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XI

Bernard erschien an diesem Morgen frühzeitig. Olivier schlief noch. Bernard setzte sich wie an den vorherigen Tagen mit einem Buch an des Freundes Bett, was Edouard die Möglichkeit gab, sich als abgelöst zu betrachten und zum Grafen Passavant zu gehen, wie er es versprochen hatte. In so früher Morgenstunde war man sicher, ihn anzutreffen.

Die Sonne strahlte. Ein frischer Lufthauch löste die letzten Blätter von den Bäumen. Die Welt war klar, durchsichtig und blau. Edouard hatte seit drei Tagen das Haus nicht verlassen. Eine große Freude weitete sein Herz. Ihm war zumute, als schwömme sein Dasein, wie eine leichte Barke, auf der Unendlichkeit des Meeres, auf einem Ozean göttlicher Milde. Dermaßen können Liebe und schönes Wetter die Grenzen unseres Wesens hinwegzaubern.

Edouard hatte wohl bedacht, daß er zum Transport von Oliviers Sachen ein Auto brauchen würde. Aber er beeilte sich nicht, eins zu nehmen. Das Gehen machte ihm Freude. Das Gefühl von Wohlwollen, das ihn heute gegenüber aller Kreatur beseelte, befähigte ihn schlecht, dem Grafen Passavant gegenüberzutreten. Er sagte sich, er müsse Passavant verfluchen; er rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er gegen ihn auf dem Herzen hatte, aber er empfand keinen Stachel mehr dabei. Er hatte diesen gestern noch verabscheuten Rivalen nun so gründlich verdrängt, daß er ihn nicht mehr zu hassen vermochte. Wenigstens war er heute morgen dazu nicht imstande. Und da er sich andererseits überlegte, daß er, wollte er sein Glück nicht verraten, diesen Umschwung keinesfalls merken lassen dürfe, so hätte er am liebsten diese ganze Zusammenkunft, bei der er den Schein der Wehrlosigkeit erregen mußte, vermieden. Wirklich, warum zum Teufel befand er sich eigentlich auf dem Wege zu diesem Grafen Robert de Passavant, gerade er: Edouard? Er sollte sich in der Rue de Babylone präsentieren und dort Oliviers zurückgelassene Sachen verlangen –… mit welchem Rechte denn nur?! Ein höchst unvorsichtig übernommenes Geschäft, sagte er im Weitergehen zu sich selbst, aus dem man die Folgerung ziehen könnte, Olivier habe bei mir Wohnung genommen: gerade das, was ich zu verheimlichen wünsche … Aber an Umkehren war nicht mehr zu denken: Olivier hatte sein Versprechen. Immerhin beschloß Edouard, gegenüber Passavant recht kalt und unbeirrt aufzutreten. Ein Auto kam vorbei, er rief den Chauffeur an und nannte ihm die Adresse.

Edouard kannte Passavant schlecht. Ein bestimmter Zug seines Wesens war ihm völlig entgangen: Passavant ertrug es nicht, in irgendeiner Sache der Unterlegene zu sein. Um seine Niederlagen nicht eingestehen zu müssen, tat er immer so, als habe er das Geschehene gewünscht; alles behauptete er, vorher gewollt zu haben, genau in der Art, wie es tatsächlich verlief. Als er sah, daß Olivier ihm entglitt, hatte er (der sich von keiner Gesprächswendung je überrumpeln ließ) nur die eine Sorge: seinen Groll vor niemand merken zu lassen. Anstatt hinter Olivier herzulaufen und sich vielleicht lächerlich zu machen, gewann er es über sich, nur spöttisch mit den Achseln zu zucken. Seine Empfindungen waren nie so heftig, als daß er sie nicht hätte bemeistern können. Auf solche Fähigkeiten sind manche Leute stolz; sie bedenken dabei nicht, daß man diesen Grad von Selbstbeherrschung meistens weniger seiner Charakterstärke als einer gewissen Dürftigkeit seines Temperaments verdankt. Ich möchte hier durchaus nicht verallgemeinern; nehmen wir an, das Gesagte habe einzig auf den Grafen Passavant Bezug. Diesem fiel es also durchaus nicht schwer, sich einzureden, er habe von seiner Freundschaft mit Olivier gerade genug gehabt; in diesen beiden Sommermonaten habe sich der ganze Reiz eines Abenteuers erschöpft, das in seinem Leben allzuviel Platz einzunehmen drohte; übrigens habe er sich von der Schönheit dieses Kindes, von seiner Liebenswürdigkeit und seinen Geistesgaben eine übertriebene Vorstellung gemacht; und endlich könne man sich auch der Erkenntnis nicht länger verschließen, daß die Leitung einer Zeitschrift keinesfalls einem so jungen, unerfahrenen Menschen anvertraut werden dürfe. Überlege man sich alles ganz genau, so komme eigentlich Strouvilhou weit mehr für ihn in Betracht: als Herausgeber der Zeitschrift, versteht sich. Er hatte also an Strouvilhou geschrieben und ihn gerade für heute vormittag zu sich gebeten.

Fügen wir hinzu, daß Passavant sich über den Grund von Oliviers Abtrünnigkeit täuschte. Er glaubte seine Eifersucht erregt zu haben, indem er sich allzusehr um Sarah bemühte. Er fand Vergnügen an dieser Idee, die seinem angeborenen Dünkel schmeichelte und seinen Ärger neutralisierte.

Er erwartete also Strouvilhou. Und da er angeordnet hatte, daß man den Besucher sofort eintreten lasse, so profitierte Edouard von der gegebenen Weisung und fand sich vor Passavant, ohne angemeldet worden zu sein. Passavant verriet seine Überraschung mit keiner Silbe. Zum Glück für ihn entsprach die Rolle, die er zu spielen hatte, seinem Wesen und machte ihm nicht die geringste Schwierigkeit. Sowie ihm Edouard den Grund seines Besuchs dargelegt hatte:

»Wie froh bin ich über das, was Sie mir da sagen! Also, wirklich, Sie wollen sich um ihn kümmern? Das wäre kein zu großes Opfer für Sie?! … Olivier ist ein entzückender Junge, aber seine Anwesenheit hier fing an, mir schrecklich unbequem zu werden. Ich wagte nicht, es ihn merken zu lassen: er ist ja so zartfühlend! … Und ich wußte, daß er nicht gern zu seinen Eltern zurückwollte … Die Eltern, nicht wahr, wenn man einmal von ihnen weg ist … Dabei fällt mir ein: ist seine Mutter nicht eine Halbschwester von Ihnen? … oder etwas in diesem Genre? Ich glaube, Olivier hat mir einmal derartiges gesagt. Also nichts Natürlicheres, als daß er bei Ihnen Wohnung genommen hat … Niemand kann darin den geringsten Anlaß finden zu lächeln« (was er sich selbst übrigens bei diesen Worten durchaus nicht versagte). »Bei mir, verstehen Sie, war seine Anwesenheit schon bedenklicher. Das war ja auch einer der Gründe, die mich wünschen ließen, daß er weggehe … So wenig ich sonst auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehme … Nein; hauptsächlich war es in seinem eigenen Interesse …«

Die Unterhaltung hatte nicht übel begonnen. Aber Passavant mochte eben nicht auf die Freude verzichten, einige Tropfen seiner giftigen Perfidie in den Becher von Edouards Glück zu träufeln. Etwas Gift hatte er stets vorrätig: es bietet sich ja so oft eine Gelegenheit, da man es brauchen kann …

Edouard fühlte sich am Ende seiner Geduld. Aber plötzlich erinnerte er sich an Vincent, von dem Passavant Nachrichten haben mußte. Gewiß, er hatte sich fest vorgenommen, gegenüber Douviers, wenn dieser bei ihm erschiene und ihn befragte, den Namen Vincents durchaus zu verheimlichen; um sich aber der Ausfragung besser entziehen zu können, hielt er es für erwünscht, selber auf dem laufenden zu sein: das würde sein Widerstandsvermögen stärken. Somit ergriff er diesen Vorwand einer Ablenkung.

»Vincent hat mir nicht geschrieben«, sagte Passavant; »aber ich bekam kürzlich einen Brief von der Lady Griffith (der Nachfolgerin, wissen Sie), in dem sie ausführlich von ihm spricht. Wollen Sie den Brief lesen? Bitte, hier ist er … Schließlich sehe ich nicht ein. warum Sie nicht Kenntnis von ihm nehmen sollten.«

Er reichte ihm den Brief hin. Edouard las:

 

Am 25. August.

 

My dear,

Die Yacht des Fürsten wird ohne uns von Dakar abgehen. Wer weiß, wo wir sein werden, wenn dieser Brief, den sie mitnimmt, in Ihre Hände gelangt! Vielleicht an den Ufern des Cazamanca, wo Vincent botanisieren und ich wilde Tiere jagen will. Ich bin mir nicht mehr ganz klar darüber, ob eigentlich ich ihn in der Welt herumschleppe oder er mich; oder ob es nicht im Grunde der Dämon des Abenteuers ist, der uns beide immer weiter ins Ungewisse treibt. Vorgestellt worden sind wir ihm vom Dämon der Langeweile, mit dem wir an Bord Bekanntschaft gemacht hatten … Ach, dear, man muß auf einer Yacht gelebt haben, um zu wissen, was Langeweile heißt! Bei stürmischem Wetter, da mag es noch einigermaßen erträglich sein: da hat man teil an der Erregung des Schiffes. Aber seit Teneriffa kein Windhauch mehr; kein Kräuselstreif auf dem Ozean.

... dem spiegelnden Schein
Meiner Pein …

Und wissen Sie, womit ich mich seitdem beschäftige? … Vincent zu hassen! Ja, mein Freund, die Liebe ist uns zu banal geworden, und so haben wir beschlossen, uns zu hassen! Eigentlich hat das schon viel früher begonnen: gleich mit dem Beginn unserer Seefahrt. Doch zunächst war es nur Gereiztheit, eine dumpfe Nervosität, die den Liebesanfällen keinen Eintrag tat. Mit dem schönen Wetter ist unbändige Wut daraus geworden … Oh, jetzt weiß ich, was es bedeutet, Leidenschaft für jemand zu empfinden …

 

Der Brief war noch lang.

»Ich brauche nicht weiterzulesen«, sagte Edouard und gab Passavant das Blatt zurück. »Wann kommt er heim?«

»Lady Griffith sagt nichts von einer Rückkehr.«

Passavant war empört, daß Edouard keinen größeren Appetit auf diesen Brief zeigte. Nachdem er ihm erlaubt hatte, ihn zu lesen, mußte er diesen Mangel an Neugier geradezu als Beleidigung auffassen. Zwar wies er selbst Anerbietungen, die ihm gemacht wurden, gern zurück: um so weniger ertrug er es, daß die seinigen mißachtet wurden. Dieser Brief hatte ihn, bei seinem Eintreffen, äußerst angenehm berührt. Passavant hegte eine gewisse Neigung für Lilian und Vincent; er hatte sich sogar eingeredet, daß er ihnen nützlich sein könnte, aber seine

Sympathie und Hilfsbereitschaft verlor sich sofort, wenn man ihrer nicht mehr bedurfte. Daß seine beiden Freunde, nachdem sie ihn verlassen hatten, keineswegs aufs Glück zugesteuert waren, das ließ ihn denken: so ist es gut …

Was Edouard betrifft, so war seine morgendliche Seligkeit viel zu echt, als daß er, angesichts der Schilderung tobsüchtiger Gefühle, kein Mißbehagen hätte fühlen sollen. Und so hatte er den Brief ohne irgendwelche Verstellung zurückgegeben.

Passavant suchte sofort wieder obenauf zu kommen:

»Hm, was ich noch sagen wollte: Sie wissen, daß ich an Olivier gedacht hatte wegen der Leitung einer Zeitschrift? Davon kann jetzt natürlich keine Rede mehr sein.«

»Das versteht sich doch von selbst«, bestätigte Edouard, den Passavant, ohne sich dessen bewußt zu sein, von einer großen Sorge befreit hatte. Der Graf erkannte an Edouards Ton, daß er unfreiwillig dessen Spiel gespielt hatte. Aber der Versuchung widerstehend, sich auf die Lippen zu beißen, sagte er rasch:

»Die Sachen, die Olivier zurückgelassen hat, befinden sich in dem Zimmer, das er hier innehatte. Sie haben vermutlich ein Auto? Dann soll man gleich alles in den Wagen bringen. Wie geht es ihm übrigens?«

»Sehr gut.«

Passavant hatte sich erhoben. Edouard tat desgleichen. Die beiden trennten sich mit eisigem Gruß.

 

Edouards Besuch hinterließ dem Grafen Passavant einen peinlichen Nachgeschmack.

»Uff!« machte er, als er Strouvilhou eintreten sah.

Obwohl Strouvilhou ihm durchaus die Stirne zu bieten vermochte, fühlte Passavant sich in seiner Gesellschaft behaglich (oder, genauer: er machte es sich behaglich). Gewiß hatte er es da mit einem skrupellosen Gegenspieler zu tun, aber er war sich der eigenen Stärke bewußt und setzte seinen Stolz darein, sich mit dem gleichwertigen Partner zu messen.

»Nehmen Sie Platz, mein lieber Strouvilhou«, sagte er und schob ihm einen Sessel hin. »Ich bin wirklich froh, Sie zu sehen!«

»Der Herr Graf hat mich zu sehen gewünscht: ich bin ganz zu seinen Diensten.«

Bisweilen gefiel sich Strouvilhou in solch ironischer Lakaienhaftigkeit. Daran hatte sich Passavant schon gewöhnt.

»Also gleich zur Sache! Es ist Zeit (um mit einem berühmten Manne zu reden), › unter den Möbeln hervorzukriechen‹. Sie haben schon allerlei Handwerke getrieben: heute wollte ich Ihnen einen wahren Diktatorposten anbieten. Freilich muß ich gleich hinzufügen, daß die Machtfülle, um die es sich handelt, nur literarischer Art sein würde.«

»Das macht die Sache allerdings nicht reizvoller.« –… Und als Passavant ihm sein Zigarettenetui hinhielt: »Wenn Sie erlauben, nehme ich lieber …«

»Nein, das erlaube ich absolut nicht! Mit Ihren abscheulichen Schmugglerzigarren haben Sie mir schon neulich das ganze Zimmer verpestet! Ich begreife wirklich nicht, wie man solches Zeug rauchen kann.«

»Oh, ich habe ja auch nie behauptet, daß mir diese Zigarren so besonders köstlich schmeckten! Aber die braven Mitmenschen leiden darunter …«

»Also immer noch Frondeur?«

»Na, für einen Idioten braucht man mich auch nicht gerade zu halten!«

Ohne auf Passavants Vorschlag direkt zu antworten, hielt Strouvilhou es für geraten, zunächst seine eigene Stellung zu markieren; alles Weitere würde sich dann schon finden. Er äußerte also:

»Menschenliebe ist nie meine Force gewesen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Passavant.

»Doch Eigenliebe ebensowenig. Und das wissen Sie nicht so genau, Herr Graf … Man sucht uns glauben zu machen, es gebe für uns Menschen keinen anderen Ausweg aus dem Egoismus als einen noch viel ekelhafteren Altruismus. Ich meinerseits behaupte, daß, falls etwas noch Verächtlicheres und Gemeineres existiert als der Mensch, es eine Mehrzahl von Menschen ist … Kein Gerede wird mich je überzeugen, daß die Addition vieler schmieriger Einzelgrößen imstande sei, eine anbetungswürdige Summe zu ergeben … Ich vermag in keine Trambahn, in kein Eisenbahncoupé zu steigen, ohne im gleichen Augenblick leidenschaftlich auf eine ausgiebige Katastrophe zu hoffen, die all dieses unflätige Gewürm in zuckenden Brei verwandeln müßte: oh, mein wertes Selbst durchaus inbegriffen, zum Teufel! In keinen Theatersaal komme ich, ohne ein Herabsausen des Kronleuchters oder das Platzen einer Bombe aufs innigste zu wünschen … Auch wenn ich mit den andern dabei krepieren soll: ich will sie gern selbst unter der Jacke mitbringen, diese Bombe (falls ich mich nicht reserviere für noch bessere Gelegenheiten) … Was sagten Sie? …«

»Oh, nichts! Gar nichts! Sprechen Sie nur weiter: ich höre zu … Sie sind ja keiner von den Rednern, die auf den Stachel des Widerspruchs warten müssen, um fortfahren zu können.«

»Ich hatte nur zu hören geglaubt, daß Sie mir liebenswürdigerweise ein Glas von Ihrem unschätzbaren Portwein anböten …«

Passavant lächelte.

»Und behalten Sie die Flasche gleich da«, sagte er, indem er sie ihm hinreichte. »Trinken Sie sie ganz aus, wenn Sie Lust haben. Aber sprechen Sie weiter!«

Strouvilhou schenkte ein Glas voll, machte sich's in seinem Ledersessel bequem und sagte:

»Ich weiß nicht, ob ich das habe, was man ein kaltes Herz nennt; ich habe zuviel Empörung und Ekel, um es zu glauben. Na, es ist mir auch ziemlich einerlei … Allerdings habe ich seit geraumer Zeit in dem genannten Organ meines Körpers alles unterdrückt, wodurch es sich irgendwie hätte erwärmen können. Aber ich bin durchaus der Bewunderung fähig und eines vielleicht absurden Opferwillens; denn als Mensch verachte und hasse ich mich selbst natürlich ebensosehr wie meine Mitmenschen … Ich höre überall behaupten, Literatur, Kunst und Wissenschaft arbeiteten letzten Endes zum Heile der Menschheit (was für mich freilich Grund genug wäre, um auf sie zu spucken). Aber nichts hindert mich, diese Behauptung umzukehren, und erst dann kann ich aufatmen … Ja, eine Vorstellung, der ich mich unendlich viel lieber hingebe, ist, in diametralem Gegensatz zu jener These: eine sklavische Menschheit, die an irgendeinem grausigen Denkmal front; ein Bernard de Palissy (hat man uns auf der Schule mit dem geödet!), der Frau und Kinder und sich selbst verbrennt, um die Glasur einer dekorativen Tonschüssel zu erhalten  … Es macht mir Spaß, die Probleme umzukehren. Mein Hirn ist nun einmal so eingerichtet, daß sie dann im schönsten Gleichgewicht darin hängen, die Köpfe alle nach unten … Und wenn ich die Idee eines Jesus Christus unerträglich finde, der sich opfert für das undankbare Wohl aller dieser widerwärtigen Geschöpfe, denen man auf der Straße begegnet, so finde ich dagegen einige Bedeutung und sogar eine gewisse Erhabenheit in dem Gedanken, daß eine unabsehbare Menschenmasse verfaulen mußte, um einen einzigen Christus entstehen zu lassen … (obgleich ich ein anderes Ergebnis vorgezogen hätte, denn Christi Lehre hat doch nur dazu gedient, die Menschheit noch tiefer in den Sumpf hineinzutreiben). Das meiste Unglück kommt vom Egoismus der Kraftnaturen. Eine opferwillige Kraft, die könnte Großes leisten … Mit dem Schutz der Unglücklichen, der Schwachen und Verkrüppelten sind wir auf falschem Wege. Deshalb hasse ich die Religion, die uns solches lehrt! Das Gefühl von Harmonie, das sogar einen Philanthropen bei der Betrachtung der Tier- und Pflanzenwelt überkommt, rührt daher, daß in der freien, ungezähmten Natur nur das wirklich Lebenskräftige gedeiht: der ganze Rest ist Abfall und höchstens als Dünger zu verwerten. Aber das will niemand einsehen und anerkennen.«

»Doch, doch! Ich erkenne es gern an. Sprechen Sie nur weiter!«

»Und sagen Sie, ob es nicht eine Schmach und Schande ist, daß der Mensch, der so viel getan hat zur Züchtung der besten Pferde-, Vieh-, Geflügel-, Getreide- und Blumensorten, für sich selbst noch darauf angewiesen ist, in der Medizin eine Linderung seiner Hinfälligkeit zu suchen, in der Nächstenliebe eine Verschleierung seines Elends, in der Religion eine Tröstung und in der Trunkenheit ein Vergessen! Höherzüchtung der menschlichen Rasse: darauf käme es an! Aber jegliche Auslese schließt die Forderung in sich, daß die Schlechtweggekommenen beseitigt werden, und dazu vermag sich unsere ehrenwerte christliche Gesellschaft nicht aufzuraffen. Sie gewinnt es ja nicht einmal über sich, die Degenerierten zu kastrieren (und gerade die pflegen die kinderreichsten zu sein). Was die Menschheit braucht, das sind keine Siechenhäuser und keine Greisenheime, sondern Züchtungsetablissements, Gestüte!«

»Alle Wetter, so gefallen Sie mir, Strouvilhou!«

»Ich fürchte, bisher haben Sie sich über mich getäuscht, Herr Graf! Sie haben mich für einen Skeptiker genommen, während ich in Wahrheit ein Idealist, ein Mystiker bin … Der Skeptizismus hat noch nie etwas Brauchbares hervorgebracht. Man weiß ja, wohin er führt …: zur Toleranz! Ich halte die Skeptiker für Leute ohne Ideal, ohne Einbildungskraft: für Idioten … Übrigens verkenne ich durchaus nicht, wieviel sentimentale Zartheiten und Feinheiten durch die Züchtung solcher robusten Menschenrasse vernichtet werden würden; aber es bliebe ja auch niemand mehr übrig, der sich nach solchen Zartheiten zurücksehnen könnte, weil eben zugleich mit ihnen ihre Träger, die Zärtlinge, ausgerottet worden wären … Dabei ist mir persönlich das, was man ›Kultur‹ zu nennen beliebt, keineswegs fremd, und somit weiß ich, daß es schon im alten Griechenland etliche Geister gegeben hat, denen mein Ideal von ferne aufgedämmert ist. Wenigstens bilde ich mir das gern ein, wenn ich daran denke, daß Kora, die Tochter der Demeter, zunächst tiefes Mitgefühl mit den Schatten empfand, als sie in die Unterwelt hinabstieg; daß sie aber dann, Gemahlin des Pluto und Königin geworden, von Homer nur noch die ›unerbittliche Proserpina‹ genannt wird. Vergleiche den sechsten Gesang der Odyssee … ›Unerbittlich‹ –… dieses Prädikat schuldet sich ein Mann, der Anspruch darauf macht, innerlich stark zu sein.«

»Ein Glück, daß Sie zur Literatur zurückkehren (falls Sie sich überhaupt von ihr entfernt hatten …). Nun, so frage ich Sie denn, Sie innerlich starker Strouvilhou, ob Sie Lust hätten, der unerbittliche Herausgeber einer Zeitschrift zu werden?«

»Wenn ich aufrichtig sein soll, mein lieber Graf, muß ich Ihnen gestehen, daß von allen widerlichen Ausdünstungen der Menschheit die Literatur mir so ziemlich die allerwiderlichste ist. Ich sehe in ihrem Getriebe nichts als eine raffinierte Organisation der niedrigsten Eitelkeit und Heuchelei. Falls da nicht jemand kommt, der mit eisernem Besen dazwischenfährt, wird das auch kaum jemals anders werden … Wir arbeiten mit konventionell zugelassenen Empfindungen, die der Leser nachzuempfinden wähnt, weil er an alles glaubt, was gedruckt wird. Auf diesen Kredit rechnet der Autor; er spekuliert mit diesen durch Verabredung anerkannten Fundamenten seiner Kunst. Diese Gefühle klingen falsch wie die Rechenmarken einer Spielbank, aber sie haben Kurs. Und da man ja weiß, daß immer die schlechte Münze die gute verjagt', so würde jemand, der dem Publikum heutzutage echtes Gold anböte, sehr bald als Scharlatan aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen werden. In einer Welt, wo jedermann betrügt, bleibt für den ehrlichen Mann keine andere Rolle übrig als die des Hochstaplers … Ich sage es Ihnen gleich im voraus: falls ich mich dazu entschließen könnte, eine Zeitschrift zu redigieren, so nur, um darin alle gedunsenen Schläuche zum Platzen zu bringen und alle schönen Gefühle radikal zu entwerten, zusammen mit jenen famosen Primawechseln: den Worten der menschlichen Sprache!«

»Donnerwetter, ich möchte sehen, wieweit Sie damit kämen!«

»Das müßten Sie eben abwarten, mein Herr Graf …«

»Niemand würde Sie verstehen, niemand Ihnen folgen!«

»Oh, was glauben Sie! Momentan sind alle gescheiten jungen Leute von einer wahrhaft fanatischen Wut befallen gegen die lyrische Inflation; sie haben endlich erkannt, was dahintersteckt –… hinter all dieser pedantischen Silbenzählerei und tausendmal verbrauchten Pathetik! Wenn da nun einer kommt mit der Parole: ›niederreißen!‹, der findet Hände, soviel er nur wünschen kann! Wollen Sie, daß wir eine literarische Schule gründen mit der einzigen Tendenz, alles kurz und klein zu schlagen? … Oder macht Ihnen solche Perspektive Angst?«

»Nein …, falls man meinen eigenen Garten unzertrampelt läßt …«

»Hm, man könnte sich ja vorläufig anderwärts betätigen … Die Stunde ist günstig. Ich kenne viele, die nur auf ein Signal warten: ganz junge Leute … Ja, ich weiß: das gefällt Ihnen, aber ich sage Ihnen gleich: die lassen sich von Ihnen keine Märchen aus Tausendundeine Nacht vorerzählen … Wie oft habe ich mich schon gefragt, durch welches Wunder eigentlich die Malerei einen solchen Vorsprung gewonnen hat vor der Literatur. In wie tiefem Mißkredit steht doch heutzutage alles, was man in der Malerei das ›Motiv‹ zu nennen pflegte! Ein schöner .Stoff': das erscheint uns heute geradezu lächerlich … An ein Porträt wagt sich der moderne Maler höchstens noch heran mit dem unverbrüchlichen Vorsatz, jegliche Ähnlichkeit zu vermeiden wie die schwarze Pest! Wenn wir unsere Sache gut machen (und da könnten Sie sich schon auf mich verlassen), so soll in weniger als zwei Jahren jeder junge Dichter sich aufs tiefste entehrt fühlen, von dessen Versen irgend jemand auch nur noch ein einziges Wort versteht! Jawohl, mein hochgeehrter Herr Graf; wollen wir wetten? In der dunkelsten Rumpelkammer verstauben wird jeglicher Sinn, jegliche Bedeutung! Somit mache ich Ihnen den Vorschlag, die Dichterschule des Illogismus zu starten … Welch herrlicher Titel für eine Zeitschrift: ›Die Anti-Sinniten‹!«

Passavant hatte zugehört, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Befindet sich unter Ihren Adepten«, fragte er nach einer Weile, »auch Ihr Vetter Léon?«

»Der kleine Léon: oh, das ist einer vom reinsten Wasser, eine ganz hervorragende Intelligenz! Es ist wirklich ein Vergnügen, ihm gelegentlich einen Fingerzeig zu geben … Allerdings weiß ich nicht recht, was er gerade momentan im Schilde führt. Vor den Sommerferien, da machte es ihm Spaß, die Besten in seiner Klasse zu überflügeln und sich alle Preise zu holen. Aber seitdem die Schule wieder angefangen hat, tut er gar nichts mehr! Na, ich habe jedenfalls das allergrößte Vertrauen zu ihm und möchte seine Kreise absolut nicht stören …«

»Würden Sie ihn mir bringen?«

»Der Herr Graf belieben zu scherzen, nicht wahr? … Also die Revue?«

»Wir sprechen ein andermal weiter darüber … Ich muß Ihre Pläne erst reifen lassen in meinem Innern. Inzwischen könnten Sie wohl die Güte haben, mir einen neuen Sekretär zu besorgen; der, den ich hatte, entspricht meinen Anforderungen nicht mehr.«

»Ich werde Ihnen morgen den kleinen Cob-Lafleur schicken, den ich nachher im Café treffe und der Ihnen sicherlich zusagen wird.«

»Von der Couleur: ›Anti-Sinnit‹?«

»Ein bißchen.«

» Ex uno …«

»Nein: Sie dürfen von diesem einen nicht auf alle andern schließen … Dies ist einer von der gemäßigten Sorte. Speziell geeignet für Sie.«

Strouvilhou erhob sich.

»Übrigens«, sagte Passavant, »hab' ich Ihnen, glaube ich, noch gar nicht mein neues Buch gegeben! Leider hab' ich kein Exemplar der ersten Auflage mehr zur Verfügung …«

»Oh, da ich nicht die Absicht habe, es an einen Antiquar zu verkaufen, macht das ja nichts aus!«

»Aber der Druck der Originalausgabe ist besser …«

»Oh, da ich ebensowenig die Absicht habe, es zu lesen … Also auf Wiedersehen! Und, falls es Ihnen noch erwünscht sein sollte: zu Ihren Diensten! Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«


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