Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Armand hatte sich, ohne seine Kleider abzulegen, aufs Bett gestreckt. Er weiß, daß er keinen Schlaf finden wird. Er wartet auf das Morgengrauen. Er denkt nach. Er horcht. Das Haus liegt in tiefer Stille, die Stadt, die ganze Natur. Nirgends ein Laut.

Sobald der matte Schein, den der Reflektor vom schmalen Himmel herabwirft, ihn die Häßlichkeit seines Zimmers aufs neue erkennen läßt, erhebt sich Armand. Er geht zu der Tür, die er heute nacht verriegelt hat, schiebt den Riegel zurück und öffnet sie behutsam …

Die Vorhänge in Sarahs Zimmer sind nicht zugezogen. Ein fahles Dämmerlicht sickert durchs Fenster. Leise tritt Armand an das Bett, wo seine Schwester und Bernard ruhen. Das Laken deckt zur Hälfte ihre verschlungenen Glieder. Wie schön die beiden sind! Armand betrachtet sie lange. Er möchte der Schlaf sein, den sie schlafen, der Kuß, den sie getauscht haben … Eine Sekunde lang scheint es, als lächle er. Dann, plötzlich, kniet er zu Füßen des Bettes nieder, mitten unter herabgewühlten Decken. Zu welchem Gotte betet er wohl mit so fromm gefalteten Händen? Ein unsagbarer Aufruhr hält ihn gepackt. Sein Mund bebt … Er bemerkt unter dem Kopfkissen ein Taschentuch, das mit Blut befleckt ist; er erhebt sich, nimmt es, und, im Hinausgehen, drückt er schluchzend seine Lippen auf den kleinen, ambraduftenden Fleck.

Doch auf der Schwelle wendet er sich noch einmal um. Er möchte Bernard wecken. Bevor irgend jemand in der Pension wach ist, muß Bernard in seinem eigenen Zimmer sein. Bei dem leisen Geräusch, das Armand macht, öffnet der Schläfer die Augen. Armand flieht und läßt die Tür offen. Er eilt durch seine Kammer, dann die Treppe hinab. Er wird sich irgendwo im Hause verbergen; sein Anblick müßte Bernard peinlich sein, er will ihm nicht begegnen.

Von einem Fenster des Studiensaales aus sieht er ihn eine Minute später die Wände entlangschleichen, wie einen Dieb nach vollbrachter Tat.

 

Bernard hatte nicht viel geschlafen. Aber in dieser Nacht ward ihm ein Vergessen zuteil, das ihm tiefere Ruhe schenkte als jedweder Schlaf: höchste Entfaltung und Zerstörung seines Wesens zugleich. So gelangt er träumend in einen jungen Tag, er, Bernard: sich selbst fremd geworden, aufgelöst, schwebend, neu, sanft erzitternd, wie ein Sprößling der Götter. Sarah lag noch schlafend, als er sie verließ; heimlich hat er sich ihren Armen entwunden. Wie? ohne noch einen Kuß, ohne einen letzten Blick, ohne ein verzehrendstes Umfangen? Ist es Gefühllosigkeit, was ihn so von dannen getrieben hat? Ich weiß es nicht. Er weiß es selbst nicht. Er möchte alles Denken verjagen, und es quält ihn, diese Nacht, der keine frühere glich, in die Geschichte seines Lebens eintragen zu sollen. Nein: sie ist eine Beigabe, diese Nacht, eine hinzugefügte Note, die im eigentlichen Buch des Daseins keinen Platz finden kann –… in diesem Buch, darin die Erzählung seines Lebens weitergehen muß, als wenn nichts geschehen wäre.

Er hat sein Zimmer (das er mit dem kleinen Boris teilt) glücklich erreicht. Boris schläft fest. Das Kind, das er ist! … Bernard bringt sein nicht berührtes Bett in Unordnung, zerknittert die Laken, damit es aussehe, als wenn er darin geschlafen hätte. Dann geht er an den Waschtisch und kühlt sich das Gesicht. Aber der Anblick des Knaben erinnert ihn an die Tage von Saas-Fee. Er gedenkt der Worte, die Laura ihm damals sagte: ›Ich kann von Ihnen nur diese Ergebenheit annehmen, die Sie mir darbieten; der Rest wird seine Ansprüche haben, die sich anderwärts Genüge suchen müssen.‹ Dieser Satz hat etwas Empörendes für ihn. Ihm ist, als klinge er ihm noch in den Ohren. Er hatte bisher nie wieder daran gedacht, aber heute morgen ist sein Gedächtnis so scharf und klar wie noch nie. Sein Gehirn arbeitet automatisch, mit übertriebener Bereitwilligkeit. Bernard stößt Lauras Bild von sich, will alle diese Erinnerungen ersticken. Um ihnen ganz zu entgehen, greift er nach einem Lehrbuch und versucht, für sein Examen (soweit es noch bevorsteht) zu arbeiten. Doch man kann ja nicht Atem schöpfen in diesem Zimmer! Er geht in den Garten hinunter. Auch dort hält er es nicht aus. Er möchte hinaus auf die Straße, weite Wege machen, rasenden Laufes sich durchwehen lassen vom Morgenwind … Er gibt auf das Haustor acht: sowie der Portier es geöffnet hat, macht er sich unbemerkt davon.

Er geht in den Luxembourg und setzt sich mit seinem Buche auf eine Bank. Seine Gedanken haspeln sich ab wie Seidenfäden, aber ganz dünne; wenn er zieht, reißt der Faden. Sobald er sich in das Buch vertiefen will, schieben sich indiskrete Bilder zwischen ihn und das Gedruckte: aber keine Reflexe zugespitzter Lust, sondern lächerliche, tückische Einzelheiten, an denen seine Eigenliebe sich festhakt, sich wundreibt und brandig wird. In Zukunft wird er sich nicht mehr so anfängerhaft benehmen.

Als die neunte Stunde heranrückt, erhebt er sich, um Lucien Bercail aufzusuchen, mit dem zusammen er sich in Edouards Wohnung begeben will.

 

Edouard hauste in Passy, hoch oben in einer Atelierwohnung. Von seiner Stube aus gelangte man in das eigentliche, sehr geräumige Atelier. Als Olivier sich beim Morgendämmern erhoben hatte, war Edouard zunächst in keiner Weise beunruhigt gewesen.

»Ich will mich ein bißchen auf den Diwan legen«, hatte Olivier gesagt. Und da Edouard befürchtete, er könne sich erkälten, so hatte er zu Olivier gesagt, er solle sich doch ein paar Decken mitnehmen. Später hatte auch Edouard sich erhoben. Er mußte wieder fest eingeschlafen sein, denn zu seiner Verwunderung war es nun heller Tag geworden. Er wollte wissen, wie Olivier sich auf seinem Diwan eingerichtet hätte; er wollte nach ihm sehen, und vielleicht leitete ihn auch ein unbestimmtes Vorgefühl …

Das Atelier war leer. Die Decken, noch zusammengefaltet, lagen auf dem Diwan. Es war ein abscheulicher Gasgeruch zu spüren. Neben dem Atelier lag ein kleiner Raum, der als Badezimmer diente. Der Geruch kam von dorther. Edouard stürzte hin, konnte jedoch die nach innen gehende Tür nicht gleich öffnen, denn es lag etwas davor, das sie versperrte: Oliviers Körper, schräg gegen die Badewanne gesunken, unbekleidet, eisig kalt, von matt-grünlicher Färbung, und gräßlich besudelt von Erbrochenem.

Edouard schloß eiligst den Hahn des Badeofens, dem das Gas entströmte. Was war hier geschehen? Ein Unfall? Eine Ohnmacht durch Blutandrang? … Er vermochte nicht daran zu glauben. In der Badewanne war kein Wasser. Er nahm den Regungslosen in seine Arme, trug ihn ins Atelier und legte ihn, angesichts des weit offenen Fensters, ausgestreckt auf den Teppich. Auf den Knien über ihn gebeugt, horchte er ängstlich, ob noch Leben in ihm sei. Olivier atmete, aber nur ganz schwach. Da machte sich Edouard mit der Kraft der Verzweiflung ans Werk, dies fast erloschene Dasein neu zu beleben; rhythmisch hob und senkte er die schlaffen Arme, rieb den Brustkorb, massierte die Seiten, kurz, versuchte alles, was man seines Erinnerns bei Erstickungsgefahr tun mußte, und war dabei untröstlich, daß er nicht alles auf einmal tun konnte. Oliviers Augen blieben geschlossen. Edouard hob die Lider mit dem Finger; sie fielen wieder herab, über einem erstorbenen Blick. Das Herz aber klopfte. Vergebens suchte Edouard nach Kognak, nach Riechsalzen. Er hatte Wasser heiß gemacht: damit wusch er Oliviers Gesicht und Oberkörper. Dann trug er das arme Kind auf den Diwan und deckte es sorgfältig zu. Gern hätte er einen Arzt geholt, aber er wagte nicht, den Schwerkranken allein zu lassen. Die Aufwartefrau, die jeden Morgen um neun Uhr kam, war noch nicht da. Als sie erschien, schickte er sie auf die Suche nach einem der nahewohnenden Medizinmänner; doch im nächsten Augenblick rief er sie zurück, aus Furcht, sich einer Untersuchung auszusetzen.

Inzwischen kehrte Olivier langsam ins Leben zurück. Edouard hatte sich neben dem Diwan auf einen Stuhl gesetzt. Er betrachtete dieses schweigende Antlitz und vermochte sein Geheimnis nicht zu ergründen. Warum? Warum? … Am Abend, in der Trunkenheit, kann man Unbedachtes tun: des jungen Tages Entschlüsse tragen volle Bewußtheit in sich. Edouard beschloß, auf jede Vermutung zu verzichten, bis Olivier selbst spräche. Bis dahin wollte er ihn nicht verlassen. Er hatte eine seiner Hände ergriffen und drängte all sein Fragen, all sein Fühlen, sein ganzes Denken in diese Berührung. Nach einiger Zeit schien es ihm, als spüre er in Oliviers Hand ein leises Erwidern seines Umfassens … Edouard beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf diese von unerforschbarem Schmerze gezeichnete Stirn …

Es läutete. Edouard erhob sich, um zu öffnen. Draußen standen Bernard und Lucien Bercail. Edouard ließ sie nur in den Vorraum treten und sagte ihnen, was geschehen war. Dann nahm er Bernard beiseite und fragte ihn, ob, seiner Kenntnis nach, Olivier vielleicht gelegentlichen Ohnmachtsanfällen oder nervösen Störungen unterworfen sei … Da gedachte Bernard plötzlich ihrer gestrigen Unterhaltung und besonders einer Äußerung Oliviers, auf die er zunächst kaum acht gegeben hatte, die ihm aber jetzt mit aller Deutlichkeit ins Bewußtsein zurückkehrte …

»Ich hatte das Thema des Selbstmordes aufgeworfen«, sagte er zu Edouard. »Ich fragte ihn, ob er begreifen könne, daß jemand sich aus reiner Fülle des Lebens töte, aus ›Enthusiasmus‹, wie Dimitri Karamasow sagt. Ich war ganz in meine Idee versunken und achtete deshalb nur auf meine eigenen Worte. Aber jetzt entsinne ich mich seiner Antwort.«

»Wie lautete denn seine Antwort?« fragte Edouard, da Bernard innehielt und nicht weitersprechen zu wollen schien.

»Er könne begreifen, daß man sich töte, aber nur, nachdem man einen solchen Gipfel der Freude erreicht habe, daß jedes denkbare Weiterleben nur noch einem Hinabsteigen gleichen würde.«

Die beiden sahen sich in die Augen. Wie eine jähe Einsicht kam es über sie. Kein weiteres Wort ward gesprochen. Nach einer Weile wandte Edouard seinen Blick ab. Bernard empfand Unwillen über sich selbst, weil er nicht geschwiegen hatte. Sie traten wieder zu Bercail.

»Das Unangenehme ist«, sagte dieser, »daß die Leute glauben könnten, er habe sich töten wollen, um sich nicht duellieren zu müssen.«

Edouard hatte gar nicht mehr an diesen ›Ehrenhandel‹ gedacht.

»Benehmt euch in jeder Beziehung so, als wenn inzwischen absolut nichts passiert wäre!« sagte er. »Geht zu Dhurmer und bittet ihn, euch mit seinen Zeugen in Verbindung zu setzen. Mit denen müßt ihr dann alles besprechen, falls diese idiotische Geschichte sich nicht, wie ich vermute, von selbst erledigt. Dhurmer machte mir gestern keineswegs einen besonders kampflustigen Eindruck!«

»Wir werden ihm nichts erzählen«, sagte Lucien, »dann fällt die Schande des Rückzugs ganz auf ihn. Denn er wird ›kneifen‹, dessen bin ich gewiß!«

Bernard fragte, ob er Olivier nicht sehen könne. Doch Edouard glaubte, vorläufig jede Aufregung von dem Kranken fernhalten zu sollen.

Bernard und Lucien wollten sich gerade verabschieden, als der kleine Georges erschien. Er kam von Passavants Hause, aber man hatte ihm die Sachen seines Bruders nicht aushändigen wollen.

»Der Herr Graf ist ausgegangen, ohne uns irgendwelche Anweisungen hinterlassen zu haben«, mit diesen Worten hatte ein Bedienter ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Etwas Ungewöhnliches im Benehmen Edouards und der beiden andern ließ Georges aufmerksam werden. Er witterte irgendein aufregendes Geschehnis und erkundigte sich. Edouard mußte ihm alles erzählen.

»Aber sag deinen Eltern nichts davon!«

Georges war entzückt, Mitwisser eines großen Geheimnisses zu sein.

»Man versteht zu schweigen«, erklärte er stolz. Und da er heute vormittag nichts Besonderes mehr vorhatte, so erbot er sich, Bernard und Lucien zu Dhurmer zu begleiten.

 

Als die drei Besucher ihn verlassen hatten, rief Edouard die Haushälterin. Neben seinem Zimmer befand sich eine Gastkammer. Diese ließ er in Ordnung bringen, damit Olivier dort untergebracht werde. Dann ging er leise ins Atelier zurück. Olivier lag ganz ruhig da. Edouard setzte sich neben ihn. Er nahm ein Buch, legte es aber gleich wieder aus der Hand. Er sah zu, wie sein Freund schlief.


 << zurück weiter >>