Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

Man muß schon ein bißchen toll sein, um aus gewissen Situationen gut herauszukommen.

La Rochefoucauld.

Lauras in Edouards Tagebuch hineingelegter Brief war das letzte, was Bernard las. In greller Erkenntnis wurde ihm klar, daß die Frau, die ihr Elend hier hinausschrie, keine andere sein konnte als jene verzweifelte Dulderin, von der Olivier ihm letzte Nacht erzählt hatte: Vincent Moliniers verlassene Geliebte. Und es kam ihm zum Bewußtsein, daß er selbst, Bernard, dank der doppelten Vertraulichkeit seines Freundes und des Tagebuchs, bisher der einzige war, der das doppelte Gesicht dieser Verwicklung kannte. Das war ein Vorsprung, den er nicht lange würde behaupten können. Somit kam alles darauf an, schnell und klug zu handeln. Seine Entscheidung war sofort getroffen; ohne übrigens etwas von dem zuerst Gelesenen zu vergessen, hatte Bernard von jetzt an nur noch Interesse für Laura.

»Heute morgen war ich noch im Ungewissen darüber, was ich zu tun hätte; aber jetzt ist kein Zweifel mehr möglich«, dachte er beim Verlassen des Hotelzimmers. »Der kategorische Imperativ lautet: rette diese Frau! Es war vielleicht nicht gerade meine Pflicht, mich der Reisetasche zu bemächtigen; aber nachdem ich sie genommen habe, scheine ich ein sehr lebhaftes Pflichtgefühl aus ihr geschöpft zu haben … Das Wichtigste ist, Laura zu überraschen, bevor Edouard bei ihr aufgetaucht ist, und mich ihr vorzustellen auf eine Art, die jeden Verdacht, ich könne ein Hochstapler sein, ausschließt. Alles übrige macht sich dann von selbst. Ich habe in meinem Portefeuille jetzt genügend Mittel, um jedes Unglück ebenso großzügig zu erleichtern wie nur der edelste und freigebigste der Edouarde. Zu erwägen bleibt nur die Manier meines Vorgehens. Denn diese geborene Vedel, wenn auch außergesetzlich schwanger, wird empfindlich sein. Ich denke sie mir als eine jener Frauen, die einem ihre Verachtung ins Gesicht spucken und alle Banknoten, die man ihnen wohlwollend, doch mangelhaft verpackt überreicht, in tausend Fetzen reißen. Wie soll ich ihr diese Banknoten nur präsentieren? Und wie soll ich mich selbst präsentieren? Das ist die Schwierigkeit. Sowie man die breite Straße der Gewöhnlichkeit verlassen hat: welch dorniges Gestrüpp! Um mich auf ein so verwickeltes Spiel einzulassen, bin ich sicherlich noch etwas jung. Doch, bei den Göttern, gerade das soll mir helfen! Erfinden wir noch ein naives Geständnis; eine Geschichte, die mich bemitleidenswert und interessant erscheinen läßt! Das Dumme ist, daß diese Geschichte gleichermaßen für Edouard dienen muß; da muß ich vorsichtig sein. Ach was, wir werden schon was finden! Verlassen wir uns auf die Eingebung des Moments …«

Er hatte, in der Rue de Beaune, die von Laura angegebene Hausnummer erreicht. Das kleine Hotel sah äußerst bescheiden aus, doch sauber und anständig. Er fragte den Portier nach dem Zimmer und stieg drei Treppen hinauf. Vor der Tür Nr. 16 blieb er stehen, wollte noch schnell die Art seines Eintretens bedenken, einen Begrüßungssatz vorbereiten. Aber es fiel ihm nichts ein. Da faßte er sich ein Herz und klopfte an. Eine sanfte und scheinbar etwas ängstliche Stimme rief:

»Ja bitte!«

 

Laura war sehr einfach gekleidet, ganz in Schwarz, als wäre sie in Trauer. Seitdem sie in Paris war, erwartete sie unbestimmt, daß irgend etwas oder irgend jemand käme und sie aus ihrer unhaltbaren Lage befreite. Sie hatte sich auf einen falschen Weg eingelassen, daran war kein Zweifel; sie fühlte sich verirrt. Sie hatte die bedenkliche Gewohnheit, mehr auf die Ereignisse als auf sich selbst zu vertrauen. Sie war nicht ohne inneren Mut, aber sie fühlte sich schwach und verlassen. Als Bernard eintrat, hob sie die Hand zum Gesicht, wie jemand, der einen Ausruf unterdrücken oder seine Augen vor grellem Licht schützen will. Sie hatte sich von dem Stuhl, darin sie gesessen, erhoben. Jetzt trat sie einen Schritt zurück, nach dem Fenster zu, und griff mit der anderen Hand nach der Gardine.

Bernard wartete auf ein Wort von ihr. Doch sie schwieg, eine Erklärung von ihm erwartend. Er sah sie an; sein Herz klopfte, und er versuchte zu lächeln, aber er konnte es nicht.

»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er endlich, »daß ich so unangemeldet bei Ihnen eintrete. Edouard X, den Sie ja kennen, ist heute vormittag in Paris eingetroffen. Ich habe ihm etwas Dringendes mitzuteilen und dachte, Sie könnten mir vielleicht seine Adresse geben, und … Verzeihen Sie mir, daß ich so einfach komme und Sie darum bitte.«

Wäre Bernard nicht so jung gewesen, so hätte Laura gewiß einen großen Schreck bekommen. Doch er war ja noch ein Kind; ein Kind mit so aufrichtigem Blick, so klarer Stirn, so unsicherer Stimme, so scheuem Benehmen, daß sie angesichts solchen Eindruckes die Furcht bereits der Neugier wich, dem sympathischen Interesse und jener unwiderstehlichen Anziehung, die ein naives, schönes Wesen ausübt. Immerhin hatte Bernards Stimme während des Sprechens ein wenig an Sicherheit gewonnen.

»Aber ich weiß seine Adresse gar nicht«, sagte Laura. »Wenn er in Paris ist, so wird er, wie ich hoffe, bald zu mir kommen. Sagen Sie mir, wer Sie sind; ich will es ihm bestellen.«

Dies ist der Augenblick, alles zu riskieren, dachte Bernard. Etwas Tolles flirrte ihm vor den Augen. Er sah Laura ins Gesicht:

»Wer ich bin? … Ein Freund von Olivier Molinier …« –… Er zögerte noch; wie er sie aber bei diesem Namen erbleichen sah, fuhr er entschlossen fort: –… »von Olivier, dem Bruder von Vincent, Ihrem Geliebten, der Sie infamerweise im Stich gelassen hat …«

Er mußte innehalten: Laura schwankte; mit zuckenden Händen griff sie hinter sich und suchte krampfhaft nach einem Halt. Doch was Bernard am meisten erschütterte, war der Seufzer, den sie ausstieß: ein kaum noch menschlicher Klageruf, ähnlich dem des verwundeten Rehs (und plötzlich schämt sich der Jäger seines Mördertums), ein Schrei, so seltsam, so verschieden von allem, was Bernard erwarten konnte, daß ein Schauder ihn anpackte. Mit einemmal begriff er, daß es hier um wirkliches Leben, um wahre Verzweiflung ging, und alles, was er bisher erlebt hatte, erschien ihm plötzlich nur noch als Oberfläche und Spiel. Eine Erregung stieg in ihm auf, so ungewohnt, daß er sie nicht bemeistern konnte; sie stieg ihm in die Kehle … Oh, ist er es, der da schluchzt? Ist so etwas denkbar? Er, Bernard?! … Er eilt hinzu, um Laura zu stützen, wirft sich vor ihr auf die Knie und fleht unter Tränen:

»Oh, Verzeihung, Verzeihung! … Ich habe Sie verletzt … Ich wußte, daß Sie ohne Hilfsmittel waren, und … da wollte ich Ihnen gern helfen.«

Laura atmet schwer und fühlt sich einer Ohnmacht nahe. Sie sucht mit den Augen, wohin sie sich setzen könnte. Bernard, der keinen Blick von ihr wendet, versteht die Bedeutung dieser suchenden Augen. Er springt auf und läuft zu einem kleinen Sessel, der zu Füßen des Bettes steht. Mit ungestümer Bewegung schiebt er ihn zu ihr hin. Laura läßt sich schwer auf ihn fallen.

Hier ereignet sich nun ein grotesker Zwischenfall, den ich am liebsten gar nicht erzählen möchte. Aber gerade er entschied, indem er ihnen unvermutet über alle Verlegenheit hinweghalf, über die weiteren Beziehungen zwischen Bernard und Laura. Somit suche ich diese Szene nicht zu idealisieren: –…

Für den Pensionspreis, den Laura in dem kleinen Hotel bezahlte (genauer: für den, den der Hotelbesitzer von ihr verlangte), konnte man nicht erwarten, daß die Zimmermöbel sehr elegant waren; immerhin durfte man hoffen, daß sie solide sind. Nun, der niedrige kleine Sessel, den Bernard Laura hinschob, wackelte ein bißchen, das heißt: er hatte eine ausgeprägte Neigung, einen seiner Füße einzuziehen, etwa wie der Vogel einen Fuß unter seinen Flügel zieht. Das ist für den Vogel etwas ganz Natürliches, doch bei einem Sessel bleibt es abnorm und bedauerlich. Und so verheimlichte denn auch der Fauteuil, um den es sich hier handelt, sein Gebrechen, so gut er konnte, unter dichten Fransen. Laura kannte ihren Sessel und wußte, daß man sich seiner nur mit äußerster Vorsicht bedienen durfte. Aber in ihrer Verwirrung dachte sie nicht daran. Erst, als sie ihn unter sich schwanken fühlte, kam ihr des Fauteuils Eigenheit wieder zum Bewußtsein. Sie stieß einen kleinen Schrei aus (ganz verschieden von dem schrecklichen Klagelaut, den wir vorhin gehört haben), glitt seitlich von ihrem Sitze ab und fand sich im nächsten Moment auf dem Teppich wieder, in den Armen Bernards, der sich diensteifrig um sie bemühte. Erschrocken und doch amüsiert, hatte er sich, um ihr zu helfen, auf ein Knie niederlassen müssen, so daß Lauras Gesicht jetzt dem seinigen ganz nahe war. Er sah sie erröten. Sie suchte sich zu erheben. Er half ihr dabei.

»Haben Sie sich auch nicht weh getan?«

»Nein, gar nicht; dank Ihrer Hilfe … Dieser Sessel ist lächerlich; er ist neulich schon repariert worden, aber es scheint nicht viel genützt zu haben … Ich glaube, wenn man den Fuß recht gerade hinsetzt, so hält er.«

»Ich will mal sehen, wie man es am besten macht«, sagte Bernard. –… »So! … Wollen Sie's noch mal versuchen?« –… Dann, sich verbessernd: »Oder nein … Es ist klüger, daß ich's zuerst versuche, wenn Sie erlauben … Ja, jetzt scheint er zu halten; ich kann sogar mit den Beinen strampeln« (was er lachend tat). –… Dann, sich erhebend: »Wollen Sie sich nun wieder hinsetzen? Wenn ich noch einen Augenblick dableiben darf, so will ich mir einen Stuhl nehmen. Ich setze mich nicht weit von Ihnen und sorge dafür, daß Sie nicht wieder hinfallen; haben Sie keine Furcht … Ich möchte gern auch anderes für Sie tun.«

In seinen Äußerungen lag so viel Feuer, in seiner Haltung so viel Anstand, in seinen Bewegungen so viel Grazie, daß Laura nicht umhin konnte, zu lächeln:

»Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen genannt.«

»Bernard.«

»Ja; aber Ihren Familiennamen?«

»Ich habe keine Familie.«

»Also den Namen Ihrer Eltern.«

»Ich habe keine Eltern; das heißt, ich bin, was Ihr Kind auch sein wird: ein Bastard.«

Das Lächeln verschwand von Lauras Zügen. Gereizt durch dieses Wort, mit dem Bernard erneut das Geheimnis ihres Lebens berührte, sagte sie:

»Aber woher wissen Sie eigentlich …? Wer hat Ihnen gesagt …? Sie haben nicht das Recht, zu wissen …«

Bernard war im Schwunge. Seine Stimme wurde klar und zuversichtlich:

»Ich weiß sowohl das, was mein Freund Olivier weiß, wie auch gleichzeitig das, was Ihr Freund Edouard weiß. Jeder von diesen beiden kennt erst eine Hälfte Ihres Geheimnisses. Ich bin außer Ihnen vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der es ganz kennt …« Und leiser fügte er hinzu: »Sie sehen wohl, daß ich Ihr Freund werden muß.«

»Wie die Menschen indiskret sind«, flüsterte Laura traurig. –… »Aber … wenn Sie Edouard gar nicht gesehen haben, so hat er doch auch nicht mit Ihnen sprechen können. Hat er Ihnen also geschrieben? … Ist er es, der Sie schickt?«

Bernard hatte sich vergaloppiert. Er hatte zu rasch gesprochen, sich ein wenig zur Prahlerei hinreißen lassen. Er schüttelte verneinend den Kopf. Lauras Blick verdüsterte sich immer mehr. In diesem Augenblick klopfte es draußen an der Tür.

Mag man es wollen oder nicht: eine gemeinsame Erregung schafft etwas Verbindendes zwischen zwei Menschen. Bernard fühlte sich in der Schlinge gefangen, und Laura ärgerte sich, in Gesellschaft überrascht zu werden. Sie sahen sich an wie zwei Komplicen. Draußen klopfte es von neuem. Zwei Stimmen riefen gleichzeitig:

»Herein!«

 

Schon seit einiger Zeit stand Edouard vor der Tür. Mit Verwunderung hatte er Stimmen in Lauras Zimmer vernommen. Er hörte alles, was gesprochen wurde. Die letzten Sätze Bernards machten ihm den Sachverhalt klar. Ihr Sinn war unverkennbar und ließ keinen Zweifel daran, daß der Sprecher der Dieb der Reisetasche sein müsse. Edouards Entschluß war sofort gefaßt. Denn er war eine jener Naturen, deren Fähigkeiten, im Einerlei des Alltags erschlaffend, sich angesichts des Unerwarteten alsbald spannen und beflügeln. Er öffnete die Tür, blieb an der Schwelle stehen und sah Bernard und Laura, die sich beide erhoben hatten, lächelnd an.

»Verzeihen Sie, liebe Freundin«, sagte er zu Laura mit einer Handbewegung, die alle Angelegenheiten des Gefühls auf später verschieben zu wollen schien; »ich habe zunächst einige Worte mit Monsieur zu reden, falls er gütigst einen Moment mit mir auf den Flur kommen will.«

Als Edouard sich mit Bernard auf dem Korridor befand, war sein Lächeln noch ironischer:

»Ich dachte mir, daß ich Sie hier finden würde.«

Bernard sah ein, daß er geklappt war. Aber vielleicht konnte ein kühner Zug sein Spiel noch retten? So spielte er denn seinen höchsten Trumpf aus:

»Ich meinerseits hoffte ebenfalls, Sie hier zu treffen.«

»Zunächst, falls Sie es noch nicht getan haben (denn ich will annehmen, daß Sie deswegen gekommen sind), gehen Sie ins Bureau hinunter und regeln dort die Rechnung von Madame Douviers, mit dem Gelde, das Sie in meiner Reisetasche gefunden haben und das Sie sicherlich bei sich tragen. Kommen Sie erst in zehn Minuten wieder nach oben.«

Dies wurde ziemlich ernst, doch keineswegs drohend gesagt. Inzwischen hatte Bernard seine Sicherheit wiedergewonnen:

»In der Tat bin ich deswegen gekommen. Sie haben sich nicht getäuscht. Und auch ich beginne zu glauben, daß ich mich nicht getäuscht habe.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß Sie wirklich der zu sein scheinen, für den ich Sie nahm.«

Vergeblich suchte Edouard seine strenge Miene beizubehalten. Er amüsierte sich ungemein. Er verbeugte sich leicht:

»Besten Dank! Bleibt noch die reziproke Frage zu prüfen. Ich vermute (da Sie hier sind), daß Sie meine Aufzeichnungen gelesen haben?«

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Bernard Edouards Blick aus. Er lächelte mit heiterer Dreistigkeit und verneigte sich seinerseits:

»Selbstverständlich. Ich bin gekommen, um Ihnen meine Dienste anzubieten.«

Und wie ein beschwingtes Wesen eilte er die Treppe hinunter.

Als Edouard wieder ins Zimmer trat, schluchzte Laura jämmerlich. Er näherte sich ihr. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr lauter Schmerzensausbruch genierte ihn, war ihm fast unerträglich. Unwillkürlich klopfte er ihr sanft den Rücken, wie einem hustenden Kinde:

»Meine arme Laura«, sagte er; »nur den Mut nicht verlieren … seien Sie doch verständig.«

»Ach, lassen Sie mich weinen, das tut mir wohl.«

»Aber wir müssen doch überlegen, was Sie jetzt tun wollen.«

»Was soll ich denn noch tun? Wohin soll ich gehen? Mit wem soll ich sprechen?«

»Mit Ihren Eltern …«

»Aber Sie kennen meine Eltern doch, sie würden in Verzweiflung geraten! Sie haben immer nur alles für mein Glück getan.«

»Douviers …?«

»Dem wage ich nie wieder vor Augen zu treten! Er ist ein so guter Mensch! Sie dürfen nicht glauben, daß ich ihn nicht liebte … Wenn Sie wüßten! … wenn Sie wüßten! … Ach, sagen Sie mir, daß Sie mich nicht ganz verachten!«

»Aber im Gegenteil, meine kleine Laura, ganz im Gegenteil! Wie können Sie nur so etwas denken?« –… Und er begann ihr wieder den Rücken zu klopfen.

»Wirklich, wenn Sie da sind, so schäme ich mich nicht mehr so entsetzlich!«

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Ich weiß nicht mehr. Ich habe nur noch gelebt, um Sie zu erwarten. Manchmal konnte ich nicht weiter. Ich glaube, ich kann keinen einzigen Tag mehr hier bleiben!«

Und sie brach in ein fast schreiendes Gewimmer aus.

»Nehmen Sie mich mit! Nehmen Sie mich mit!« rief sie mit erstickter Stimme.

Edouard fühlte sich immer genierter.

»Hören Sie, Laura … Beruhigen Sie sich doch! … Der … der andere … ich weiß nicht einmal seinen Namen …«

»Bernard«, murmelte Laura.

»Bernard muß im Augenblick wieder hier sein! Also nehmen Sie sich doch zusammen! Er braucht Sie nicht in dieser Verfassung zu sehen. Fassen Sie doch ein bißchen Mut! Wir denken uns schon etwas aus, das verspreche ich Ihnen! Nun also! Trocknen Sie sich die Augen! Das Weinen hilft nichts. Sehen Sie sich nur mal im Spiegel an, wie rot und verweint Sie aussehen! Mit etwas kaltem Wasser geht alles wieder weg. Wenn ich Sie so weinen sehe, kann ich an gar nichts mehr denken … Hören Sie, da kommt er! Er ist schon auf dem Flur.«

Er ging zur Tür und ließ Bernard eintreten. Und während Laura, der Szene den Rücken kehrend, am Waschtisch beschäftigt war, die Spuren des Weinens zu verwischen:

»Und nun, Monsieur, darf ich Sie vielleicht fragen, wann es mir vergönnt sein wird, in den Wiederbesitz meiner Sachen zu treten?«

Dabei sah er Bernard, mit dem gleichen ironischen Lächeln wie vorhin, gerade ins Gesicht.

»Sobald es Ihnen belieben wird, Monsieur. Immerhin möchte ich Ihnen gestehen, daß Sie dieser Sachen, die Ihnen fehlen, gewiß viel weniger bedürftig sind als ich. Das würden Sie gleich einsehen, wenn Sie meine Geschichte kennten. Vernehmen Sie zunächst nur, daß ich seit heute früh ohne Obdach und ohne Familie bin, und daß ich mich vielleicht heute ertränkt hätte, wenn ich Sie nicht getroffen hätte. Ich bin Ihnen heute vormittag lange gefolgt, während Sie mit meinem Freunde Olivier plauderten. Oh, er hat mir so viel von Ihnen erzählt! Ich wollte Sie ansprechen. Ich suchte nach einem Vorwand, einem Auskunftsmittel … Als Sie dann Ihren Gepäckaufbewahrungsschein achtlos auf die Straße warfen, da segnete ich mein Schicksal! Oh, halten Sie mich nicht für einen Dieb! Wenn ich Ihre Reisetasche abgehoben habe, so geschah es vor allem, um in Beziehung zu Ihnen zu kommen.«

Bernard brachte das alles in fliegender Hast vor. Ein seltsames Feuer belebte seine Züge: war es die Flamme edler Gesinnung? Nach Edouards Lächeln zu urteilen, fand dieser ihn durchaus sympathisch.

»Und nun …?« fragte er.

Bernard verstand, daß er an Terrain gewann:

»Und nun … könnten Sie nicht einen Sekretär brauchen? Ich kann mir nicht denken, daß ich diesen Posten schlecht ausfüllen würde, da es doch mit soviel Freude geschähe.«

Edouard mußte lachen. Laura sah die beiden belustigt an.

»Hm, Sie scheinen Ihre Zeit nicht zu verlieren! … Na, man kann ja sehen, wir wollen es überlegen. Falls Madame Douviers uns die Erlaubnis gibt, könnten wir uns morgen um dieselbe Stunde hier wiedertreffen … Inzwischen hätte ich auch mit Madame manches zu beraten. Sie sind vermutlich in einem Hotel? Oh, ich brauche nicht zu wissen, in welchem. Darauf kommt es nicht an. Also auf morgen!«

Er reichte ihm die Hand.

»Monsieur«, sagte Bernard, »darf ich Sie, bevor ich mich verabschiede, vielleicht daran erinnern, daß im Faubourg Saint-Honoré ein armer alter Musikprofessor wohnt, namens La Pérouse, glaube ich, dem Sie durch Ihren Besuch eine sehr große Freude bereiten würden?«

»Alle Wetter, für ein Debut ist das nicht übel! Sie nehmen Ihre Funktionen offenbar sehr ernst!«

»Sie wären also einverstanden?«

»Wir wollen morgen darüber sprechen. Adieu.«

Edouard blieb noch etwas bei Laura und ging dann zu den Moliniers. Er hoffte Olivier wiederzusehen, mit dem er über Bernard hätte sprechen wollen. Er traf aber, obwohl er verzweifelt lange dablieb, nur Pauline.

Olivier begab sich an diesem selben Nachmittag, jener dringenden Einladung folgend, die ihm sein Bruder übermittelt hatte, zum Autor des Turnrecks, dem Grafen Passavant.


 << zurück weiter >>