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Aus Edouards Tagebuch:
»Es war nicht schwer, den kleinen Boris ausfindig zu machen. Gleich am Morgen nach unserer Ankunft erschien er auf der Terrasse des Hotels und unterhielt sich damit, durch ein Fernrohr, das dort für die Gäste aufgestellt ist, auf die Berge zu sehen. Ich erkannte ihn sofort. Bald darauf kam ein Mädchen, etwas größer als er, und leistete ihm Gesellschaft. Ich war den Kindern ganz nahe: in dem zur Terrasse führenden Salon, dessen Glastüren weit offen standen. So ging mir kein Wort ihrer Unterhaltung verloren. Ich hätte die größte Lust gehabt, gleich mit Boris zu sprechen, doch hielt ich es für klüger, zunächst die Bekanntschaft der Mutter des Mädchens zu suchen, einer polnischen Ärztin, in deren Obhut Boris sich hier befindet. Die kleine Bronja ist entzückend. Sie muß etwa fünfzehn Jahre alt sein. Sie hat üppiges blondes Haar, das ihr in dicken Zöpfen bis auf die Hüften fällt. Ihr Blick aber und ihre Stimme scheinen eher einem Engel anzugehören als einem Menschen. Ich notiere das Gespräch der beiden Kinder:
»Boris, Mama hat es nicht gern, daß wir das Fernrohr anfassen. Wollen wir nicht lieber spazieren gehen?«
»Ja, meinetwegen. Nein, ich will nicht.«
Diese beiden entgegengesetzten Antworten wurden im selben Atemzuge vorgebracht. Bronja nahm nur auf die zweite Bezug und fragte:
»Warum nicht?«
»Es ist zu warm, es ist zu kalt.« (Er hatte inzwischen das Fernrohr gelassen.)
»Aber Boris, sei doch etwas liebenswürdiger! Du weißt, wie Mama sich freut, wenn wir zusammen spazieren gehen! … Wo hast du nur wieder deinen Hut hingelegt?«
»Vibroskomenopatof. Blaf blaf.«
»Was bedeutet das?«
»Nichts.«
»Warum sagst du es dann?«
»Damit du es nicht verstehen sollst.«
»Wenn es nichts bedeutet, so ist es mir ganz egal, ob ich's verstehe oder nicht.«
»Wenn es aber etwas bedeutete, so würdest du's auch nicht verstehen.«
»Aber man spricht doch, um verstanden zu werden!«
»Willst du, wir wollen spielen Worte machen, allein für uns beide zu verstehen?«
»Gib dir lieber erst Mühe, gut französisch zu lernen!«
»Meine Mama, die spricht französisch, englisch, römisch, russisch, türkisch, polnisch, italoskopisch, spanisch, Zopfsprache und Xixitu.«
(Dies alles sprudelte er mit einer Art Leidenschaft hervor.)
Bronja lachte.
»Boris, warum erzählst du die ganze Zeit Dinge, die nicht wahr sind?«
»Warum glaubst du nie, was ich dir erzähle?«
»Ich glaube es nur dann, wenn es wahr ist.«
»Wie kannst du denn wissen, wann es wahr ist? … Ich habe dir neulich ganz fest geglaubt, als du mir von den Engeln erzählt hast! Sag, Bronja: glaubst du, daß ich die Engel auch sehen könnte, wenn ich sehr stark darum beten täte?«
»Du wirst sie vielleicht zu sehen bekommen, wenn du aufhörst zu lügen und wenn der liebe Gott sie dir zeigen will; aber der liebe Gott zeigt sie dir gewiß nicht, wenn du nur aus diesem Grunde zu ihm betest. Es gibt viele herrliche Dinge, die wir mit Augen sehen könnten, wenn wir nicht so böse wären.«
»Bronja, du bist nicht böse! Deshalb kannst du auch die Engel sehen! Aber ich werde immer ein Bösewicht bleiben.«
»Warum versuchst du nicht, nicht mehr böse zu sein? Willst du, daß wir zusammen nach (hier nannte sie einen mir unbekannten Ort) gehen und da zusammen Gott und die Heilige Jungfrau bitten, daß sie dir helfen, nicht mehr böse zu sein?«
»Ja. Nein. Hör: wir wollen uns einen Stock suchen. Du nimmst das eine Ende und ich das andere. Ich schließe die Augen und verspreche dir, daß ich sie nicht eher wieder aufmache, als bis wir da angekommen sind, wo wir hinwollen.«
Sie entfernten sich etwas. Als sie dann die Stufen hinabgingen, hörte ich Boris noch sagen:
»Ja. Nein, nicht dieses Ende! Wart, ich will's erst abwischen!«
»Warum?«
»Ich hab's angefaßt.«
Madame Sophroniska kam auf mich zu, während ich, ganz allein, noch am morgendlichen Kaffeetisch saß und eben darüber nachdachte, auf welche Weise ich wohl am besten ihre Bekanntschaft machen könne. Ich war überrascht zu sehen, daß sie mein neuestes Buch in der Hand hielt. Liebenswürdig lächelnd fragte sie, ob sie sich nicht täusche in der Annahme, den Autor dieses Bandes vor sich zu haben. Und sogleich ließ sie sich auf eine ausführliche Würdigung meines Buches ein. Ihr Urteil erschien mir, in Lob und Tadel, klüger als die Äußerungen, die ich gewöhnlich zu hören bekomme, obwohl ihr Standpunkt keineswegs literarisch war. Sie sagte, sie interessiere sich fast ausschließlich für psychologische Fragen und für die Probleme der modernen Seelenforschung. Aber wie selten, fügte sie hinzu, finde sich –… sei es in der Lyrik, im Drama oder im Roman –… ein Schriftsteller, der sich in Bereiche jenseits der traditionellen Psychologie vorwage (der einzigen, warf ich ein, von der die Leser befriedigt seien).
Der kleine Boris ist ihr, für die Dauer der Ferien, von seiner Mutter anvertraut worden. Ich hütete mich, die Gründe durchblicken zu lassen, aus denen ich mich für ihn interessierte. Er sei ein sehr zartes Kind, sagte Madame Sophroniska. »Die Gesellschaft der Mutter ist nicht gut für ihn«, fügte sie hinzu. »Die Mutter hatte ursprünglich die Absicht, mit uns hierher nach Saas-Fee zu kommen; doch ich habe die Pflege des Knaben nur unter der Bedingung übernommen, daß er mir ganz allein überlassen werde, andernfalls könne ich den Erfolg meiner Behandlung nicht garantieren. Denn stellen Sie sich vor, mein Herr: dieses Kind ist von seiner Mutter in einem Zustand dauernder Überreizung erhalten worden, in einem Zustand, der den Ausbruch schlimmer nervöser Störungen geradezu provoziert! Diese Frau ist, seitdem der Vater des Knaben nicht mehr am Leben ist, gezwungen, ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Zuerst war sie Pianistin, und ich muß sagen: eine Meisterin in ihrem Fach! Aber ihr Spiel war allzu sublim, als daß es dem großen Publikum hätte gefallen können. Infolgedessen entschloß sie sich, als Sängerin in Konzertsälen und Music-halls aufzutreten, auf die Bretter zu steigen. Den kleinen Boris nahm sie abends in die Theatergarderobe mit. Ich glaube, diese unnatürliche Atmosphäre hat viel dazu beigetragen, den Knaben aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gewiß, die Mutter hat ihn sehr lieb; aber es wäre im höchsten Grade wünschenswert, wenn er ihr Leben in Zukunft nicht mehr teilte.«
»Was fehlt ihm denn eigentlich?« fragte ich.
Sie brach in Lachen aus.
»Den Namen seiner Krankheit wollen Sie wissen? Kann es Ihnen wirklich etwas nützen, wenn ich Ihnen einen schönen wissenschaftlichen Ausdruck vorsetze?«
»Sagen Sie mir doch einfach, woran er leidet!«
»Er leidet an einer Menge kleiner Störungen, Ticks und Manien, deren Gesamtheit das Bild des nervösen Kindes ergibt und denen man gewöhnlich mit Ruhe, frischer Luft und hygienischer Lebensweise abzuhelfen sucht. Sicherlich würde ein kräftiger Organismus derartige Störungen überhaupt nicht aufkommen lassen. Aber mag körperliche Schwäche diese Erscheinungen begünstigen, ihre eigentliche Ursache ist sie darum nicht. Ich glaube, man muß den Ursprung in einer primären Erschütterung des ganzen Wesens suchen, und es kommt nur darauf an, das Geheimnis zu entdecken, dem diese Erschütterung zuzuschreiben ist. Sobald der Kranke sich dieser Ursache bewußt wird, ist er schon fast geheilt. Aber in den meisten Fällen ist ihm diese Ursache längst aus der Erinnerung entschwunden, sie verbirgt sich gewissermaßen im Schatten der Krankheit. In diesem Versteck nun suche ich sie auf, um sie ins volle Licht des Tages, der bildhaften Anschaulichkeit emporzuheben. Denn ein klarer Einblick reinigt das Bewußtsein, wie ein Lichtstrahl fauliges Wasser.«
Ich erzählte Sophroniska das Gespräch, das ich gestern mit angehört hatte und wonach es mir schiene, als sei Boris vom Geheiltsein noch weit entfernt.
»Ja, weil ich meinerseits noch weit entfernt bin, aus der Vergangenheit des Knaben alles zu wissen, was ich unbedingt wissen müßte! Es ist ja auch noch gar nicht lange her, daß ich mit der Behandlung angefangen habe.«
»Worin besteht denn die Behandlung?«
»Oh, einfach darin, ihn sprechen zu lassen! Ich verbringe jeden Tag eine oder zwei Stunden mit ihm allein. Ich befrage ihn, aber nur sehr wenig. Das wichtigste ist, sein Vertrauen zu erwerben. Ich weiß schon allerlei von ihm. Und manches andere vermute ich. Doch der Kleine sträubt sich noch; er empfindet Scham. Ginge ich nun aber zu rasch und gewaltsam vor und suchte sein Vertrauen zu erzwingen, so würde ich niemals das erreichen, was ich erreichen möchte: ein völlig ungehemmtes Sichaussprechen. Er würde sich dann nur immer mehr gegen mich sperren. Solange ich noch nicht gesiegt habe über seine Zurückhaltung, über seine Schamhaftigkeit …«
Die Inquisition, von der sie da sprach, erschien mir so verletzend und indiskret, daß ich Mühe hatte, eine Bewegung des Protestes zu unterdrücken. Doch meine Neugier behielt die Oberhand:
»Wollen Sie damit andeuten, daß Sie von dem Kleinen gewisse unkeusche Enthüllungen erwarten?«
Jetzt war sie es, die protestierte:
»Unkeusche? Es ist nicht mehr Unkeuschheit dabei als etwa beim Abhorchen der Brust! Ich muß alles wissen, und besonders das, was man am ängstlichsten zu verheimlichen pflegt. Ich muß den kleinen Boris zum rückhaltlosen Geständnis bringen; vorher kann ich ihn nicht gesund machen!«
»Sie hegen also den Verdacht, daß er etwas zu gestehen habe. Aber –… pardon! –… sind Sie auch sicher, daß Sie ihm das, was Sie aus ihm herauskriegen wollen, nicht selbst suggerieren?«
»Dieser Gefahr muß man sich allerdings stets bewußt bleiben. Deshalb gehe ich ja so vorsichtig und langsam zu Werke. Ich habe ungeschickte Untersuchungsrichter an der Arbeit gesehen, die, ohne es zu wollen, einem Kinde Aussagen einbliesen, die in allen Punkten erfunden waren: unter dem Drucke des Verhörs log das Kind im besten Glauben und hielt eingebildete Missetaten für reale Geschehnisse. Meine Rolle aber ist, alles von selbst kommen zu lassen und keinesfalls etwas zu suggerieren. Dazu gehört freilich eine außerordentliche Geduld.«
»Mir scheint, die Methode ist hier soviel wert wie der Praktiker, der sie anwendet.«
»Ich wagte nicht, das zu sagen. Aber Sie können mir glauben, nach einiger Zeit der Praxis erlangt man eine ganz merkwürdige Geschicklichkeit, eine Art von Ahnungsvermögen, oder, wenn Sie lieber wollen: von Intuition. Trotzdem kann man natürlich auch einmal auf eine falsche Fährte geraten, dann muß man nur möglichst schnell wieder von ihr ablassen … Wissen Sie übrigens, welchen Ausgangspunkt alle meine Gespräche mit Boris haben? Ich lasse ihn erzählen, was er des Nachts geträumt hat.«
»Wie können Sie aber beurteilen, ob er nichts erfindet?«
»Und wenn er etwas erfände!? … Jede Erfindung einer krankhaften Phantasie ist verräterisch.«
Sie schwieg einige Augenblicke und fuhr dann fort: » Erfindung, krankhafte Phantasie … Nein, das sind doch nicht die richtigen Ausdrücke. Hier lassen uns die Worte im Stich. Wenn ich früh morgens mit Boris allein bin, so träumt er sozusagen mit sprechendem Munde weiter. Jeden Morgen bleibt er etwa eine Stunde lang in diesem halbschlafartigen Zustande, in dem die auftauchenden Bilder sich der Kontrolle der Vernunft entziehen. Nicht nach logischen Gesetzen gruppieren und verbinden sich dann die Vorstellungen, sondern nach anderen, höchst überraschenden Assoziationen; sie gehorchen einem geheimnisvollen inneren Gebot, eben dem, auf dessen Entdeckung es ankommt. Und dies zerfließende Gerede eines Kindes liefert mir ein weit brauchbareres Material, als die intelligenteste Selbstzergliederung des bewußtesten Patienten es zu tun vermöchte. Dem rationalen Denken entgeht eben so manches, und wer, das Leben zu erkennen, nur die Vernunft zu Hilfe riefe, der wäre ebenso unvernünftig wie jemand, der eine Flamme mit der Feuerzange fassen wollte: schließlich bliebe ihm nur ein verkohltes, längst nicht mehr loderndes Scheit Holz.«
Sie hielt abermals inne und begann in meinem Buche zu blättern.
»Wie wenig ihr doch vordringt in die menschliche Seele!« rief sie aus. Doch lächelnd fuhr sie gleich fort:
»Oh, ich spreche nicht speziell von Ihnen, sondern von den Romanschriftstellern im allgemeinen! Fast alle eure Personen sind wie auf Pfählen errichtet, sie haben weder Fundament noch Kellergeschoß unter sich. Bei lyrischen Dichtern fände man vielleicht ein größeres Maß von Wahrheit; doch alles, was nur der Intelligenz seine Entstehung verdankt, ist unwahr … Aber ich rede da von Dingen, die mich nichts angehen … Wissen Sie übrigens, was mich im Falle des kleinen Boris manchmal ganz irre macht? Die Vermutung, daß er ein völlig reines Wesen ist.«
»Warum sagen Sie, das mache Sie irre?«
»Weil ich dann nicht mehr wüßte, wo ich die Quelle des Übels zu suchen hätte. In neunzig Fällen von hundert findet man am Ursprung solcher krankhaften Zustände ein Geheimnis, dessen der Patient sich zu schämen hat.«
»Das fände man vielleicht bei jedem von uns«, sagte ich; »aber, Gott sei Dank, läßt es uns nicht alle krank werden.«
In diesem Augenblick erhob sich Madame Sophroniska; sie hatte draußen auf der Terrasse Bronja vorbeigehen sehen.
»Sehen Sie«, sagte sie, auf ihre Tochter weisend, »Bronja –… die ist das beste Heilmittel für Boris! … Sie scheint mich zu suchen; ich muß gehen. Aber wir sehen uns bald wieder, nicht wahr?«
Ich verstehe recht gut, welche Unterlassungen Sophroniska der Romanliteratur vorwirft. Aber es kommen da künstlerische Motive, Probleme höherer Art in Frage, für die sie kein Verständnis hat und die mich vermuten lassen, daß, wer ein ausgezeichneter Forscher auf dem Gebiete der Psychopathologie sein mag, darum noch kein guter Romancier zu sein braucht.
Ich habe Laura und Madame Sophroniska miteinander bekannt gemacht. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen, was mir sehr willkommen ist. Wenn ich weiß, daß sie miteinander plaudern, so empfinde ich weniger Gewissensbisse darüber, daß ich für mich allein bleibe. Dagegen ist es schade, daß Bernard hier gar keine Altersgenossen gefunden hat. Immerhin nimmt ihn die Vorbereitung auf sein Examen täglich mehrere Stunden in Anspruch. Ich habe mich meinem Roman wieder zuwenden können.»