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X

Nichts, was sich der Seele bietet, ist eindeutig, und vieldeutig bietet sich allein die Seele.

Pascal.

»Ich glaube, er wird glücklich sein, Sie zu sehen«, sagte am folgenden Tag Edouard zu Bernard. »Er hat mich heute morgen gefragt, ob Sie gestern nicht gekommen seien. Er scheint Ihre Stimme gehört zu haben, während ich ihn ohne Bewußtsein glaubte … Er hat die Augen noch immer geschlossen, aber er schläft nicht. Er sagt kein Wort. Er greift sich häufig an die Stirn, er scheint noch schlimme Schmerzen zu haben. Wenn ich ihn anspreche, wird sein Gesicht abweisend; doch will ich dann das Zimmer verlassen, so ruft er mich zurück und wünscht, daß ich mich neben ihn setze … Nein, er liegt nicht mehr im Atelier; ich habe ihn in das Zimmer neben dem meinigen getragen, so daß ich Besuche empfangen kann, ohne daß er dadurch gestört wird.«

Sie gingen in Oliviers Zimmer.

»Ich wollte mich erkundigen, wie du dich fühlst«, sagte Bernard leise.

Oliviers Züge belebten sich, als er des Freundes Stimme vernahm; es war fast schon ein Lächeln …

»Ich hab' auf dich gewartet.«

»Wenn du zu müde bist, geh' ich gleich wieder.«

»Bleib.«

Nach diesem Worte legte Olivier einen Finger an den Mund: es sollte nichts weiter gesprochen werden. Bernard, der in drei Tagen sein mündliches Examen hatte, führte dauernd eines jener ›kurzgefaßten Handbücher‹ bei sich, in deren knappen Paragraphen die Unendlichkeit der Prüfungsgegenstände zur bitteren Quintessenz zusammengepreßt ist. Er nahm neben dem Bette Platz und versenkte sich in die Lektüre. Olivier, das Gesicht zur Wand gekehrt, schien zu schlafen. Edouard hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Aber die Verbindungstür blieb offen, und von Zeit zu Zeit sah man ihn auf der Schwelle auftauchen. Alle zwei Stunden gab er Olivier ein Glas Milch zu trinken, doch erst seit heute morgen: während des ganzen gestrigen Tages hatte der Magen des Kranken nichts annehmen wollen.

Lange Zeit verging. Bernard erhob sich. Olivier wandte sich ihm zu, reichte ihm die Hand und sagte, mit einem Versuch, zu lächeln:

»Du kommst morgen wieder?«

Als Bernard schon an der Tür war, rief er ihn noch einmal zurück, bedeutete ihm, sich über ihn zu neigen, damit seine Stimme ihn erreiche, und sagte leise: »Denkst du nicht, daß ich ein Idiot gewesen bin!?«

Dann legte er, wie um Bernards Protest zuvorzukommen, nochmals den Finger an den Mund:

»Nein, nein … Später will ich euch alles erklären.«

 

Folgenden Tags erhielt Edouard einen Brief von Laura. Als Bernard erschien, gab er ihm das Blatt. Bernard las:

 

Mein lieber Freund,

Ich schreibe Ihnen in großer Eile, um zu versuchen, ein absurdes Unheil zu verhüten. Dabei werden Sie mir helfen, dessen bin ich sicher, falls nur diese Zeilen noch rechtzeitig bei Ihnen eintreffen.

Félix ist soeben nach Paris abgereist. Er wird Sie aufsuchen. Er möchte aus Ihrem Munde gewisse Aufklärungen hören, die ich ihm nicht geben will. Er wünscht von Ihnen den Namen jenes Mannes zu erfahren, den er zum Duell fordern zu müssen glaubt. Ich habe getan, was ich zu tun vermochte, um ihn zurückzuhalten, aber alle meine Beschwörungen haben ihn nur noch bestärkt in seinem Vorhaben. Sie sind der einzige Mensch, der ihn vielleicht umstimmen kann. Er hat Vertrauen zu Ihnen und wird hoffentlich auf Sie hören. Bedenken Sie, er hat nie eine Pistole oder ein Florett in der Hand gehabt! Der Gedanke, er könne sein Leben für mich aufs Spiel setzen, ist mir unerträglich. Aber noch mehr fürchte ich (kaum wage ich, es hinzuschreiben), daß er dem Fluche der Lächerlichkeit verfalle …

Seit meiner Rückkehr ist Félix für mich stets voller Eifer, Zartheit und Aufmerksamkeit gewesen. Aber ich kann für ihn nicht mehr Liebe heucheln, als ich empfinde. Darunter leidet er. Und ich glaube, es ist der Wunsch, mich zur Anerkennung, zur Bewunderung zu zwingen, der ihn in dieses Abenteuer treibt, das Ihnen töricht erscheinen wird, aber von dem er völlig besessen ist. Ganz bestimmt hat er mir verziehen; doch gegen den andern hegt er einen tödlichen Groll.

Ich flehe Sie an, ihn ebenso herzlich zu empfangen, wie Sie mich selbst empfangen würden! Keinen wichtigeren Freundschaftsdienst könnten Sie mir leisten als diesen! Verzeihen Sie mir, daß ich nicht schon eher geschrieben und Ihnen nochmals von Herzen gedankt habe für alle Aufopferung und Sorge, die Sie mir während unseres Aufenthaltes in der Schweiz haben angedeihen lassen. Die Erinnerung an diese Zeit beglückt mich immer wieder und hilft mir, das Leben zu ertragen.

Ihre, stets unruhige und stets vertrauensvolle Freundin

Laura

 

»Was gedenken Sie zu tun?« fragte Bernard, indem er den Brief zurückgab.

»Was wollen Sie, daß ich dabei tun soll?« erwiderte Edouard etwas ärgerlich, und zwar nicht so sehr über Bernards Frage, als weil er sich dieselbe Frage auch seinerseits schon mehrmals gestellt hatte. –… »Wenn er kommt, so werde ich ihn natürlich in aller Freundschaft empfangen. Und wenn er mich um Rat fragt, so werde ich die Sache freundschaftlich mit ihm besprechen. Ich werde versuchen, ihm klarzumachen, daß er nichts Besseres tun könne, als sich durchaus ruhig zu verhalten … Leute wie dieser arme Douviers sollten niemals danach trachten, sich in den Vordergrund zu schieben. Wenn Sie ihn kennten, so wären Sie gewiß meiner Meinung. Laura ihrerseits war für erste Rollen geschaffen. Jeder von uns übernimmt ein Drama nach seinem Maß und empfängt einen Anteil an der Tragik. Was vermögen wir dabei? Lauras Drama ist, einen Statisten geheiratet zu haben. Daran ist nichts zu ändern.«

»Und Douviers' Drama ist, jemand geheiratet zu haben, der ihm überlegen bleibt, was er auch tun mag«, sagte Bernard.

»Was er auch tun mag«, wiederholte Edouard, »und was immer auch Laura ihrerseits tun mag … Das Merkwürdigste ist, daß Laura, aus Reue über das Geschehene, sich durchaus vor ihm zu erniedrigen suchte. Doch er warf sich gleich in noch tiefere Abgründe als sie. Und alles, was die beiden taten, führte nur dazu, ihn immer kleiner werden zu lassen und sie immer größer.«

»Er tut mir sehr leid«, sagte Bernard. »Aber warum halten Sie es denn nicht für denkbar, daß auch er in dieser Selbstdemütigung an Größe gewinne?«

»Weil es ihm an Lyrismus gebricht«, antwortete Edouard kategorisch.

»Was meinen Sie damit?«

»Daß er sich nie vergißt in dem, was er empfindet, und deshalb nie etwas Großes empfinden kann. Aber das ist ein zu weites Feld … Ich habe so meine Ideen darüber, doch widerstreben sie einer präzisen Bemessung, und ich suche sie auch gar nicht zu formulieren. Paul-Ambroise pflegt zu sagen, er lasse nichts gelten, er stelle nichts in Rechnung, was sich nicht in Zahlen ausdrücken lasse; wobei er mit dem Begriff ›Rechnung‹ wohl ein bißchen voltigiert; denn wenn man so rechnet, so muß man den lieben Gott ganz aus der Rechnung lassen … Gerade dahin geht übrigens seine Tendenz … Warten Sie mal: ich glaube, ich nenne ›Lyrismus‹ den Zustand eines Menschen, der es hinnimmt, von Gott überwunden zu werden.«

»Bedeutet dann das Wort ›Enthusiasmus‹ nicht genau dasselbe?«

»Und vielleicht das Wort ›Inspiration‹ auch. Ja, da haben wirs: Douviers ist ein der Inspiration unfähiges Wesen. Ich stimme mit Paul-Ambroise darin überein, daß die Inspiration etwas der Kunst höchst Nachteiliges sei. Und ich bin durchaus der Meinung, daß nur der ein Künstler ist, der die lyrische Verzückung zu bemeistern vermag. Aber um sie bemeistern zu können, muß man sie vorher empfunden haben.«

»Glauben Sie nicht, daß dieser Zustand göttlicher Heimsuchung sich physiologisch erklären läßt durch …«

»Was wäre damit gewonnen?« unterbrach Edouard den Fragenden. »Solche Untersuchungen, mögen sie so wissenschaftlich sein, wie sie wollen, haben höchstens das Gute, alle Trottel vor den Kopf zu stoßen. Sicherlich gibt es keine mystische Regung, die nicht ihr Äquivalent im Materiellen hätte. Na, und was weiter? Der Geist kann eben, um sich zu bekunden, die Materie nicht entbehren. Daher das Mysterium der Fleischwerdung des Wortes.«

»Dafür kann die Materie ihrerseits den Geist um so leichter entbehren!«

»Oh, wir wissen nichts davon«, sagte Edouard lachend.

Bernard fand es ungemein ergötzlich, ihn so reden zu hören. Für gewöhnlich gab Edouard sich wenig aus. Die Angeregtheit, die er heute zur Schau trug, hatte ihren Grund darin, daß Olivier sich im Nebenzimmer befand. Bernard verhehlte sich das nicht.

»Er unterhält sich mit mir so, wie er sich schon mit ihm unterhalten zu können wünschte«, dachte er. »Olivier –… ja, den sollte er zu seinem Sekretär machen! Sobald Olivier sich wieder ganz gesund fühlt, ziehe ich mich zurück. Mein Platz ist anderswo.«

Er dachte das ohne Bitterkeit, ganz erfüllt von Sarahs Wesen, wie er jetzt war. Er hatte sie in der vorigen Nacht wiedergesehen und war für die kommende Nacht mit ihr verabredet.

»Da wären wir ja weit abgekommen von Douviers!« sagte er, ebenfalls lachend. »Werden Sie ihm den Namen Vincents nennen?«

»Alle Wetter, nein! Wozu sollte das gut sein?«

»Denken Sie nicht, daß es wie ein schleichendes Gift auf Douviers wirken muß, wenn er nie erfährt, auf wen er seinen Grimm zu lenken hat?«

»Sie haben vielleicht recht. Aber das ist eine Sache, die man mit Laura überlegen müßte. Ich würde ja zum Verräter an ihr werden, wenn ich sprechen wollte … Übrigens weiß ich gar nicht einmal, wo er ist.«

»Vincent? … Oh, das müßte doch Passavant wissen!«

In diesen Augenblick läutete es draußen an der Wohnungstür. Es war Madame Molinier, die sich nach ihrem Sohne erkundigen wollte. Sie wurde ins Atelier geführt, wohin Edouard sich jetzt ebenfalls begab, um sie zu begrüßen.

 

Aus Edouards Tagebuch:

»Besuch von Pauline. Ich war in Verlegenheit, inwieweit ich sie von dem Geschehenen unterrichten sollte. Daß ihr Sohn krank war, konnte man ihr ja nicht gut verheimlichen. Aber es wäre mir unangebracht erschienen, ihr Kenntnis zu geben von diesem so geheimnisvollen Selbstmordversuch. So habe ich einfach von einer heftigen Affektion der Leber gesprochen, die in der Tat die deutlichste Folge dieses Abenteuers geblieben ist.

»Ich bin schon dadurch beruhigt, daß ich Olivier bei Ihnen weiß«, sagte Pauline. »Ich selbst könnte ihn nicht besser pflegen, als Sie es tun werden, denn ich fühle ganz genau, daß Sie ihn ebensosehr lieben wie ich.«

Bei den letzten Worten sah sie mich mit seltsamer Eindringlichkeit an. Habe ich mir die Absicht, die sie mit diesem Blick zu verbinden schien, nur eingebildet? Ich fühlte gegenüber Pauline das, was man gemeinhin ein ›schlechtes Gewissen‹ nennt, und vermochte nur ein paar nichtssagende Worte hervorzubringen. Hinzu kam, daß ich, seit zwei Tagen mit Aufregungen übersättigt, jede Herrschaft über mich selbst verloren hatte. Meine Verwirrung schien unverkennbar zu sein, denn Pauline fügte hinzu:

»Ihr Erröten spricht deutlich genug … Mein armer Freund, erwarten Sie keine Vorwürfe von mir. Nur in dem Falle, daß Sie ihn nicht liebten, hätte ich Grund, Ihnen Vorhaltungen zu machen … Kann ich ihn sehen?«

Ich führte sie in Oliviers Zimmer. Bernard hatte sich zurückgezogen, als er uns kommen hörte.

Sie neigte sich über das Bett und flüsterte: »Wie schön er doch ist!« Dann, zu mir gewandt: –… »Geben Sie ihm einen Kuß von mir; ich möchte ihn nicht aufwecken.«

Sicherlich ist Pauline eine außergewöhnliche Frau. Das denke ich nicht erst seit heute. Dennoch konnte ich kaum hoffen, daß ihr Verständnis so weit gehen würde. Bei alledem glaubte ich freilich, durch ihren herzlichen, sozusagen jovialen Ton etwas wie Gezwungenheit hindurchzufühlen (die vielleicht verursacht war durch meine krampfhaften Versuche, unbefangen zu erscheinen); und ich erinnerte mich eines Satzes aus unserer letzten Unterhaltung, eines Satzes, der mir schon damals, als ich noch kein Interesse daran hatte, ihn so zu beurteilen, als Zeichen sehr großer Klugheit aufgefallen war: ›Etwas, was ich nach der ganzen Sachlage nicht hindern kann, das lasse ich lieber gutwillig geschehen.‹ Es war klar: Pauline bestrebte sich auch in diesem Falle, etwas ›gutwillig geschehen zu lassen‹. Und wie als Antwort auf meine verborgenen Gedanken sagte sie, als wir wieder im Atelier waren:

»Indem ich mich soeben nicht befremdet gezeigt habe, fürchte ich, Ihr Befremden erregt zu haben. Es gibt ja gewisse Kühnheiten des Denkens, in denen die Männer sich das Monopol bewahren möchten. Ich kann aber doch Ihnen gegenüber keine schärfere Mißbilligung heucheln, als ich sie empfinde! Das Leben hat mich instruiert. Ich habe erkannt, wie gefährdet die Reinheit der Knaben ist, mag sie scheinbar noch so gut behütet sein. Ja, noch mehr: ich glaube nicht, daß es gerade die keuschesten Jünglinge sind, aus denen späterhin die besten Ehemänner werden; leider nicht einmal die treuesten«, fügte sie mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu. »Kurz, das Beispiel ihres Vaters läßt mich für meine Söhne andere Tugenden wünschen. Dennoch habe ich Angst vor einem wüsten Leben, das sie führen könnten, vor entehrenden Beziehungen, in die man sie verstricken könnte … Olivier verliert sich leicht. Sie werden darauf bedacht sein, ihn zu halten. Ich glaube, daß Sie gut auf ihn wirken können. Es liegt allein in Ihrer Macht, daß …«

Diese Worte verwirrten mich.

»Sie machen mich besser, als ich bin!«

Das war alles, was ich zu sagen vermochte: eine abgegriffene Phrase. Mit äußerster Zartheit entgegnete Pauline:

»Olivier ist es, der Sie besser machen wird! Wieviel gewinnt man sich nicht selber ab, sobald Liebe im Spiele ist!«

»Weiß Oscar, daß er bei mir ist?« fragte ich, um eine gewisse Entspannung zwischen uns zu schaffen.

»Er weiß nicht einmal, daß er in Paris ist. Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, daß er sich nicht viel um seine Söhne bekümmert. Deshalb rechnete ich ja auf Sie, um mit Georges zu sprechen. Haben Sie es vielleicht schon getan?«

»Nein, noch nicht.«

Paulines Blick hatte sich verdüstert.

»Er macht mir immer mehr Sorgen. Neuerdings trägt er ein übertrieben zuversichtliches Wesen zur Schau, ein Wesen, in dem ich nur Leichtfertigkeit, Anmaßung und Zynismus zu erkennen vermag. Er arbeitet gut, seine Lehrer sind mit ihm zufrieden; meine Unruhe weiß nicht, wohin sie sich richten soll …«

Und plötzlich alle bisherige Zurückhaltung aufgebend, sagte sie mit einer Leidenschaft, in der ich sie kaum wiedererkannte:

»Machen Sie sich einen Begriff davon, was aus meinem Leben geworden ist?! Ich habe meine Ansprüche längst auf ein Minimum reduziert; von einem Jahr zum andern bin ich resignierter geworden; alle meine Hoffnungen habe ich begraben, eine nach der andern … Ich habe nachgegeben; ich habe geduldet; ich habe getan, als sähe und begriffe ich nichts … Aber an irgendein Äußerstes klammert man sich doch an … Wenn dann auch noch dieses Letzte einem entgleitet! … Abends arbeitet er am Tisch, bei der Lampe; und hebt er einmal den Kopf von den Büchern, so entdecke ich in seinem Blick nichts von kindlicher Anhänglichkeit, sondern nur Abweisung und Trotz. Oh, das habe ich nicht verdient! … Manchmal scheint es mir dann, als verwandle sich all meine Liebe zu ihm in Haß; und ich möchte nie Kinder gehabt haben! …«

Ihre Stimme zitterte. Ich nahm ihre Hand.

»Olivier soll Sie für alles entschädigen; dafür stehe ich ein.«

Sie suchte sich zu fassen.

»Ach, es ist ja unsinnig, was ich da rede! Als hätte ich nicht drei Söhne! Denke ich an einen von ihnen, so ist es mir immer, als wäre er der einzige … Ich muß Ihnen sehr unvernünftig erscheinen … Aber, wirklich, mit der Vernunft allein ist es nicht immer getan.«

»Dennoch ist die Vernunft dasjenige, was ich am meisten an Ihnen bewundere«, sagte ich mit platter Höflichkeit, in der Hoffnung, sie ein wenig zu beruhigen. »Neulich sprachen Sie mit einer so überlegenen Klugheit von Oscar …«

Pauline gab sich einen Ruck. Sie sah mich an und zuckte mit den Achseln.

»Wenn eine Frau auf alles verzichtet hat, dann scheint sie euch Männern plötzlich mit wahrhaft bewunderungswürdiger Vernunft begabt zu sein!« rief sie in bitterem, ja beinahe feindseligem Tone.

Diese Bemerkung irritierte mich, gerade weil sie so außerordentlich treffend war. Um mein Unbehagen zu verbergen, fragte ich ablenkend:

»Nichts Neues mit den Briefen?«

»Neues? Neues?! … Was sollte es zwischen Oscar und mir wohl Neues geben?«

»Er wartete doch auf eine Aussprache …«

»Ich wartete auch auf eine Aussprache! Mein ganzes Leben lang habe ich auf irgendeine Aussprache gewartet! …«

»Na«, sagte ich etwas ärgerlich, »jedenfalls fühlte sich Oscar in einer falschen Lage …«

»Aber, mein lieber Freund, Sie wissen doch selbst, daß nichts in der Welt so leicht chronischen Charakter annimmt wie ›falsche Lagen‹! Bei euch Romanschriftstellern freilich, da gelangen alle Situationen zu ›folgerichtiger‹ Entwicklung, Lösung und Entscheidung. Im wirklichen Leben aber löst und entscheidet sich gar nichts: alles bleibt genau so, wie es ist! Man steckt in Unsicherheit und bleibt darin stecken bis an sein seliges Ende, ohne je gewußt zu haben, woran man eigentlich ist. Und das Leben geht inzwischen seinen Gang, geht weiter, als wenn das alles so ganz in der Ordnung wäre … Und auch damit findet man sich ab; wie mit dem übrigen …; wie mit allem und jedem … Also, adieu!«

Es betrübte mich, in Paulines Stimme eine neue Nuance zu entdecken: etwas Angreiferisches, Herausforderndes, das mich auf die Vermutung brachte (nicht schon jetzt, sondern erst bei späterem Überdenken unseres Gesprächs), daß Pauline sich weit weniger leicht, als sie sagte, mit meinen Beziehungen zu Olivier abzufinden vermöge; weniger leicht als mit allem übrigen. Ich glaube, daß sie diese Beziehungen nicht geradezu mißbilligt, ja, daß sie in gewisser Hinsicht sogar froh darüber ist (wie sie es ja auch selbst ausgesprochen hat); daß sie aber –… vielleicht, ohne sich dessen ganz bewußt zu sein –… im Grunde doch Eifersucht gegen mich empfindet.

Das ist die einzige Erklärung, die ich mir denken kann für ihr ungestümes Aufbegehren bei einem Thema, das ihr schließlich doch lange nicht so sehr am Herzen liegt wie meine Beziehungen zu Olivier. Indem sie mir ›gutwillig‹ das überließ, was zu gewähren ihr die schmerzlichste innere Überwindung kostete, hatte sie ihren Vorrat an Sanftmut offenbar radikal erschöpft und fand sich nun plötzlich ohne die geringste verfügbare Duldsamkeit. Daher ihre heftigen, fast rebellischen Ausbrüche, über die sie sich in der Erinnerung vielleicht selber wundern wird und in denen ihre Eifersucht sich verraten hat.

Übrigens frage ich mich, in welcher Verfassung sich eine Frau (ich meine: eine ›anständige‹ Frau) befinden müßte, die nicht resigniert hätte … Als wenn die Resignation nicht ein integrierender Bestandteil wäre dessen, was man bei den Frauen ›Anständigkeit‹ nennt!

 

Gegen Abend nimmt Oliviers Befinden eine entschiedene Wendung zum Besseren. Aber die Wiederkehr des Lebens bringt auch erneute Unruhe mit sich. Ich suche diese Sorgen möglichst wenig aufkommen zu lassen.

Das Duell? –… Oh, Monsieur Dhurmer hat es vorgezogen, sich in ländliche Einsamkeit zurückzuziehen! Sollen wir etwa hinter ihm herlaufen?

Die Zeitschrift? –… Um die bekümmert sich Bercail.

Die Sachen, die bei Passavant geblieben sind? –… Das ist allerdings der unangenehmste Punkt. Ich habe gestehen müssen, daß es Georges nicht geglückt ist, ihrer habhaft zu werden; aber ich habe versprochen, sie morgen selbst abzuholen. Olivier scheint zu fürchten, daß Passavant versuchen werde, sie als eine Art Pfand bei sich zu behalten (was ich nicht einen Augenblick zugeben könnte).

 

Ich blieb gestern abend, nachdem ich diese Seiten geschrieben hatte, noch eine Weile im Atelier sitzen. Da hörte ich Olivier nach mir rufen. Ich stürzte zu ihm hin.

»Ich wäre zu dir gekommen«, sagte er, »wenn ich schon genug Kraft dazu gehabt hätte. Ich wollte aufstehen; aber kaum bin ich außerhalb des Bettes, so dreht sich mir alles im Kopfe, und mir ist, als sollte ich wieder ohnmächtig werden … Nein, nein: es geht mir durchaus nicht schlechter! Im Gegenteil! … Aber ich wollte unbedingt mit dir sprechen … Du mußt mir eine Zusage geben: niemals wissen zu wollen, warum ich den Tod gesucht habe … Ich glaube, ich weiß es selbst nicht mehr. Ich möchte es dir wirklich gern sagen, aber ich kann es nicht … Aber du sollst nicht etwa denken, es sei wegen irgendeines dunklen Geheimnisses in meinem Leben, wovon du nichts wüßtest …« –… Dann, mit sehr leiser Stimme: »Und du sollst auch nicht auf den Gedanken kommen, es sei aus Scham …«

Obgleich wir im Dunkeln waren, verbarg er sein Gesicht an meiner Schulter.

»... Oder wenn ich mich schäme, so wegen des Banketts vom Dienstag abend; wegen meiner Betrunkenheit, meiner Haltlosigkeit, meiner Tränen, und wegen dieser ganzen Sommermonate; … und weil ich so schlecht auf dich gewartet habe.«

Darauf beteuerte er, daß er sich von alledem innerlich ganz losgemacht habe; ja, daß es gerade das gewesen sei, was er habe töten wollen und auch wirklich getötet habe, so daß es nun völlig aus seinem Dasein weggewischt sei.

Ich spürte an seiner Erregung, wie schwach er noch war. Deswegen antwortete ich kein Wort, sondern versuchte, ihn in Schlaf zu lullen, wie ein kleines Kind. Er brauchte Ruhe. Sein Schweigen ließ mich hoffen, er sei schon wieder eingeschlafen. Da hörte ich ihn flüstern:

»Bei dir schlafe ich nicht ein: ich bin zu glücklich.«

Erst gegen Morgen ließ er mich weg.«


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