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Zweiter Teil.
Saas-Fee


I

 

Bernard an Olivier:

Montag.

 

Mein Lieber,

Also vernimm zunächst, daß ich das Examen geschwänzt habe. Doch das hast Du Dir gewiß schon selbst gesagt, als Du mich bei jener Prozedur nicht erblicktest. Ich steige nun erst im Oktober hinein. Es hat sich mir eine unwiederbringliche Gelegenheit geboten, auf Reisen zu gehen. Die hab' ich ergriffen, und bereue es nicht. Ich mußte mich sofort entscheiden; und so fand ich nicht mal die Zeit, Dir adieu zu sagen. Und ich soll Dir das aufrichtige Bedauern meines Reisegefährten übermitteln darüber, daß ich so ohne Abschied davongegangen bin. Weißt Du, wer es ist, der mich mitgenommen hat? Du vermutest es schon … Es ist Edouard, Dein trefflicher Onkel, den ich am selben Tage, an dem er in Paris angekommen war, kennengelernt habe –… unter höchst ungewöhnlichen und sensationellen Umständen, die ich Dir später einmal erzählen will. Das Ganze war so abenteuerlich, daß sich mir noch heute alles im Kopfe dreht, wenn ich es wieder überdenke. Immer noch frage ich mich, ob ich vielleicht nicht alles nur geträumt habe und ob es wirklich Dein Freund Bernard ist, der Dir diese Zeilen schreibt, und zwar aus der Schweiz, wo er sich in Gesellschaft von Edouard befindet und von … Doch ich sehe schon, ich muß Dir alles sagen, aber behalt es für Dich und zerreiß diesen Brief, gleich nachdem Du ihn empfangen hast, hörst Du?

Also denke Dir: jene unglückliche, von Deinem Bruder Vincent im Stiche gelassene Frau, die Du damals in der Nacht vor Deiner Tür weinen gehört hast (ohne ihr aufzumachen, Du Idiot!), ist, seltsamerweise, eine Freundin von Edouard und eine leibhaftige Tochter des Pastors Vedel, also eine Schwester Deines Freundes Armand! Ich sollte Dir das eigentlich nicht mitteilen, denn es geht um die Ehre einer Frau, aber ich würde zerplatzen, wenn ich es niemand erzählte … Nochmals: behalte alles für Dich! Du weißt schon, daß sie erst seit kurzem verheiratet war. Du weißt vielleicht auch, daß sie bald nach der Hochzeit krank wurde und zur Erholung in den Süden mußte. Dort, in Pau, hat sie Deinen Bruder, der ja auch zur Kur da war, kennengelernt. Soweit bist Du vielleicht orientiert. Was Du aber nicht weißt, ist, daß dieses Zusammensein Folgen gehabt hat. Ja, dieser verdammte Tölpel von Liebhaber hat ihr ein Kind gemacht! Sie ist schwanger wieder in Paris angekommen, wo sie nicht gewagt hat, sich bei ihren Eltern sehen zu lassen. Noch viel weniger wagte sie, ins eheliche Heim nach England zurückzukehren. Inzwischen ließ Dein Herr Bruder sie sitzen, wie es Dir ja des genaueren bekannt ist. Ich erspare Dir den Kommentar und bemerke nur, daß Laura Douviers nie ein Wort des Vorwurfs oder des Grolles gegen Vincent geäußert hat, im Gegenteil, sie denkt sich noch alle möglichen Gründe aus, die sein Verhalten entschuldigen könnten. Oh, sie ist eine ausgezeichnete Frau, eine ganz wundervolle Natur! Und jemand, der sicherlich auch ein ausgezeichneter Kerl ist, das ist Edouard! Da Laura nicht mehr aus noch ein wußte, machte er ihr den Vorschlag, mit ihm in die Schweiz zu reisen. Gleichzeitig forderte er mich auf, ihnen Gesellschaft zu leisten, weil es ihm peinlich sei, mit Laura, für die er nur Freundschaft empfinde, allein zu reisen. So sind wir drei denn zusammen auf Reisen gegangen. Alles machte sich rapid. Ich hatte kaum die Zeit, mich ein bißchen auszustaffieren (denn ich war ja mit nichts von Hause weg). Wie liebenswürdig Edouard sich in jeder Einzelheit erwiesen hat, davon machst Du Dir keinen Begriff! Und dabei wiederholte er mir immer wieder; ich sei es, dem er zu Dank verpflichtet sei! Wirklich, mein guter Olivier, Du hast neulich den Mund nicht zu voll genommen: Dein Onkel ist ein fabelhafter Kerl!

Die Reise war recht beschwerlich, weil Laura sich sehr erschöpft fühlte und weil ihr Zustand (sie ist im dritten Monat) die größte Schonung erforderte. Außerdem ist der Ort, für den wir uns –… aus Gründen, die ich Dir später erzähle –… entschieden hatten, ziemlich schwer erreichbar. Und Laura komplizierte alles noch dadurch, daß sie absolut nicht auf ihre Gesundheit achten wollte. Wir mußten sie dazu zwingen; sie sagte immer wieder, ein Unfall wäre das beste, was ihr passieren könne! Du kannst Dir vorstellen, wie besorgt wir um sie waren! Oh, was ist das für eine herrliche Frau! Ich bin nicht mehr derselbe, seitdem ich sie kenne! Gewisse Gedanken wage ich nicht mehr zu denken, gewisse Regungen nicht mehr zu empfinden, aus Furcht, dadurch ihrer unwürdig zu werden! Wirklich, in ihrer Nähe wird man in ein edleres Wesen verzaubert! Was nicht hindert, daß die Gespräche unter uns dreien sehr frei sind, denn Laura ist keineswegs prüde; wir reden von allem möglichen. Aber ich sage Dir, daß mir die Lust vergangen ist, viele Dinge, über die ich früher spottete, ihr gegenüber auch nur mit einer Silbe lächerlich zu machen!

Nun wirst Du glauben, ich sei in sie verliebt. Und mit dieser Vermutung hättest Du recht, mein Lieber! Ist das nicht verrückt? Kannst Du Dir denken, daß ich verliebt bin in eine schwangere Frau, die ich selbstverständlich respektiere, ja, die ich nicht einmal mit der Fingerspitze anzurühren den Mut hätte? Du siehst, daß kein Wüstling aus mir wird …

Als wir in Saas-Fee anlangten, nach unendlichen Schwierigkeiten (wir hatten für Laura eine Sänfte nehmen müssen, denn Wagen kommen nicht bis hierher), hatte man uns im Hotel nur zwei Zimmer anzubieten: ein großes mit zwei Betten und ein kleines, das, zum Schein, für mich bestimmt wurde –… denn Laura, die ihre Identität nicht angeben will, gilt hier als Edouards Frau. Aber jede Nacht nimmt sie das kleine Zimmer, während ich zu Edouard in das seinige hinübergehe. Und das gibt dann jeden Morgen ein großes Geschleppe hin und her, wobei man sehr darauf achten muß, daß das Personal nichts merkt! Glücklicherweise gehen die beiden Zimmer ineinander, was die Sache vereinfacht.

Wir sind schon seit sechs Tagen hier. Ich schreibe Dir erst heute, weil ich mich innerlich zunächst gar nicht zurechtfinden konnte. Erst ganz allmählich komme ich wieder zu mir.

Edouard und ich haben schon einige recht hübsche kleine Bergtouren gemacht. Aber dieses Land gefällt mir eigentlich nicht besonders, Deinem Onkel Edouard ebensowenig. Er findet die Landschaft »hochtrabend«. Das ist das richtige Wort. Das beste, was es hier gibt, ist die Luft, die man atmet: eine unendlich reine Luft, die einem die Lungen prickelnd erfrischt.

Natürlich lassen wir Laura nicht gerne lange allein; an unseren Ausflügen kann sie ja nicht teilnehmen. –… Die Gesellschaft im Hotel ist ganz amüsant. Es sind Gäste da von jeder Nationalität. Besonders bekannt geworden sind wir mit einer polnischen Ärztin, die hier mit ihrer Tochter und einem ihr anvertrauten Knaben ihre Ferien verbringt. Übrigens war die Absicht, diesen Knaben aufzusuchen, das eigentliche Motiv unserer Reise. Er hat eine Art nervöses Leiden, das die Doktorin nach einer ganz neuen Methode behandelt. Was aber dem (äußerst sympathischen) Kleinen offenbar am wirksamsten zur Heilung verhilft, ist der Umstand, daß er sich sterblich verliebt hat in der Doktorin Töchterlein, ein Mädchen, das einige Jahre älter ist als er: wirklich das reizendste Geschöpf, das man sich denken kann! Vom Morgen bis zum Abend lassen die beiden Kinder sich nicht aus den Augen. Und sie benehmen sich so reizend zueinander, daß niemand etwa auf die Idee verfiele, sich über sie lustig zu machen.

Ich habe nicht viel gearbeitet, ja, seit meiner Abreise kaum ein Buch aufgeschlagen; aber viel nachgedacht. Die Unterhaltung mit Edouard ist ungemein interessant. Er spricht nicht gerade viel direkt mit mir, obwohl er mich sozusagen als seinen Sekretär gelten läßt; aber ich höre ihn mit den anderen sprechen, besonders mit Laura, der er gern seine Gedanken mitteilt. Du kannst Dir wohl denken, wieviel ich dabei profitiere! Manchmal sage ich mir, ich sollte eigentlich alles, was ich zu hören kriege, notieren; aber ich glaube, daß ich es auch so behalte. Manchmal habe ich eine tolle Sehnsucht nach Dir! Dann kommt mir der Gedanke: wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, müßtest Du hier sein, anstatt meiner; aber ich kann das Geschehene nicht bedauern oder ändern wollen. Doch eines sollst Du wissen: ich werde nie vergessen, daß Du es bist, dem ich die Bekanntschaft mit Edouard (und mein Glück) verdanke! Wenn wir uns wiedersehen, wirst Du mich wohl verändert finden; doch unwandelbar und inniger denn je bin ich Dein Freund

Bernard.

Nachschrift. –… Mittwoch. Soeben kommen wir von einer gewaltigen Tour zurück. Besteigung des Allalinhorns –… Führer, angeseilt mit uns, Gletscher, Abgründe, Lawinen usw. Geschlafen in einer Hütte inmitten des ewigen Schnees, zusammengepfercht mit andern Touristen. Natürlich haben wir die ganze Nacht kein Auge zugetan. Aufbruch vor Sonnenaufgang … Wirklich, mein Lieber, ich sage nichts Böses mehr über die Schweiz: wenn man da oben ist, so hoch über aller Vegetation und Kultur, über aller Habsucht und Torheit der Menschen, so möchte man aufjubeln, lachen, weinen, fliegen, sich in den Himmel stürzen oder auf die Knie werfen! Sei tausendmal gegrüßt! –…

 

Bernard war eine viel zu einfache und spontane Natur, und er kannte Olivier viel zu wenig, als daß er hätte ahnen können, welche Flut schlimmer Gefühle dieser Brief bei seinem Freunde erwecken sollte: eine wahre Springflut von Unwillen, Qual und Erbitterung. Olivier fühlte sich verdrängt und verstoßen aus den Herzen von Bernard und Edouard zugleich. Der Freundschaftsbund, den seine beiden Freunde miteinander geschlossen hatten, untergrub seine eigene Freundschaft mit ihnen. Besonders eine Stelle in Bernards Brief peinigte ihn, ein Satz, den Bernard niemals geschrieben hätte, wenn er hätte ahnen können, was Olivier alles aus ihm herauslesen würde: »Im selben Zimmer«, murmelte Olivier immer wieder, und die abscheuliche Schlange der Eifersucht krümmte sich in seinem Herzen, »sie schlafen im selben Zimmer! …« Was dachte er sich nicht alles aus! Sein Hirn füllte sich mit schlimmen Visionen, die er nicht einmal zu vertreiben suchte. Er war weder speziell auf Edouard noch auf Bernard eifersüchtig, sondern auf beide zusammen. Er stellte sie sich vor, einen nach dem andern, oder simultan, und er beneidete sie gemeinsam. Es war um die Mittagsstunde, daß er den Brief erhalten hatte. »Aha, so steht die Sache! …« Diese Worte wiederholte er sich, in quälender Eintönigkeit, während des ganzen übrigen Tages. Nachts folterten ihn alle Dämonen der Hölle. Wie von Furien gepeitscht stürzte er am nächsten Morgen zum Grafen Robert de Passavant. Der erwartete ihn.


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