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XII

 

Aus Edouards Tagebuch: (Fortsetzung)

»Den 2. November. –… Langes Gespräch mit Douviers. den ich bei Lauras Eltern getroffen habe und der mich durch den Jardin du Luxembourg bis zum Odéon begleitet. Er ist mit seiner Doktorarbeit beschäftigt, die den Dichter William Wordsworth behandelt –… aber an den wenigen Sätzen, die er darüber äußert, spüre ich deutlich, daß er für das innerste Wesen dieses Künstlers keinen Sinn hat. Er hätte sich lieber für Tennyson entscheiden sollen. Es liegt etwas Unzugängliches, Verblasenes und Einfältiges in Douviers' Weltauffassung. Er nimmt alle Dinge und Gestalten einfach so, wie sie sich geben: vielleicht, weil er selbst sich immer so gibt, wie er ist.

»Ich weiß«, sagte er zu mir, »daß Sie Lauras bester Freund sind. Eigentlich müßte ich auf Sie wohl ein bißchen eifersüchtig sein. Aber ich vermag es nicht. Im Gegenteil, alles, was sie mir von Ihnen erzählte, hat mich Lauras eigenes Wesen besser verstehen lassen und zugleich den Wunsch in mir erweckt, Ihr Freund zu werden. Ich habe Laura neulich gefragt, ob Sie es mir nicht allzusehr verübeln, daß ich sie heirate? Darauf erwiderte sie: ganz im Gegenteil, Sie hätten ihr geraten, es zu tun.« –… (Ich glaube wirklich, daß er sich so plump ausgedrückt hat.) –… Er fügte noch hinzu: »Dafür möchte ich Ihnen danken. Und das darf Ihnen nicht lächerlich erscheinen, denn ich tu's aus ehrlichem Herzen.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Stimme zitterte, und die Tränen stiegen ihm in die Augen.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, denn ich fühlte mich viel weniger bewegt, als ich es hätte sein sollen, und keineswegs in der Lage, gleichwertige Vertraulichkeiten zu produzieren. Ich bin ihm wohl etwas trocken erschienen; aber seine Art war mir peinlich. Trotzdem drückte ich die Hand, die er mir reichte, so freundlich ich nur konnte. Solche Szenen, in denen der eine mehr, als gewünscht wird, von seinem Herzen offenbart, sind immer qualvoll. Douviers wollte meine Sympathie erzwingen. Wäre er scharfsichtiger gewesen, so hätte er sich gleich betrogen gefühlt. Aber schon sah ich ihn gerührt über seine eigene Hingebung, deren Abschein er in meinem Blicke zu entdecken glaubte. Da ich jedoch nichts sagte, so bemerkte er mit einer gewissen Verlegenheit:

»Ich rechne darauf, daß der Luftwechsel, den ihr die Übersiedelung nach Cambridge bringt, Vergleichen vorbeugt, die zu meinen Ungunsten ausfallen müßten.«

Was meinte er mit diesen Worten? Ich bemühte mich, sie nicht zu verstehen. Vielleicht erwartete er einen Protest von mir; aber dadurch wäre die Situation nur noch unangenehmer geworden. Es gibt solche Menschen, deren Schüchternheit das Schweigen nicht erträgt und die es durch ein übertriebenes Entgegenkommen ausfüllen zu müssen glauben. Solche Menschen sagen nachher zu einem: ›Ich bin stets offen zu Ihnen gewesen.‹ Ja, allerdings; aber es kommt nicht so sehr darauf an, daß einer offen sei, als vielmehr darauf, daß er dem andern ermögliche, in derselben Weise zu reagieren. Douviers hatte keine Empfindung dafür, daß es gerade seine Offenheit war, wodurch die meinige ertötet wurde.

Doch wenn ich auch sein Freund nicht werden kann, so glaube ich immerhin, daß er einen ausgezeichneten Ehemann für Laura abgeben wird (denn was ich ihm hier vorwerfe, sind im Grunde ja Vorzüge). –… Dann redeten wir noch von Cambridge, und ich versprach, sie dort zu besuchen.

Welcher absurde Trieb hatte Laura veranlaßt, mit ihm über mich zu sprechen?

 

O der wunderliche Drang zur Hingebung bei der Frau! Der Mann, den sie liebt, ist für sie meist nur eine Art Kleiderhaken, an dem sie ihre Liebe aufhängt. Mit welch aufrichtiger Bequemlichkeit hat Laura den neuen Haken in Gebrauch genommen! Ich verstehe, daß sie Douviers heiratet: ich war ja einer der ersten, der ihr zu dieser Ehe geraten hat. Aber vielleicht hätte ich doch erwarten dürfen, sie werde ein klein wenig bekümmert sein? –… Die Hochzeit findet in drei Tagen statt.

 

Einige Artikel über mein Buch. Die Qualitäten, die man mir am bereitwilligsten zuerkennt, sind gerade solche, die ich am heftigsten verabscheue … Hätte ich nicht lieber verhindern sollen, daß dieses alte Zeug neu herausgegeben werde? Es hat mit meiner heutigen Welt nichts mehr zu schaffen. Aber das merke ich erst jetzt. Ich habe mich wohl nicht eigentlich verändert; nur gewinne ich erst jetzt einen Überblick über mich selbst; bisher wußte ich nicht, wer ich war. Muß wirklich immer ein anderes Wesen da sein, durch dessen Vermittlung ich mir über mich selbst klar werde? Jenes Buch hatte sich nach Lauras Wesen kristallisiert, und das ist der Grund, weshalb ich mich jetzt nicht mehr darin erkenne.

 

Sollte uns ein aus Sympathie geborener Scharfsinn untersagt sein, mittels dessen wir der Zeit vorauseilen könnten? Welche Probleme werden die kommende Generation beunruhigen? Für diese Kommenden will ich schreiben. Einer noch unbestimmten Neugier Nahrung liefern, einer Sehnsucht antworten, die noch nicht eingeordnet ist, so daß, wer heute noch ein Kind ist, morgen erstaunt sein wird, mich auf seinem Wege zu finden.

 

Mit welcher Freude entdeckte ich bei Olivier diesen geistigen Wagemut, diese ungeduldige Abwendung vom Gestrigen …

Es scheint mir manchmal, als interessiere er sich nur für die Dichtkunst. Und indem ich, durch das Medium seines Wesens, die Werke unserer Dichter wiederlese, erkenne ich, wie selten sich unter ihnen einer findet, der sich mehr vom Kunstgefühl als vom Herzen oder vom Verstande hat leiten lassen. Das Seltsame ist, daß, als Oskar Molinier mir ein Gedicht seines Sohnes zeigte, ich diesem empfohlen habe, sich mehr vom Gang der Worte leiten zu lassen als sie einer Idee dienstbar machen zu wollen. Und jetzt scheint Olivier mir diese Lehre indirekt zurückzugeben.

Wie traurig, langweilig und lächerlich rationalistisch erscheint mir heute alles, was ich bisher geschrieben habe! Den 5. November. –… Die Zeremonie hat stattgefunden. In der kleinen Kapelle der Rue Madame, die ich so lange nicht betreten hatte, war die Familie Vedel-Azaïs vollständig versammelt: Lauras Großvater, ihre Eltern, ihre beiden Schwestern und ihr jüngster Bruder, dazu eine Anzahl von Onkeln, Tanten und Vettern. Familie Douviers vertreten durch drei schwarzgekleidete Tanten, aus denen der Katholizismus drei Nonnen gemacht hätte. Wie man mir sagt, wohnen diese drei Damen zusammen, und bei ihnen hat auch Douviers seit dem Tode seiner Eltern gelebt. Auf der Galerie die Schüler der Pension. Freunde der Familie füllten den Saal, in dessen Hintergrund ich mich hielt. Unweit von mir sah ich meine Schwester mit Olivier. Georges war wohl mit seinen Altersgenossen auf der Galerie. Am Harmonium der alte La Pérouse. Sein Gesicht gealtert, doch schöner und edler denn je; nur in seinem Auge nicht mehr jene Flamme der Begeisterung, die er mir einst mitteilte, in der Zeit, da ich Klavierstunden bei ihm nahm. Unsere Blicke begegneten sich, und ich spürte in seinem Lächeln soviel Kummer, daß ich mir vornahm, nachher beim Hinausgehen mit ihm zu sprechen. Da einige Personen gerade ihren Platz wechselten, wurde neben Pauline ein Sitzplatz frei. Olivier gab mir gleich ein Zeichen und ließ seine Mutter etwas weiterrücken, damit ich mich neben ihn setzen könne. Dann nahm er meine Hand und hielt sie lange in der seinen. Es war das erstemal, daß er sich so vertraut zu mir benahm. Fast während der ganzen, endlosen Ansprache des Pastors hielt er die Augen geschlossen, so daß ich ihn lange betrachten konnte. Er hat Ähnlichkeit mit jenem schlafenden Hirtenknaben auf einem Basrelief des neapolitanischen Museums, dessen Photographie auf meinem Schreibtisch steht. Ohne das nervöse Zittern seiner Finger hätte ich geglaubt, daß auch er schlafe; seine Hand zuckte wie ein kleiner Vogel in der meinen.

Der alte Pastor glaubte einen Abriß der ganzen Familiengeschichte geben zu müssen, angefangen mit der Biographie des Großvaters Azaïs, dessen Schulkamerad er in Straßburg vor dem Kriege gewesen war und späterhin sein Universitätsfreund an der theologischen Fakultät. Er schien nie zu Ende kommen zu wollen mit einem höchst komplizierten Satz, der ausdrücken sollte, daß sein Freund, indem er die Leitung einer Pension übernommen und sich der Erziehung junger Menschenkinder gewidmet habe, seinem seelsorgerischen Berufe innerlich durchaus treu geblieben sei. Darauf kam die nächste Generation an die Reihe. Ebenso erbaulich sprach er über die Familie Douviers, von der er freilich nicht besonders viel zu wissen schien. Das Pathos eines erhabenen Gefühls half ihm über alle rednerischen Schwächen hinweg, und man hörte einige Zuhörer sich schneuzen. Ich hätte wissen mögen, was Olivier empfand. Der protestantische Kultus mußte ihm, der als Katholik erzogen war, ja etwas ganz Ungewohntes sein, und vermutlich befand er sich zum erstenmal in diesem Tempel. Die merkwürdige Fähigkeit zum Verlassen meines Wesen, mittels welcher ich die Regungen eines andern wie meine eigenen empfinden kann, zwang mich geradezu, mich in Oliviers Gedanken hineinzufühlen: in die Gedanken, die er, wie ich mir vorstellte, haben mußte. Und obwohl er die Augen geschlossen hielt (oder vielleicht gerade um deswillen), kam es mir vor, als sähe ich an seiner Statt zum erstenmal diese nackten Mauern, das kalte, grau zerrinnende Licht des Saales, das lieblose Abgesondertsein der Kanzel auf kalkigem Grund, die Rechtwinkligkeit der Linien, die Starrheit der Pfeiler unter den Galerien, diese ganze eckige, puritanische Architektur, deren abstoßende Häßlichkeit, Strenge und Dürftigkeit mich noch niemals so niedergedrückt hatte wie heute. Wenn ich bisher kein deutliches Gefühl dafür hatte, so sicherlich deshalb, weil ich daran gewöhnt gewesen war von Kindheit an … Plötzlich mußte ich an die Zeit meiner religiösen Entflammung, meiner ersten Inbrunst denken; an Laura und an jene Sonntagsschule, in der wir uns damals zusammenfanden. Wir waren beide Vorzugsschüler, die das Gelernte, als kleine Apostel, alsbald weitergeben durften an die Mitschüler –… beide voll brennenden Eifers, und in dieser Glut, die alles Unreine in uns verzehrte, kaum unterscheidend, was davon Gott zukam und was dem andern. Und sogleich ward ich traurig darüber, daß Olivier diese erste, sinnlich-übersinnliche Not, darin die Seele in so gefährliche Zauberwelten gerät, nicht auch hatte kennen lernen können, daß nicht auch er solche Erinnerungen hatte. Doch indem ich mir vergegenwärtigte, wie fremd diese Sphären ihm sein mußten, gelang es mir, mich selbst von ihnen zu befreien. Heftig drückte ich die Hand, die er immer noch in der meinen belassen hatte, aber gerade in diesem Augenblick schnell zurückzog. Er machte die Augen auf und sah mich an. Über sein ernsthaftes Gesicht huschte ein kindlich-schalkhaftes Lächeln, und während der Pastor nochmals dröhnend hervorhob, was aller guten Christen Pflicht sei, und das junge Paar mit Lehren, Ratschlägen und frommen Beschwörungen überschwemmte, flüsterte er mir zu:

»Mir ist das völlig schnuppe: ich bin Katholik.«

Alles an ihm zieht mich an und bleibt mir rätselhaft.

 

An der Tür der Sakristei traf ich den alten La Pérouse wieder. Mit einem Anflug von Trauer, doch nicht vorwurfsvoll, sagte er zu mir:

»Sie scheinen mich ziemlich vergessen zu haben.«

Ich schützte, zur Entschuldigung meines langen Ausbleibens, irgendwelche Arbeit vor und versprach ihm meinen Besuch für übermorgen. Gern hätte ich ihn zu den Azaïs mitgenommen, von denen ich nach der Feier zum Tee eingeladen war. Aber er sagte, er sei nicht in der Laune, mit all den Bekannten, die er dort treffen würde, zu plaudern.

Pauline nahm den kleinen Georges mit nach Hause. Beim Abschied sagte sie scherzend zu mir:

»Olivier vertraue ich Ihrer Obhut an.«

Diese Äußerung schien Olivier, der sich abwandte, nicht zu gefallen. Er zog mich mit auf die Straße und sagte:

»Ich wußte gar nicht, daß Sie die Azaïs so gut kennen?«

Ich setzte ihn sehr in Erstaunen durch die Mitteilung, daß ich zwei Jahre lang bei ihnen in Pension gewesen sei.

»Wie konnten Sie das nur einer freien Lebensform vorziehen?«

»Es war mir am bequemsten so«, antwortete ich ausweichend. Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß damals Laura alle meine Gedanken beherrschte und daß ich die schlimmsten Entbehrungen auf mich genommen hätte, nur um in ihrer Nähe sein zu dürfen.

»Sind Sie denn in der Stickluft dieses Etablissements nicht zugrunde gegangen?«

Da ich nicht antwortete, fuhr er fort:

»Übrigens begreife ich nicht, wie ich selbst es in dieser Atmosphäre aushalte und warum ich überhaupt da bin … Gott sei Dank ja nur als Halb-Pensionär. Doch das ist schon mehr als genug.«

Ich mußte ihm also erklären, daß sein Großvater mit dem Direktor dieses »Etablissements« befreundet gewesen war und daß die Erinnerung an diese Freundschaft wohl maßgebend gewesen sei für die Wahl seiner Mutter.

»Übrigens«, meinte er, »fehlt es mir an Vergleichsmaterial. Wahrscheinlich taugen alle diese Kinderbewahranstalten gleich viel; ja, nach allem, was man hört, will ich gern glauben, daß die meisten andern noch schlimmer sind. Trotzdem werd ich froh sein, wenn ich erst raus bin. Ich wäre überhaupt nicht reingegangen, wenn ich nicht die Zeit meiner Krankheit nachzuholen gehabt hätte. Und seit langem geh ich nur aus Freundschaft zu Armand noch hin.«

Ich erfuhr sodann, daß dieser Bruder Lauras in dieselbe Klasse gehe wie er. Ich sagte zu Olivier, daß ich diesen Armand fast gar nicht kennengelernt hätte.

»Und doch ist er der Intelligenteste und Interessanteste von der ganzen Familie.«

»Das will sagen: der, für den du dich am meisten interessierst.«

»Nein, nein! Er ist wirklich ein sehr merkwürdiger Kerl. Wenn Sie wollen, gehen wir nachher ein bißchen auf sein Zimmer und plaudern mit ihm. Hoffentlich geniert er sich nicht vor Ihnen.«

Wir waren in der Pension angelangt.

Die Vedel-Azaï's hatten das übliche Hochzeitsmahl durch einen einfachen Tee ersetzt, der weniger kostspielig war. Sprech- und Arbeitszimmer des Pastors Vedel standen der Menge der Gäste offen. Einige vertraute Freunde des Hauses hatten auch zu dem kleinen Privatsalon der Pastorin Zutritt. Um einer Überflutung auch dieses Salons vorzubeugen, hatte man die Tür zwischen ihm und dem Sprechzimmer verstellt, eine Tatsache, die Armand auf die Frage, wie man zu seiner Mutter gelangen könne, antworten ließ:

»Durch den Kamin.«

Es waren sehr viele Menschen da. Die Hitze war kaum erträglich. Abgesehen von einigen »Mitgliedern des Lehrkörpers«, Amtsbrüdern von Douviers, eine fast ausschließlich protestantische Gesellschaft. Puritanisches Spezialparfüm. Sicherlich ist bei katholischen oder jüdischen Zusammenkünften die Ausdünstung, sobald die Anwesenden sich untereinander gehen lassen, nicht weniger stark, ja, vielleicht noch penetranter; aber man findet bei Katholiken doch häufig eine kluge Selbstwertung, bei Juden eine Selbst-Entwertung –… kurz: eine Selbstkritik, deren die Protestanten mir nur ganz selten fähig zu sein scheinen. Ist die jüdische Nase zu groß, so ist die protestantische Nase verstopft: das ist eine physiologische Tatsache. Ich selbst habe die Eigentümlichkeit dieser Atmosphäre, solange ich in ihr zu Hause war, nicht bemerkt. Es steckt etwas unsagbar Älplerisches, Paradiesisches und Einfältiges darin.

Im Hintergrund des Saales war ein Tisch als Büfett hergerichtet. Rachel, Lauras ältere Schwester, und Sarah, die jüngere, reichten, unterstützt von einigen heiratsfähigen jungen Mädchen, ihren Freundinnen, den Tee … Sowie Laura meiner ansichtig wurde, zog sie mich in ihres Vaters Arbeitszimmer, wo schon eine ganze Synode versammelt war. In einer Fensternische geborgen, konnten wir ungestört plaudern. Dereinst hatten wir unsere beiden Namen in eine Ecke des Gesimses geschrieben.

»Sehen Sie! sie sind noch immer da«, sagte sie; »niemand scheint sie entdeckt zu haben. Wie alt waren Sie damals?«

Unter die Namen hatten wir das Datum gesetzt. Ich rechnete nach:

»Achtundzwanzig Jahre.«

»Und ich sechzehn. Das ist nun zehn Jahre her.«

Der Augenblick war nicht gut gewählt, um Erinnerungen aufzurütteln. Ich bemühte mich, das Gespräch davon abzubringen, während sie mit nervöser Beharrlichkeit immer wieder darauf zurückkam. Dann, als ob sie ihre Erregung von sich abschütteln wolle, fragte sie mich plötzlich, ob ich mich noch an Strouvilhou erinnerte.

Strouvilhou war ein sogenannter »freier Pensionär« gewesen, der Lauras Eltern seinerzeit viel zu schaffen gemacht hatte. Er sollte gewisse Vorlesungen hören –… aber wenn man ihn fragte: welche? oder was für Examina er zu machen gedenke, so antwortete er nachlässig:

»Das wechselt.«

Zunächst suchte man seinen Frechheiten dadurch die Schärfe zu nehmen, daß man sie als spassige Improvisationen hingehen ließ, zumal er selbst sie mit einem groben Lachen begleitete. Aber bald wurde dieses Lachen höhnischer, seine Ausfälle boshafter, und ich begriff nicht recht, warum der Pastor einen solchen Pensionär duldete, falls es nicht aus finanziellen Rücksichten geschah, oder vielleicht auch deshalb, weil er diesen Strouvilhou, für den er eine Art halb mitleidiger Zuneigung gefaßt zu haben schien, doch noch bessern, das heißt: bekehren zu können hoffte. Noch weniger aber verstand ich, warum Strouvilhou in der Pension wohnen blieb, während er doch völlige Freiheit hatte, zu gehen, wohin er wollte. Durch irgendwelche Fesseln des Gefühls (wie es bei mir der Fall war) schien er jedenfalls nicht dort gehalten zu werden. Vielleicht bereiteten ihm die dialektischen Turniere mit dem armen Pastor, der sich schlecht verteidigte und ihm stets die dankbare Rolle überließ, ein so exquisites Vergnügen, daß er um ihretwillen blieb? …

»Erinnern Sie sich an den Tag, wo er Papa fragte, ob er während des Predigens das Jackett unter dem Talar anbehalte?«

»O ja! er stellte diese Frage in so sanftem Ton, daß Ihr armer Vater den Spott gar nicht herausfühlte. Es war mittags bei Tisch; ich sehe alles noch so genau vor mir, als ob es heute wäre.«

»Und Papa antwortete ihm so treuherzig, der Talar halte nicht sehr warm, und man könnte sich leicht erkälten, wenn man kein Jackett darunter trage …«

»Und die verzweifelte Miene, die Strouvilhou da aufsetzte! Und wie lange man erst auf ihn einreden mußte, bis er endlich äußerte, ›die Sache sei ja keineswegs von großer Bedeutung‹, aber wenn Ihr Vater auf der Kanzel weite, pathetische Armbewegungen mache, so guckten ihm die Jackettärmel unter dem Talar hervor, und das störe etliche Gläubige in der Andacht!«

»Deshalb hielt der arme Papa dann während seiner ganzen nächsten Predigt die Arme krampfhaft an den Leib gepreßt und verfehlte alle seine rhetorischen Wirkungen.«

»Und das übernächste Mal holte er sich einen bösen Schnupfen, weil er sein Jackett ausgelassen hatte! … Und dann die Diskussion über den unfruchtbaren Feigenbaum des Evangeliums und über die Bäume, die nichts tragen … ›Ich bin kein Obstbaum, Herr Pastor. Aber Schatten, den werfe ich: ich stelle Sie ganz in Schatten‹!«

»Ja, das war auch bei Tisch, als er das sagte.«

»Natürlich; man sah ihn ja immer nur bei den Mahlzeiten.«

»Und das war so bissig gesagt! Aber diesmal war es doch des Guten zuviel gewesen, Großvater wies ihn zur Tür hinaus. Erinnern Sie sich noch, wie er, der gewöhnlich mit der Nase überm Tisch dasaß, sich plötzlich hoch aufrichtete und mit drohend ausgestrecktem Arm nur das eine Wort rief: –… Hinaus!«

»Ja, damals sah er furchterregend aus; er war tief empört. Ich glaube wahrhaftig, daß Strouvilhou Angst gekriegt hat vor ihm.«

»Er warf seine Serviette auf den Tisch und verschwand für immer –… übrigens, ohne zu bezahlen, was er uns schuldig war. Und seitdem hat man nie wieder etwas von ihm gehört.«

»Es wäre ganz interessant, zu wissen, was aus ihm geworden ist.«

»Armer Großvater!«, sagte Laura mit einem Anflug von Traurigkeit; »wie schön er aussah in jenem Augenblick! … Er hat Sie sehr gern, das wissen Sie ja. Sie sollten ein bißchen zu ihm hinaufgehen, das wäre ihm sicherlich eine große Freude.« –…

Ich schreibe alles dies schon heute abend nieder, da ich aus Erfahrung weiß, wie schwer es einem späterhin wird, den genauen Ton eines Gesprächs wiederzufinden. Doch von diesem Moment an hörte ich Laura nicht mehr so aufmerksam zu. Ich entdeckte nämlich –… allerdings in ziemlicher Entfernung –… Olivier, den ich, seitdem Laura mich in die Fensternische gezogen hatte, aus dem Gesicht verloren gehabt hatte. Seine Augen glänzten, er schien äußerst angeregt zu sein. Nachher erfuhr ich, daß Sarah sich den Spaß gemacht hatte, ihm in rascher Folge sechs Glas Champagner zu kredenzen, die er eins nach dem andern hinuntergestürzt hatte. Jetzt war Armand bei ihm, und die beiden Jünglinge tollten, durch die Menge hindurch, hinter Sarah und einer jungen Engländerin her, die, mit Sarah gleichaltrig, seit mehr als einem Jahr als Pensionärin bei den Azaïs lebte. Nun sah ich die beiden jungen Mädchen die Treppe hinaufeilen, während Armand und Olivier die Verfolgung mit neuem Eifer fortsetzten. Ich wollte auch meinerseits hinaufgehen, um den alten Azaïs zu begrüßen, doch Laura hielt mich zurück:

»Hören Sie, Edouard, ich möchte Ihnen noch etwas sagen« –… ihre Stimme wurde plötzlich ernst –…, »wir werden uns vielleicht sehr lange nicht sehen. Ich möchte noch einmal von Ihnen hören … Ich möchte wissen, ob ich auf Sie … auf Ihre Freundschaft rechnen kann.«

Niemals hatte ich ein größeres Verlangen empfunden, sie in die Arme zu schließen, als in diesem Augenblick. Doch ich küßte ihr nur zärtlich die Hand und flüsterte ungestüm:

»Was auch geschehen mag« –… und um ihr meine aufsteigenden Tränen zu verbergen, riß ich mich los, auf die Suche nach Olivier.

Er saß jetzt mit Armand auf einer Treppenstufe, wo er auf mein Kommen gelauert zu haben schien. Er war offenbar etwas betrunken. Er stand auf und nahm meinen Arm:

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir rauchen zusammen eine Zigarette in Sarahs Zimmer; sie wartet auf uns.«

»Gleich! Ich muß vorher nur schnell ein paar Worte mit Azaïs reden. Allerdings weiß ich absolut nicht, wo Sarahs Zimmer ist!«

»Aber Sie kennen es doch ganz genau: es ist ja das frühere Zimmer von Laura!« rief Armand. »Da es eins der besten Zimmer im ganzen Hause war, hat man es der Pensionärin gegeben. Doch weil die nicht genug bezahlt, so muß sie das Zimmer mit Sarah teilen. Man hat ein zweites Bett hineingestellt, der Form halber; in Wirklichkeit war es durchaus nicht nötig …«

»Hören Sie nicht darauf, was er da verzapft«, sagte Olivier lachend und seinen Freund mit Püffen traktierend; »er ist ja betrunken.«

»Na, du mußt es ja wissen«, entgegnete Armand. –… »Also Sie kommen dann, nicht wahr? Wir erwarten Sie.«

Ich versprach es.

 

Seitdem er die Haare kurz trägt, hat der alte Azaïs gar keine Ähnlichkeit mehr mit Walt Whitman. Er hat der Familie seines Schwiegersohns die erste und zweite Etage des Hauses überlassen. Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus (Mahagoni, Rips und Plüsch) beherrscht er den Hof und überwacht, von oben herab, das Kommen und Gehen der Schüler.

»Sehen Sie, wie man mich verwöhnt«, sagte er und wies auf einen großen Strauß Chrysanthemen, den die Mutter eines Zöglings, eine alte Freundin der Familie, ihm gebracht hatte. (Das Zimmer machte so sehr den Eindruck dumpfer Strenge, daß man unwillkürlich dachte, Blumen müßte darin sofort verwelken.) »Ich habe mich auf einen Augenblick von der Gesellschaft zurückgezogen. Ich werde alt, und das Durcheinander der Unterhaltung verwirrt mich. Aber diese Blumen sollen mir Gesellschaft leisten; sie reden auf ihre eigene Weise und kündigen den Ruhm des Höchsten besser als Menschen!« (oder eine ähnliche Wendung von der gleichen Sorte).

Der würdige Mann hat keine Ahnung davon, wie sehr er die Knaben mit solchen Redensarten anödet. Und doch ist diese Denkart bei ihm so aufrichtig, daß jeder Spott verstummen muß. Mit solchen einfachen Seelen, wie Azaïs, kann ich am allerschwersten auskommen. Sobald man selbst etwas weniger einfach ist, sieht man sich ihnen gegenüber zu einer Komödie gezwungen, die nicht gerade sehr ehrenvoll ist. Aber was soll man sonst tun? Man kann nicht diskutieren, präzisieren: man ist gezwungen, zuzustimmen. Azaïs schafft um sich herum eine Atmosphäre der Heuchelei (falls man seinen Glauben nicht völlig teilt). In der ersten Zeit meiner Anwesenheit in der Pension war ich entrüstet, zu sehen, wie seine Enkelkinder ihn belogen: späterhin habe ich es selbst genau so machen müssen.

Der Pastor Prosper Vedel ist zu sehr beschäftigt. Madame Vedel, ziemlich unbedeutend, hat sich in eine poetisch-religiöse Traumwelt eingesponnen und jede Fühlung mit der Wirklichkeit verloren. Somit behält der Großvater Erziehung und Unterweisung der Kinder in seiner Hand. In der Zeit, da ich bei ihnen wohnte, kam es einmal monatlich zu einer Sturmszene, deren Ergebnis der Alte in die pathetischen Worte zusammenzufassen pflegte: »Hinfüro wollen wir uns alles sagen! Wir beginnen heute eine Ära der Offenheit und Aufrichtigkeit!« (Er brauchte gern mehrere Worte für ein und denselben Begriff, Gewohnheit von seiner Pastoratszeit her.) »Wir werden keine Hintergedanken mehr haben, nie wieder solche bösen Heimlichkeiten aus den Hintergründen des Empfindens! Wir werden uns stets frei ins Antlitz blicken, Aug in Auge, nicht wahr? –… Also abgemacht!«

Woraufhin er dann noch etwas tiefer in seine eitle Vertrauensseligkeit hineingeriet, und die Kinder in ihre Verlogenheit.

Häufig waren solche Ergüsse speziell an einen von Lauras Brüdern gerichtet, der um ein Jahr jünger war als sie und der damals, gefoltert von seiner Jugend, die ersten Liebesversuche unternahm. (Späterhin ist er Kaufmann in den Kolonien geworden, und ich habe ihn aus den Augen verloren.) Eines Abends, als der Großvater diese Predigt wieder einmal vom Stapel gelassen hatte, suchte ich ihn in seinem Zimmer auf und bemühte mich, ihm klarzumachen, daß seine eigene Unduldsamkeit einer Aufrichtigkeit, wie er sie von seinem Enkel verlange, im Wege stehe. Da wurde der Alte fast wütend und sagte mit einer Schärfe, die keinen Einwand zuließ:

»Er braucht ja einfach nichts zu tun, was zu bekennen er sich schämen müßte!«

Im übrigen ist Azaïs ein ausgezeichneter Mensch, ja, noch mehr: ein Musterbeispiel der Tugend und ein ›goldenes Herz‹. Aber seine Anschauungen sind kindlich. Seine gute Meinung von mir rührt daher, daß ihm in bezug auf mich keine Liebesaffäre hinterbracht worden ist. Er hat mir nicht verhehlt, daß er Laura gern als meine Frau gesehen hätte; Douviers scheint ihm nicht ganz der passende Mann für sie zu sein. Wiederholt sagte er zu mir: »Lauras Wahl setzt mich in Erstaunen.« Er fügte hinzu: »Schließlich glaube ich aber doch, daß er ein sehr anständiger Mensch ist. Was meinen Sie dazu?«

Ich antwortete: »Das ist er unbedingt.«

... Je tiefer ein Mensch in Frömmigkeit versinkt, desto weniger fühlt, liebt, schmeckt, ja, begehrt er noch die Wirklichkeit. Dasselbe habe ich an Vedel beobachtet, so selten es auch zu einem ausführlichen Gespräch zwischen uns gekommen ist. Das strahlende Licht ihres Glaubens macht diese Frommen blind für die Umwelt und für sich selbst. Mir hingegen ist nichts wichtiger, als klar zu erkennen, ›was ist‹, und ich stehe entsetzt vor der Undurchdringlichkeit der Lüge, in der ein Frommer sich wohlfühlen kann. –…

Ich hätte gern über Olivier gesprochen, doch Azaïs interessierte sich besonders für den kleinen Georges.

»Machen Sie ihm keinerlei Andeutung davon, daß Sie wissen, was ich Ihnen jetzt sagen werde«, begann er. »Übrigens gereicht es nur zu seiner Ehre … Denken Sie sich, Ihr kleiner Neffe und einige seiner Kameraden haben eine Art Vereinigung gegründet, eine kleine Liga gegenseitigen Wetteiferns … Als Mitglied kann nur aufgenommen werden, wer einer solchen Auszeichnung für würdig erachtet wird und schon reale Beweise seines Wertes geliefert hat –…, also beinahe so etwas wie eine Ehrenlegion der Kinder! Finden Sie diesen Gedanken nicht wundervoll? Jedes Mitglied trägt ein winziges Bändchen im Knopfloch, ganz unauffällig, aber ich habe es doch bemerkt. Ich habe nun den kleinen Georges in mein Arbeitszimmer kommen lassen und ihn nach der Bedeutung dieses Abzeichens gefragt. Zunächst war er ganz verwirrt. Der arme Junge glaubte wohl, eines Verweises gewärtig sein zu müssen. Dann erzählte er mir, glühend vor Aufregung, wie dieser kleine Klub zustande gekommen ist. Sehen Sie, das sind so Dinge, über die man keinesfalls lächeln darf: man könnte sehr zarte Gefühle dadurch verletzen … Ich habe ihn gefragt, warum er und seine Freunde das so geheimnisvoll betrieben und nicht lieber offen vor aller Welt; und ich habe ihm dargelegt, welch herrliche Kraft der Propaganda, der moralischen Werbung sie entfalten, welch erhabene Rolle sie spielen könnten … Aber die Jugend liebt nun einmal ein gewisses romantisches Dunkel … Um ihn zutraulich zu machen, habe ich ihm dann erzählt, daß ich selbst zu meiner Zeit, das heißt, als ich in seinem Alter war, einem ähnlichen Verbande angehörte, dessen Mitglieder den schönen Namen ›Ritter der Pflicht‹ führten; jeder von uns erhielt vom Vorsitzenden ein kleines Notizbuch, in das er ohne Beschönigung alle seine Fehltritte und Verstöße eintragen mußte. Da lächelte Georges, und ich sah wohl, daß diese Sache mit dem Notizbuch ihm einen Gedanken eingab; ich ging zu einem andern Thema über, aber es sollte mich nicht wundern, wenn der Knabe seine Freunde veranlaßte, in ihrem Verein dasselbe System einzuführen! Sehen Sie, solche Kinder –… die muß man zu nehmen wissen; und zuallererst muß man ihnen zeigen, daß man Verständnis hat für ihre Welt. Ich habe ihm versprochen, seinen Eltern von alledem kein Wort zu sagen. Allerdings habe ich ihm nahegelegt, es seiner Mutter selbst zu erzählen, die gewiß nur glücklich darüber sein würde. Aber es scheint, daß die Mitglieder der Liga einander auf Ehrenwort zum Schweigen verpflichtet haben. Somit wäre es ungeschickt von mir gewesen, allzusehr auf meiner Anregung zu bestehen. Doch bevor der Knabe von mir gegangen ist, haben wir gemeinsam zu Gott gebetet, er möge diesen Bund der Kinder segnen!«

Armer, lieber Großvater Azaïs! Ich bin überzeugt, daß Georges ihm einen gehörigen Bären aufgebunden hat und daß an alledem kein wahres Wort ist. Aber wie hätte der Kleine anders antworten sollen? … Wir werden zu ergründen versuchen, was dahinter steckt.

 

Zuerst erkannte ich Lauras Zimmer gar nicht wieder. Es war neu tapeziert und hatte sein Aussehen völlig verändert. Auch Sarah erschien mir ganz unkenntlich. Und doch hatte ich sie früher gut zu kennen geglaubt. Sie hat immer Vertrauen zu mir gehabt; ich bin für sie stets ein Freund gewesen, dem man alles sagen kann. Aber seit vielen Monaten hatte ich mich bei den Vedels nicht mehr sehen lassen. Sarahs Kleid ließ Arme und Hals frei. Sie schien größer, zuversichtlicher geworden zu sein. Sie saß auf einem der beiden Betten, gegen Olivier gelehnt, der sich seinerseits ungeniert ausgestreckt hatte und zu schlafen schien. Sicherlich war er betrunken, und sicherlich litt ich darunter, ihn so sehen zu müssen; doch fand ich ihn schöner denn je. Betrunken waren sie mehr oder weniger alle vier. Die kleine Engländerin brach bei Armands abgeschmacktesten Äußerungen in ein Gelächter aus, dessen Gellen mir in den Ohren schmerzte. Armand redete wild darauflos, erregt und geschmeichelt durch dieses Lachen, das ihn zu immer neuen Albernheiten anzureizen schien. Zum Beispiel tat er so, als wolle er seine Zigarette an den brennend roten Wangen seiner Schwester anzünden oder auch an Oliviers glühendem Gesicht, oder als verbrenne er sich die Hände, wenn er ihrer beiden Köpfe anpackte und frech aneinanderstoßen ließ. Olivier und Sarah schienen sich das gern gefallen zu lassen, und das gab mir einen Stich ins Herz. Doch ich greife vor …

Olivier stellte sich noch schlafend, als Armand plötzlich die Frage an mich richtete, was ich von Douviers dächte. Ich hatte mich in einem Sessel niedergelassen und fühlte mich durch die Trunkenheit und Unbefangenheit der andern amüsiert, erregt und beklommen. Auch schmeichelte es mir, daß diese Kinder mich gerade jetzt, wo mein Platz am wenigsten bei ihnen zu sein schien, in ihren Kreis gezogen hatten.

»Die hier anwesenden jungen Damen …«, fuhr Armand fort, da ich keine Antwort fand und mich mit einem Lächeln begnügte, das entgegenkommendes Verständnis ausdrücken sollte … In diesem Moment wollte die Engländerin ihn am Weitersprechen hindern und versuchte krampfhaft, ihm die Hand auf den Mund zu legen; doch er machte sich los und rief: »Diese jungen Damen sind entrüstet, wenn sie sich vorstellen sollen, daß Laura mit ihm zu Bett geht.«

Die Engländerin, ihn freigebend, mit erkünsteltem Unwillen:

»Oh, Sie dürfen nichts von dem glauben, was er sagt; er lügt immer!«

»Ich habe versucht, ihnen klarzumachen«, sagte Armand ruhigeren Tones, »daß man für eine Mitgift von zwanzigtausend Franken kaum etwas Besseres verlangen könne, und ferner, daß es unserer Schwester Laura, einer wahren Christin, doch vor allem auf die Schönheit der Seele ankommen müsse, wie Papa Pastor sich ausdrücken würde. So ist es, meine Kinder! Und was sollte wohl aus der Bevölkerungsziffer werden, wenn man jeden zum Zölibat verurteilen wollte, der kein Adonis ist … oder kein Olivier, um unsere Beispiele auch jüngeren Epochen der Menschheitsgeschichte zu entnehmen!?«

»Was für ein idiotisches Geschwätz!« murmelte Sarah. »Hören Sie doch gar nicht auf ihn; er weiß ja nicht mehr, was er sagt.«

»Ich sage die Wahrheit.

Niemals hatte ich Armand in solcher Weise reden hören. Ich glaubte immer, er sei feinsinnig und empfindsam, und glaube das noch jetzt. Seine Keckheit erschien mir ganz unnatürlich, dem Rausche entsprungen und mehr noch dem Wunsche, die Engländerin zu amüsieren. Diese, unleugbar hübsch, mußte ziemlich gewöhnlich sein, um an solchen Späßen Gefallen zu finden. Aber wie konnte Olivier sich dabei wohlfühlen? … Ich nahm mir vor, wenn ich mit ihm allein wäre, ihm mein Befremden offen auszusprechen.

»Aber Sie«, fing Armand, sich an mich wendend, wieder an; »Sie sehen ja nicht aufs Geld und haben außerdem genug, um sich noble Gefühle leisten zu können; möchten Sie uns vielleicht gütigst mitteilen, warum Sie Laura nicht geheiratet haben? Denn Sie liebten sie ja doch wohl, und Laura –… na, das konnte ja ein Blinder sehen, wie die nach Ihnen schmachtete!«

Olivier, der sich noch immer schlafend gestellt hatte, schlug die Augen auf. Unsere Blicke kreuzten sich; und wenn ich nicht errötete, so, weil keiner der andern in der Lage war, mich zu beobachten.

»Armand, du bist unausstehlich!« sagte Sarah, wie um mir aus der Verlegenheit zu helfen, denn ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Darauf streckte sie sich (bisher hatte sie auf dem Bettrand gesessen) in ihrer ganzen Länge auf dem Bette aus, so daß ihr Kopf den von Olivier berührte. Nun sprang Armand auf, bemächtigte sich eines großen Wandschirms, der zu Füßen des Bettes an die Wand gelehnt stand, klappte ihn mit der komischen Feierlichkeit eines Clowns auseinander und stellte ihn so auf, daß das Paar völlig von ihm verdeckt wurde. Dann rief er, zu mir gewandt, im Tone des Ausrufers einer Jahrmarktsbude:

»Das hochverehrte Publikum weiß vielleicht noch gar nicht, daß mein Fräulein Schwester eine Hure ist?«

Das war zu viel. Ich erhob mich und stieß den Wandschirm, hinter dem Olivier und Sarah sich sofort aufrichteten, beiseite. Dem Mädchen waren die Haare aufgegangen. Olivier stand auf, ging zum Waschtisch und kühlte sich das Gesicht.

»Kommen Sie doch einen Augenblick mit hinaus; ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte Sarah zu mir und nahm mich am Arm. Dann öffnete sie die Tür und zog mich mit sich auf den Treppenflur.

»Ich habe mir gedacht, es müßte einen Romanschriftsteller interessieren. Es ist ein Notizbuch, das ich zufällig gefunden habe: ein geheimes Tagebuch meines lieben Papa. Ich verstehe nicht, wie man etwas Derartiges so herumtreiben lassen kann; es hätte ja einem Wildfremden in die Hände fallen können! Ich habe es genommen, damit Armand es nicht in seine Klauen kriegt. Sagen Sie ihm nichts davon. Es steht nicht sehr viel darin; Sie können es in ein paar Minuten durchlesen und mir dann wiedergeben, bevor Sie gehen.«

»Aber Sarah«, sagte ich und sah sie scharf an, »ist das nicht abscheulich indiskret?«

Sie zuckte mit den Achseln:

»Oh, wenn Sie das vermuten, so werden Sie sehr enttäuscht sein! Nur einmal wird die Sache interessant … und sogar mehr als das. Ich zeige Ihnen gleich, wo es anfängt.«

Sie hatte aus ihrer Bluse einen Notizkalender sehr kleinen Formats hervorgezogen, der seinem Besitzer vor vier Jahren als Tagebuch gedient hatte. Sie blätterte einen Augenblick darin, gab mir das aufgeschlagene Büchlein in die Hand und wies auf eine Stelle:

»Da, lesen Sie schnell.«

Ich las zunächst, unterhalb eines Datums und in Gänsefüßchen, das Wort aus dem Evangelium: »Wer getreu ist im Kleinen, der wird es auch sein im Großen.«

Dann weiter: »Warum den Entschluß, den ich fassen will: nicht mehr zu rauchen, immer wieder verschieben auf den folgenden Tag? Und wenn es nur wäre, um Mélanie keinen Kummer zu machen!« (Mélanie ist der Name seiner Frau, der Pastorin.) »Mein Gott, gib mir die Kraft, das Joch dieser schmachvollen Knechtschaft abzuschütteln!« (Ich glaube, ich zitiere wörtlich.) –… Folgte die Notierung von Kämpfen, Gebeten, Verzweiflungsausbrüchen, Anspannungen, die alle vergeblich gewesen sein mußten, denn sie wiederholten sich von einem Tag zum andern. Schlug man dann noch ein Blatt um, so war mit einemmal von etwas ganz anderem die Rede.

»Das ist rührend, nicht wahr?« fragte Sarah mit einer Andeutung von Spott, als ich die Lektüre beendet hatte.

»Die Sache ist noch merkwürdiger, als Sie denken«, konnte ich mich nicht enthalten zu sagen, obwohl ich mir innerlich deswegen Vorwürfe machte. »Denken Sie sich, vor ungefähr acht Tagen habe ich Ihren Vater gefragt, ob er nie versucht habe, sich das Rauchen abzugewöhnen. Ich war nämlich der Meinung, daß ich selbst zuviel rauchte, und … Kurz: wissen Sie, was er mir geantwortet hat? Er äußerte zunächst die Ansicht, daß man die verderblichen Wirkungen des Tabaks stark übertreibe, und erklärte dann, an sich selbst habe er nie irgendwelche ungünstigen Folgen verspürt. Und als ich meine Frage wiederholte, antwortete er schließlich: ›Ja, zwei- oder dreimal habe ich beschlossen, das Rauchen für einige Zeit einzustellen.‹ –… ›Und ist es Ihnen gelungen?‹ –… ›Aber natürlich‹, sagte er, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt wäre, ›da ich es doch beschlossen hatte!‹ –… Ist das nicht abenteuerlich? … Aber vielleicht hatte er seine Abstinenzversuche ganz vergessen«, fügte ich hinzu, da ich vor Sarah den ganzen Umfang der Heuchelei, die ich hier witterte, nicht merken lassen wollte.

»Oder diese mündliche Äußerung beweist«, meinte Sarah, »daß das Wort ›rauchen‹ im Tagebuch etwas ganz anderes bedeuten sollte.«

War es wirklich Sarah, die so sprach? Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Ich sah sie an und wagte kaum zu begreifen.

In diesem Moment kam Olivier aus der Tür. Er schien sich gewaschen und gekämmt zu haben und in ruhigerer Verfassung zu sein.

»Wenn wir gingen?« sagte er, ohne sich um Sarah zu kümmern. »Es ist spät geworden.«

Wir stiegen die Treppe hinunter. Draußen auf der Straße begann er:

»Sie sollen es nicht falsch auffassen. Sie könnten glauben, ich liebte Sarah. So ist es nicht … Oh, sie ist mir auch nicht zuwider … Aber ich liebe sie nicht.«

Ich hatte seinen Arm genommen und hielt ihn fest, ohne ein Wort zu sagen.

»Sie dürfen auch Armand nicht nach seinem heutigen Verhalten beurteilen«, fügte er hinzu. »Es ist eine Art Rolle, die er spielt … im Gegensatz zu seinem eigenen Wesen. Im Grunde ist er ganz anders … Ich kann es Ihnen nicht so klarmachen. Er empfindet eine gewisse Lust daran, gerade das, was ihm das Liebste ist, zu zerstören. Er ist erst seit kurzem so. Ich glaube, daß er sehr unglücklich ist und daß diese Bosheitsallüren seinen Gram verdecken sollen. Er ist sehr stolz. Seine Eltern verstehen ihn absolut nicht. Sie hatten die Absicht, einen Pastoren aus ihm zu machen.«

 

Motto für ein Kapitel der Falschmünzer:

»Die Familie …, diese soziale Zelle«
Paul Bourget (gelegentlich).

Überschrift des Kapitels: Die Zellenordnung.

Gewiß, es gibt kein (geistiges) Zuchthaus, dem ein lebenskräftiges Hirn sich nicht entzöge; und nichts, was zur Revolte treibt, ist letzten Endes gefährlich –… obwohl die Revolte den Charakter fälschen kann (sie biegt und wendet ihn oder bäumt ihn und rät zu böser List); und das Kind, das dem Einfluß der Familie nicht nachgibt, verbraucht, um ihm zu trotzen, die Frühlingskraft seiner Energie. Aber selbst eine Erziehung, die das Kind quält, stärkt gerade durch den Zwang seinen Widerstand. Die bedauernswertesten Opfer sind die der Verziehung, der Verzärtelung. Um abzulehnen, was einem schmeichelt: welcher Charakterstärke bedarf es da! Wieviel Eltern (besonders Mütter) habe ich gesehen, denen es ein besonderes Vergnügen zu sein schien, ihre Kinder zu bestärken in den albernsten Antipathien, in den ungerechtesten Vorurteilen, im allerdümmsten Aberglauben! Mittags bei Tisch: »Das brauchst du nicht mitzuessen, das ist ja Fett … Und das ist zäh und sehnig … Und das da ist nicht gut durchgebraten …« Draußen, abends: »Oh, eine Fledermaus! Setz schnell den Hut auf, sonst kommt sie dir ins Haar!« Und so weiter. Solche Eltern sind fest überzeugt, daß alle Maikäfer beißen, die Grashüpfer stechen und die Regenwürmer Pickel auf der Haut erzeugen. Ähnliche Torheiten auf allen Gebieten: im Geistigen, Moralischen usw.

Im Coupé der Ringbahn, die mich vorgestern von Auteuil zurückbrachte, hörte ich eine junge Mutter ihrer zehnjährigen Tochter unter Liebkosungen zuflüstern:

»Du und ich, ich und du; auf die andern pfeifen wir!«

(Ich weiß wohl, das waren Leute aus dem Volke; doch auch das Volk hat Anspruch auf unsere Entrüstung. Der Mann, in seiner Ecke, las die Zeitung, ruhig, gottergeben, vielleicht nicht einmal gehörnt.)

Kann man sich ein infameres Gift vorstellen?

Die Zukunft gehört den Bastarden. –… Wie bedeutungsvoll der Ausdruck: ›ein natürliches Kind‹! Nur der Bastard hat ein Recht auf Natürlichkeit.

 

Der Familien-Egoismus …: kaum etwas weniger häßlich als der Egoismus des Einzelnen.

 

Den 6. November. –… Ich habe nie etwas erfinden können. Aber vor der Wirklichkeit stehe ich wie der Maler, der zu seinem Modell sagt: »Nehmen Sie die und die Haltung an, oder den und den Ausdruck –… den brauche ich!« Die Modelle, die die menschliche Gesellschaft mir liefert –… sobald ich ihre geheimen Triebfedern kenne, kann ich sie nach meinem Willen agieren lassen. Oder wenigstens kann ich ihrer Unentschlossenheit das und das Problem vorschlagen, das sie nach ihrer inneren Struktur lösen werden, so daß die Art ihres Reagierens mir alles Nötige sagt. Den Romanschreiber in mir reizt es dann, in ihr Schicksal einzugreifen, zu experimentieren. Hätte ich mehr Talent zum Fabulieren, so würde ich mir die Verwicklungen, die ich brauche, selbst ausdenken –… jetzt rufe ich sie chemisch hervor, beobachte das Verhalten der Personen und arbeite dann nach ihrem Diktat.

 

Den 7. November. –… An allem, was ich gestern geschrieben habe, ist kein wahres Wort. Es bleibt dieses: daß die Realität mich als plastischer Grundstoff interessiert und daß ich mehr, unendlich viel mehr Sinn habe für das, was sein könnte, als für das, was in Wirklichkeit gewesen ist. Wie gebannt beuge ich mich über die latenten Möglichkeiten eines Wesens und bin traurig über jeden Keim, den die Stickluft der Konvention absterben läßt.«

 

Als er so weit gekommen war, mußte Bernard seine Lektüre einen Augenblick unterbrechen. Sein Blick verwirrte sich. Der Atem ging ihm aus, ja, ihm war, als habe er während der ganzen Zeit des Lesens das Atmen völlig vergessen –… so sehr hatte ihn das Gelesene in seinen Bann gezogen. Er öffnete das Fenster und ließ, bevor er sich von neuem in Edouards Aufzeichnungen versenkte, frische Luft einströmen …

Seine freundschaftlichen Gefühle für Olivier waren gewiß außerordentlich stark. Er hatte keinen besseren Freund auf der Welt und liebte (da er seine Eltern nicht lieben konnte) niemand so sehr wie Olivier. Ja, sein Herz klammerte sich einstweilen fast maßlos an dieses Gefühl. Immerhin schienen Olivier und er die Freundschaft nicht ganz auf dieselbe Weise zu verstehen. Je weiter Bernard in seiner Lektüre fortschritt, desto mehr staunte er darüber (bewundernd, doch auch etwas traurig), welcher Veränderlichkeit des Wesens dieser Freund, den er so gut zu kennen glaubte, sich fähig zeigte. Von allem, was in diesem Tagebuch zu lesen war, hatte Olivier ihm nichts erzählt. Kaum, daß Bernard von der Existenz eines Armand, einer Sarah überhaupt eine Ahnung hatte! Wie anders sich Olivier doch mit ihnen gab als mit ihm selbst! … Hätte Bernard seinen Freund wiedererkannt in jenem Olivier, der auf Sarahs Bett hingestreckt lag? Das neugierige Interesse, das Bernards Lektüre beschleunigte, mischte sich mit wirrem Unbehagen, mit Ärger und Trotz. Es war derselbe Trotz, den er vorhin empfunden hatte beim Anblick von Olivier an Edouards Arm: der Trotz desjenigen, der nicht mit im Spiele ist. Ein solches Trotzgefühl kann weit führen und große Verkehrtheiten im Gefolge haben, wie übrigens auch die andern Sorten von Trotz, die es noch gibt.

Doch genug davon! Dies alles war nur gesagt, um ein bißchen frische Luft zwischen die Seiten des Tagebuchs zu bringen. Jetzt, wo Bernard Atem geschöpft hat, wollen wir uns –… gleich Bernard selbst –… jenen Blättern wieder zuwenden.


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