint-Florentin, zu Pedro, von wo es ihn nach einer Stunde wieder abholte, um ihn, nicht direkt vor seiner Haustür (denn er wünschte nicht aufzufallen), sondern an einer nahen Straßenecke abzusetzen.

In der vorletzten Nacht hatte Laura Douviers bis drei Uhr morgens auf Vincent gewartet. Um diese Stunde war er endlich nach Hause gekommen und hatte sie vorgefunden, auf der Treppe kauernd, ein paar Stufen unterhalb seiner elterlichen Wohnung. Übrigens war er in dieser Nacht nicht bei Pedro gewesen, er hatte dort nichts mehr zu verlieren. Seit zwei Tagen besaß er von seinen fünftausend Franken keinen Sou mehr. Das hatte er Laura mitgeteilt; er hatte ihr geschrieben, er könne nichts mehr für sie tun und rate ihr, zu ihrem Manne oder zu ihren Eltern zurückzukehren und alles zu gestehen. Aber Laura vermochte die Möglichkeit eines solchen Geständnisses nicht einmal kalten Blutes zu erwägen. Die Ratschläge ihres Geliebten hatten sie mit Entrüstung erfüllt, und diese Entrüstung verließ sie nur, um der Verzweiflung Platz zu machen. In diesem Zustand hatte Vincent sie gefunden. Sie hatte ihn festhalten wollen, und er hatte sich aus ihrer Umklammerung losgerissen. Gewiß, dazu hatte er sein von Natur empfindsames Herz verhärten müssen, aber mehr Lüstling als Liebhaber, hatte er sich aus dieser Gefühllosigkeit eine Pflicht gemacht. Ohne auf Lauras Beschwörungen ein einziges Wort zu erwidern, hatte er die Tür seiner Wohnung hinter sich zugeschlagen. Und so war Laura (wie Olivier es später seinem Freund Bernard erzählte) noch lange auf der Treppe liegengeblieben, einsam hingestreckt, trostlos schluchzend in der Dunkelheit.

Seit dieser Nacht waren mehr als vierzig Stunden vergangen. Gestern war Vincent nicht bei Robert de Passavant gewesen, da dessen Vater sich zu erholen schien. Aber heute abend hatte ein Telegramm ihn wieder hingerufen. Robert hatte den Wunsch, ihn zu sehen. Als Vincent in den Salon eintrat, der Robert als Arbeits- und Rauchzimmer diente und den er ganz nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, reichte Robert ihm zur Begrüßung die Hand, ohne sich zu erheben, bequem über die Schulter weg.

Robert schrieb. Er saß an seinem Schreibtisch, der mit Büchern bedeckt war. Vor ihm war die Glastür, die auf den Garten ging, weit geöffnet im Mondschein. Er sprach, ohne sich umzuwenden.

»Wissen Sie, woran ich gerade schreibe? –… Aber Sie dürfen nicht davon reden, versprechen Sie mir das! –… An einem Manifest für die erste Nummer von Dhurmers Zeitschrift. Natürlich unterzeichne ich es nicht … zumal ich darin mein eigenes Lob singe. Da man wohl herausfinden wird, daß ich die Sache finanziere, so soll man wenigstens nicht so bald wissen, daß ich daran mitarbeite. Also: kein Wort! Dabei fällt mir gerade ein: haben Sie mir nicht gesagt, daß Ihr jüngerer Bruder schreibe? Wie hieß er doch gleich?«

»Olivier«, sagte Vincent.

»Olivier, ja; es war mir entfallen … Aber wollen Sie sich nicht setzen, Vincent? Nehmen Sie doch den Sessel da, bitte. Es ist Ihnen doch nicht kalt? Soll ich das Fenster schließen? … Er macht Gedichte, nicht wahr? Er muß sie mir bringen! Natürlich kann ich nicht versprechen, daß ich sie nehme … aber es sollte mich sehr wundern, wenn sie schlecht wären. Er sieht intelligent aus, Ihr Bruder. Auch spürt man, daß er viel gelesen hat. Ich möchte mit ihm sprechen. Sagen Sie ihm, er möge zu mir kommen. Ja? Ich rechne darauf. Eine Zigarette?« –… Und er reichte ihm sein Etui.

»Gern.«

»Und nun hören Sie, Vincent, ich muß ernsthaft mit Ihnen reden. Sie haben sich neulich abends wie ein Kind benommen … ich übrigens auch. Ich behaupte nicht, daß ich Sie nicht zu Pedro hätte mitnehmen sollen; aber ich fühle mich ein bißchen verantwortlich für das Geld, das Sie bei ihm verloren haben. Ich sage mir, daß ich schuld daran bin. Ich weiß nicht, ob man das Gewissensbisse nennt, aber es beginnt mir die Ruhe zu stören, wirklich! Außerdem denke ich an die arme Frau, von der Sie mir erzählt haben … Aber das ist Ihre Privatsache und geht mich nichts an. Was ich Ihnen aber sagen wollte, was ich wünsche und will, ja absolut will, ist dies: ich wünsche, Ihnen eine Summe in der Höhe der verlorenen zur Verfügung zu stellen. Es waren fünftausend Franken, nicht wahr? Sie sollen sie von neuem aufs Spiel setzen. Sie haben diese Summe durch meine Schuld verloren; also bin ich sie Ihnen schuldig, und Sie brauchen mir in keiner Weise zu danken. Falls Sie gewinnen, geben Sie mir die fünftausend zurück; wenn nicht –… nun dann sind wir eben quitt. Gehen Sie heute abend wieder zu Pedro, wie wenn nichts passiert wäre. Das Auto soll Sie hinbringen, dann kommt es hierher zurück und fährt mich zu Lady Griffith, wo wir uns nachher wieder treffen wollen. Der Wagen holt Sie später bei Pedro wieder ab.«

Er öffnete eine Schublade, nahm fünf Banknoten heraus und reichte sie Vincent:

»Beeilen Sie sich!«

»Aber Ihr Vater …«

»Ach ja, das vergaß ich ganz, Ihnen zu sagen: er ist gestorben, vor …« Er sah nach seiner Uhr und rief: »Donnerwetter, wie spät es schon geworden ist, gleich Mitternacht! … Gehen Sie rasch! … Ja, vor ungefähr vier Stunden.«

Das sagte er ohne jede Erregung, eher mit einer gewissen Gleichgültigkeit.

»Und Sie bleiben nicht zu Hause, um …?«

»Um bei ihm zu wachen?« unterbrach Robert. »Nein, das hat mein kleiner Bruder übernommen; er ist oben, mit seiner alten Bonne, die sich mit dem Verstorbenen besser verstand als ich.«

Und da Vincent sich nicht rührte, fuhr er fort:

»Hören Sie, lieber Freund. Ich möchte Ihnen nicht brutal erscheinen, aber ich hasse die fertig-konfektionierten Gefühle. Als Kind hatte ich mir in meinem Herzen eine Sohnesliebe nach Maß zurechtgemacht; die wurde mir aber bald zu weit, und ich mußte sie enger machen. Der Alte hat mir im Leben immer nur Ärger und Widerwärtigkeiten eingebracht. Hatte er wirklich mal ein bißchen Zärtlichkeit übrig, so sicherlich nicht für mich. Meine Annäherungsversuche, in einem Alter, wo man noch keine Zurückhaltung kennt, sind mit einer Härte abgewiesen worden, aus der ich gelernt habe. Sie müssen es ja selbst erfahren haben, wie er ist, wenn man sich um ihn bemüht … Hat er jemals ›danke‹ zu Ihnen gesagt? Haben Sie je einen Blick, ein flüchtiges Lächeln von ihm erhalten? Er hat von allen immer nur Unterwerfung verlangt. Oh, er ist das, was man einen Charakter nennt! Ich glaube, meine Mutter hat schrecklich unter ihm gelitten, und doch hat er sie geliebt, soweit er dessen fähig war. Ich glaube, seine ganze Umgebung hat unter ihm gelitten: seine Diener, seine Hunde, seine Pferde und seine Mätressen; seine Freunde nicht, denn er hatte keinen einzigen. Sein Tod wird alle aufatmen lassen. Er war vermutlich ein Mann von großem Werte ›auf seinem Gebiet‹, wie man zu sagen pflegt –… nur habe ich nie entdecken können, welches Gebiet das war. Sicherlich war er intelligent, und eigentlich hegte ich eine gewisse Bewunderung für ihn, ja, ich bewahre sie noch jetzt. Aber Tränen zu vergießen und das Taschentuch zu handhaben: nein, so knäbisch bin ich doch nicht mehr! … Doch nun gehen Sie rasch! In einer Stunde sehen wir uns bei Lilian wieder. –… Was? Sie genieren sich, weil Sie nicht im Smoking sind? Das ist aber wirklich sehr töricht von Ihnen! Wir beide werden ja ihre einzigen Gäste sein. –… Na gut, ich verspreche Ihnen, daß ich auch so kommen werde, wie ich bin. Abgemacht! Zünden Sie sich noch 'ne Zigarre an für den Weg. Und schicken Sie mir das Auto gleich zurück; es holt Sie dann später wieder ab.«

Er sah Vincent nach, zuckte mit den Achseln und ging ins Schlafzimmer, um seinen Abendanzug anzulegen, der ihn schon erwartete, sorgfältig ausgebreitet auf dem Sofa.

 

In einem Zimmer des ersten Stocks ruht der alte Graf auf seinem Totenbett. Man hat ihm ein Kruzifix auf die Brust gelegt, aber vergessen, ihm die Hände zu falten. Sein Bart, der in den letzten Tagen gewachsen ist, mildert das Eckige seines eigensinnigen Kinnes. Die Querfalten, die ihm unter den grauen, bürstenartig hochstehenden Haaren die Stirn furchen, erscheinen weniger tief als sonst, wie entspannt. Das Auge, unter der Wölbung der buschigen Brauen, ist eingesunken. Gerade weil wir ihn nicht wiedersehen sollen, betrachte ich ihn ausführlich. Zu Häupten des Bettes steht ein Sessel, in dem Séraphine, die alte Dienerin, sitzt. Jetzt erhebt sie sich. Sie tritt an den Tisch und schraubt die altmodische Petroleumlampe höher, die den Raum spärlich erleuchtet. Ein grüner Schirm läßt die Helligkeit auf das Buch fallen, in dem der junge Gontran liest …

»Sie sind müde, Monsieur Gontran, Sie täten besser, sich schlafen zu legen.«

Gontran sieht Séraphine mit einem weichen Ausdruck an. Er streicht sich das volle blonde Haar aus der Stirn. Er ist fünfzehn Jahre alt; sein fast mädchenhaft zartes Gesicht enthält noch keine anderen Empfindungen als Hingebung und Liebe.

»Und du?« antwortet er. »Du hast den Schlaf nötiger als ich, meine arme Fine, schon vorige Nacht hast du ja kein Auge zugetan.«

»Oh, ich bin das Wachen gewohnt. Außerdem hab ich am Tage geschlafen, während Sie …«

»Nein, laß! Ich bin nicht müde, und es tut mir gut, hier so zu sitzen und zu denken und zu lesen. Ich habe Papa im Leben so wenig gekannt, daß es mir vorkommt, ich würde ihn ganz und gar vergessen, wenn ich jetzt nicht bei ihm bliebe. Ich will bei ihm wachen, bis es Tag wird. Wie lange bist du jetzt schon bei uns, Fine?«

»Seit dem Tag vor Ihrer Geburt. Und Sie werden ja bald sechzehn.«

»Kannst du dich noch an Mama erinnern?«

»Ob ich mich an Ihre Mutter erinnere? Ist das aber eine Frage! Das klingt ja genau so, als wenn Sie mich fragten, ob ich mich an meinen eigenen Namen erinnere! Oh, ich erinnere mich sehr, sehr genau an Ihre Mutter!«

»Ich erinnere mich auch ein wenig an sie, aber nicht sehr genau … Ich war fünf Jahre alt, als sie starb … Sag' mal, Fine, hat Papa eigentlich viel mit ihr gesprochen?«

»Das kam auf die Tage an. Er ist nie sehr gesprächig gewesen, Ihr Papa, und er mochte auch nicht gern, daß jemand ihn anredete. Immerhin sprach er damals doch etwas mehr als in späterer Zeit. –… Aber meinen Sie nicht, Monsieur Gontran, daß es besser wäre, diese alten Dinge nicht aufzurühren, sondern alles dem Urteil des lieben Gottes zu überlassen?«

»Ach, meine gute Fine, glaubst du denn wirklich, daß der liebe Gott sich um all das kümmert?«

»Aber wer sollte es denn sonst tun, wenn der liebe Gott es nicht täte?«

Gontran drückte seine Lippen auf Séraphines arbeitsgerötete Hand:

»Aber jetzt solltest du wirklich schlafen gehen! Ich verspreche dir, daß ich dich wecke, sowie es hell wird. Und dann lege ich mich hin. Tu's mir zu Gefallen!«

Sobald Séraphine ihn allein gelassen hat, wirft Gontran sich auf die Knie, zu Füßen des Bettes. Er wühlt seine Stirn in die Laken. Aber er kann nicht weinen. Keine Aufwallung reißt ihn hin; die Augen bleiben ihm elend trocken. Da erhebt er sich wieder. Er betrachtet dieses unbewegliche Gesicht. Er möchte in diesem feierlichen Augenblick irgend etwas Erhabenes, Außerordentliches empfinden, eine Botschaft aus dem Jenseits vernehmen, seine Gedanken in himmlische, übernatürliche Regionen entsenden –… aber sie haften kläglich am Boden, seine Gedanken. Er sieht auf die bleichen Hände des Toten und fragt sich, wie lange die Nägel wohl noch wachsen werden. Es berührt ihn peinlich, daß die Hände so auseinanderliegen. Er möchte sie zusammentun und ihnen das Kruzifix zu halten geben. Ja, das ist eine gute Idee! Er denkt, wie Séraphine sich wundern wird, wenn sie den Toten mit ineinandergelegten Händen sehen wird, und er freut sich im voraus auf ihr Erstaunen. Doch sofort weist er diese Regung als verächtlich zurück. Nun beugt er sich, von der Seite her, über das Bett und faßt den Toten am Arm, der nach der andern Seite zu liegt. Der Arm ist schon steif und will sich nicht biegen. Gontran will ihn zwingen, aber damit bringt er den ganzen Körper aus der Lage. Er nimmt den andern Arm, der etwas biegsamer zu sein scheint. Schon hat er die Hand beinahe an die Stelle geführt, wo sie liegen soll; jetzt nimmt er das Kruzifix und versucht, es zwischen den Daumen und die andern Finger zu schieben und ihm dort einen Halt zu geben –… doch von der Berührung mit dem eiskalten Fleisch wird ihm übel. Er fühlt sich einer Ohnmacht nahe. Soll er Séraphine zu Hilfe rufen? Er läßt alles liegen, wie es will: das Kruzifix schräg über dem zerknitterten Leintuch, und den langsam auf seinen früheren Platz zurückgleitenden Arm … Und innerhalb der tiefen, tödlichen Stille vernimmt er plötzlich ein brutales »Verflucht noch mal!«, das ihn mit Entsetzen erfüllt. Hastig sieht er sich im Zimmer um –…: doch nein, außer ihm selbst ist niemand da … In der Tat, er selbst hat diesen Fluch ausgestoßen, er, der noch nie in seinem Leben geflucht hatte. Dann setzt er sich in seinen Stuhl und ist bald wieder ins Lesen vertieft.


 << zurück weiter >>