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Plenty and peace breeds cowards; hardness ever of hardiness is mother.
Shakespeare.
Olivier hatte sich zu Bett gelegt, um den Gutenachtkuß seiner Mutter in Empfang zu nehmen, die jeden Abend, bevor sie selbst zur Ruhe ging, ins Zimmer ihrer beiden jüngeren Kinder kam und nach dem Rechten sah. Er hätte sich dann, in Erwartung Bernards, wieder ankleiden können, aber er zweifelte noch an dessen Kommen und fürchtete auch, seinen Bruder Georges aufmerksam zu machen. Georges, der Jüngste, schlief meistens rasch ein und wachte spät wieder auf; vielleicht würde er gar nichts Ungewöhnliches bemerken.
Als an der Tür eine Art vorsichtigen Kratzens bemerkbar wurde, sprang Olivier aus dem Bett, schlüpfte hastig in seine Pantoffeln und öffnete. Licht brauchte man gar nicht zu machen: der Mond erhellte das Zimmer zur Genüge. Die beiden Freunde umarmten sich.
»Oh, wie ich auf dich gewartet habe!« sagte Olivier. »Ich glaubte kaum noch, daß du wirklich kämst. Wissen denn deine Eltern, daß du heute nacht nicht zu Hause schläfst?«
Bernard, in der halben Dunkelheit, zuckte mit den Achseln:
»Meinst wohl, ich hätte sie um Erlaubnis bitten sollen, was?«
Seine Stimme klang so spöttisch, daß Olivier sofort einsah, wie lächerlich seine Frage gewesen war. Es war ihm noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß Bernard doch sicherlich ›aus guten Gründen‹ von Hause weggegangen war. Ihm waren die Motive seiner Flucht ganz unklar, und er dachte wohl, Bernard beabsichtige nur, diese eine Nacht wegzubleiben. Und er fragte: »Wann gehst du zurück?«
»Niemals!«
Da begriff Olivier die Tragweite der Angelegenheit und erwies sich nun eifrig bestrebt, der Situation gewachsen zu sein und sich durch nichts mehr überraschen zu lassen. Immerhin entrang sich ihm ein: »Es ist enorm, was du da tust!«
Es mißfiel Bernard durchaus nicht, seinem Freunde zu imponieren, und er war ungemein empfänglich für die Bewunderung, die in dessen Ausruf lag. Doch er zuckte nur abermals mit den Achseln.
Olivier ergriff seine Hand und fragte, voll innerer Angst:
»Aber … warum gehst du von Hause weg?«
»Mein lieber Olivier, das sind Familiengeschichten. Das kann ich dir nicht sagen.«
Und um nicht im geringsten feierlich zu erscheinen, spielte er mit seiner Stiefelspitze an Oliviers einem, auf den Zehen wippenden Pantoffel, denn die beiden Freunde hatten sich auf den Bettrand gesetzt.
»Und wo willst du leben?«
»Weiß nicht.«
»Und wovon?«
»Werd' sehn.«
»Hast du Geld?«
»Für den Kaffee morgen früh.«
»Dann such ich eben was. Werd' schon was finden. Ich erzähl's dir dann.«
Olivier bewundert seinen Freund maßlos. Er kennt sein entschlossenes Wesen. Trotzdem zweifelt er noch: wird die Not ihn nicht bald zurücktreiben? Bernard aber erklärt: »Lieber alles andere, als nach Hause zurück!« Und da er die Worte: »Lieber alles andere …« aufgeregt wiederholt, so packt den Freund ein Verdacht. Er möchte etwas fragen, wagt's aber nicht. Endlich, gesenkten Kopfes, stockend, bringt er heraus:
»Sag, Bernard, du willst doch nicht etwa …?«
Er hält inne. Bernard sieht auf und bemerkt seine Verwirrung:
»Was?« fragt er. »Was meinst du? Sprich doch! … Stehlen?«
Olivier schüttelt den Kopf. Nein, das ist es nicht. Plötzlich bricht er in Schluchzen aus und preßt Bernard an sich:
»Versprich, daß du nicht …«
Da versteht Bernard. Lachend macht er sich los:
»Ja, das versprech' ich dir: den Zuhälter werd' ich nicht mimen.« Und er fügt hinzu: »–… obgleich es im Grunde das einfachste wäre, nicht?«
Aber Olivier ist beruhigt; er fühlt, daß der Zynismus dieser Worte nicht ernst gemeint ist.
»Und dein Examen?«
»Ja, das ist 'ne dumme Sache. Ich möchte es immerhin machen. Gebüffelt hab ich genug. Es kommt ja eigentlich bloß darauf an, daß man an dem Schicksalstage einigermaßen in Form ist. Ich muß schnell in klare Verhältnisse kommen. Das Ganze ist ja vielleicht gewagt; aber … 's wird sich schon machen; du wirst sehen.«
Einen Augenblick schweigen sie. Oliviers Pantoffel ist vom Fuße gefallen. Bernard:
»Du wirst dich erkälten. Leg dich doch wieder hin.«
»O nein, das Bett ist für dich. Leg du dich doch hin.«
»Ach, was! hollah hopp!« … und er nötigt Olivier in sein Bett zurück.
»Aber du? Wo willst du schlafen?«
»Irgendwo. Auf dem Fußboden. In einer Ecke. Muß mich dran gewöhnen.«
»Nein! Hör zu: ich möchte dir was erzählen, kann's aber nur, wenn ich dich nah bei mir fühle. Komm zu mir ins Bett.«
Und als Bernard, der sich im Nu ausgezogen hat, neben ihm liegt:
»Du erinnerst dich, wovon ich neulich sprach? … Es ist soweit. Ich bin dagewesen.«
Bernard weiß sofort, wovon die Rede ist. Er drückt seinen Freund an sich. Olivier fährt fort:
»Oh, mein Lieber, das ist aber ekelhaft! Ganz widerwärtig! … Hinterher hätte ich ausspucken mögen, mich übergeben, mir die Haut vom Leibe reißen, mich niederschießen!«
»Du übertreibst …«
»Oder sie niederknallen, die …«
»Wer war es denn? Du bist doch wenigstens nicht unvorsichtig gewesen?«
»Nein, es war eine Donna aus Dhurmers Bekanntschaft, er hatte mich ihr vorgestellt. Besonders ihr Geschwätz ekelte mich an. Sie hörte gar nicht auf zu plappern. Und von einer Stupidität! Ich verstehe nicht, daß man nicht wenigstens in diesen Momenten das Maul hält! Ich hätte ihr einen Knebel in den Mund stecken, sie erwürgen mögen …«
»Mein armer Junge! Aber du hättest dir doch denken können, daß Dhurmer dir nur eine Idiotin andrehen würde … War sie denn wenigstens hübsch?«
»Wenn du glaubst, ich hätte sie angesehen!«
»Na, du bist ja ein netter Idiot, ein entzückender Dummkopf! … Also, schlaf gut … Hast du denn mindestens ordentlich …?«
»Das war ja gerade das Widerlichste –… ganz, als ob ich in sie verliebt gewesen wäre.«
»Alle Wetter, das ist fabelhaft!«
»So hör doch auf! Wenn das die Liebe sein soll, dann hab' ich für ein paar Jahre genug davon!«
»Ach, du bist ein lächerliches Kind!«
»Ich hätte dich mal dabei sehn mögen.«
»Oh, ich laufe da nicht hinterher! Ich warte auf das Abenteuer, das mir entgegenkommt. Einfach so, sachlich –… das ist nichts für mich. Das heißt, wenn ich …«
»Wenn du …«
»Wenn sie … Ach! nichts! Gute Nacht.«
Und er legt sich auf die andere Seite und rückt ein wenig ab von diesem Körper, dessen Wärme ihm peinlich ist. Doch Olivier, einen Augenblick später:
»Sag mal … Glaubst du, daß Barrès bei der Wahl durchkommt?«
»Wenn du keine andern Sorgen hast …«
»Ach, ich pfeif ja drauf! Sag … Hör doch 'n bißchen zu …« Und als Bernard sich ihm wieder zugewandt hat:
»Mein Bruder hat eine Mätresse.«
»Georges?«
Der Kleine, der die ganze Zeit so getan hat, als schliefe er, aber gespannten Ohres sich in der Dunkelheit kein Wort hat entgehen lassen, hält, als er seinen Namen hört, den Atem an.
»Ach, du bist verrückt! Ich spreche natürlich von Vincent.« (Dieser, älter als Olivier, hatte gerade sein medizinisches Studium beendet.)
»Hat er's dir selbst erzählt?«
»Nein. Ich hab's erfahren, ohne daß er eine Ahnung davon hat. Meine Eltern wissen nichts davon.«
»Was täten sie, wenn sie's erführen?«
»Ich weiß nicht. Mama wäre verzweifelt. Papa würde ihm vermutlich die Wahl stellen: Bruch oder Heirat.«
»Hm, diese ehrsamen Bürger begreifen natürlich nicht, daß man auch auf andere Weise anständig sein kann als sie. Wie hast du's denn rausgekriegt?«
»Hör zu. Seit einiger Zeit geht Vincent jeden Abend aus, wenn meine Eltern eingeschlafen sind. Beim Hinuntergehen macht er so wenig Lärm wie möglich, aber ich erkenne seinen Schritt auf der Straße. Vorige Woche, am Dienstag glaub ich, war es nachts so heiß, daß ich nicht im Bett bleiben konnte. Ich ging also ans Fenster, um Luft zu schöpfen. Da hörte ich, wie unten die Haustür aufging und wieder geschlossen wurde. Ich lehnte mich hinaus, und beim Schein der Laterne erkannte ich Vincent. Es war nach Mitternacht. Das war das erste Mal. Ich meine: das erstemal, daß ich ihn bemerkt habe. Aber seitdem ich darauf gekommen bin, achte ich darauf –… oh, eigentlich ohne Absicht, und höre ihn fast jede Nacht weggehen. Er hat seinen eigenen Schlüssel, und meine Eltern haben ihm das Zimmer, das früher Georges und mir gehörte, als Sprechzimmer eingerichtet, für die Zeit, wenn er erst Patienten hat. Das Zimmer liegt ja links vom Korridor, und die übrige Wohnung rechts. Er kann gehen und kommen, wann er will, ohne daß jemand etwas merkt. Gewöhnlich höre ich ihn nicht nach Hause kommen; aber vorgestern, Montag Abend, da weiß ich nicht, was ich hatte, ich dachte an die Zeitschrift, die Dhurmer gründen will, und konnte nicht einschlafen. Ich hörte Stimmen auf der Treppe und vermutete gleich, daß es Vincent sei.«
»Wie spät war es da?« fragte Bernard, nicht so sehr aus Interesse, als um seine Aufmerksamkeit zu bezeigen.
»Drei Uhr morgens, glaub ich. Ich stand auf und legte mein Ohr an die Tür. Vincent sprach mit einer Frau, oder vielmehr die Frau allein war's, die redete.«
»Woher wußtest du denn, daß es wirklich Vincent war? Es kommen doch alle, die im Hause wohnen, an deiner Tür vorbei.«
»Allerdings, und das ist oft ganz unerträglich; je später es ist, desto mehr Lärm machen sie beim Hinaufgehen, ohne jede Rücksicht darauf, daß andere Leute schlafen wollen! … Aber es konnte nur Vincent sein; ich hörte die Frau mehrmals seinen Namen aussprechen. Sie sagte zu ihm –… oh, ich kann es nicht wiederholen …«
»Na, so sag's doch.«
»Sie sagte zu ihm: ›Vincent, mein einziger Schatz, mein Geliebter, verlassen Sie mich nicht!‹«
»Sie sagte ›Sie‹ zu ihm?«
»Ja. Nicht wahr, das ist merkwürdig.«
»Erzähl weiter.«
»›Jetzt haben Sie nicht mehr das Recht, mich zu verlassen! Was soll aus mir werden? Wohin soll ich gehen? Sprechen Sie doch zu mir! Sagen Sie doch ein Wort!‹ –… Und sie nannte ihn wieder beim Namen und beschwor ihn: ›Mein Geliebter, mein Geliebter!‹, aber mit immer traurigerer und leiserer Stimme. Und dann hörte ich ein Geräusch (die beiden standen wohl auf der Treppe), ein Geräusch, wie wenn etwas hinfällt. Ich glaube, da hat sie sich vor ihm auf die Knie geworfen.«
»Und er –… er sagte kein einziges Wort?«
»Nein. Er ging, denke ich, die letzten Stufen hinauf. Ich hörte, wie die Wohnungstür aufgemacht und wieder geschlossen wurde. Die Frau ist dann noch lange dageblieben, hier ganz nah an meinem Zimmer, unmittelbar vor dieser Tür. Ich hörte sie stöhnen.«
»Du hättest ihr aufmachen sollen.«
»Das hab ich nicht gewagt. Vincent wäre wütend, wenn er erführe, daß ich über seine Geschichten Bescheid weiß. Und dann dachte ich auch, es würde ihr unangenehm sein, wenn sie so im Weinen überrascht würde. Ich weiß auch gar nicht, was ich zu ihr hätte sagen sollen.«
Bernard wandte sich seinem Freunde zu:
»Ich an deiner Stelle, ich hätte aufgemacht.«
»Ja, du, du riskierst ja immer alles. Alles, was dir einfällt, das tust du.«
»Soll das ein Vorwurf sein?«
»Oh nein, ich beneide dich darum.«
»Hast du eine Vermutung, wer diese Frau war?«
»Wie soll ich das wissen? … Gute Nacht.«
»Sag mal: bist du sicher, daß Georges uns nicht gehört hat?« flüstert Bernard seinem Freund ins Ohr. Sie lauschen einen Augenblick.
»Nein, er schläft«, erklärt Olivier mit seiner gewöhnlichen Stimme. »Außerdem hätte er nichts begriffen. Weißt du, wonach er Papa neulich gefragt hat? Warum die …«
Jetzt hält Georges sich nicht länger; er richtet sich in seinem Bett auf und fällt seinem Bruder ins Wort:
»Du Schafskopf!« schreit er ihn an. »Du hast also nicht gemerkt, daß ich es nur gesagt habe, um Papa reinzulegen!? … Übrigens hab' ich natürlich jedes Wort gehört, das ihr gesprochen habt! Was euch aber keineswegs zu erschüttern braucht, denn die Sache mit Vincent wußte ich längst. Aber nun redet ein bißchen leiser, Kinder, ich möchte schlafen. Oder haltet den Mund.«
Olivier dreht sich nach der Wand um. Bernard kann nicht einschlafen und betrachtet das Zimmer. Das Mondlicht läßt es größer erscheinen, als es ist. Diesen Raum kennt er ja eigentlich noch gar nicht. Während der Tagesstunden pflegt Olivier sich in der oberen Wohnung aufzuhalten, und dort hat ihn Bernard bei seinen nicht häufigen Besuchen angetroffen. Nun streift der Mondschein den Fuß des Bettes, in dem Georges endlich Schlaf gefunden hat; er hat fast alles gehört, was die beiden sich erzählt haben –… er hat was zum Träumen. Oberhalb von Georges' Bett hängt ein kleines, zweireihiges Bücherregal mit Schulbüchern. Auf dem Tisch neben Oliviers Bett liegt ein Buch größeren Formats. Bernard streckt den Arm aus und nimmt es, um nach dem Titel zu sehen –…: es ist von Alexis de Tocqueville. Als er's wieder hinlegen will, läßt er's fallen, und das Geräusch weckt Olivier.
»Du liest jetzt Tocqueville?«
»Dubac hat mir das Buch geliehen.«
»Und es gefällt dir?«
»Ach, es ist ziemlich öde. Aber es stehen auch gute Sachen drin.«
»Hör zu, was tust du morgen?«
Morgen, Donnerstag, haben die Gymnasiasten frei. Bernard überlegt, ob er seinen Freund vielleicht irgendwo treffen könne. Ins Gymnasium will er nicht mehr kommen, er hofft, sein Examen machen zu können, auch ohne an den letzten Kursen teilzunehmen.
»Morgen«, antwortet Olivier, »geh ich um halb zwölf auf die Gare Saint-Lazare, zum Diepper Zug, um meinen Onkel Edouard zu begrüßen, der aus England zurückkommt. Nachmittags um drei treffe ich Dhurmer im Louvre. Die andre Zeit muß ich arbeiten.«
»Deinen Onkel Edouard?«
»Ja, einen Halbbruder von Mama. Er ist seit sechs Monaten im Ausland, und ich kenne ihn eigentlich nur flüchtig; aber ich mag ihn sehr gern. Er weiß nicht, daß ich auf die Bahn komme, und ich hab Angst, ihn nicht wiederzuerkennen. Er hat gar keine Ähnlichkeit mit meiner übrigen Familie; er ist ein famoser Kerl.«
»Was tut er?«
»Er schreibt. Ich hab fast alle seine Bücher gelesen; aber er hat schon lange nichts mehr veröffentlicht.«
»Romane?«
»Ja, so eine Art Romane.«
»Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?«
»Weil du sie dann hättest lesen wollen, und wenn sie dir nicht gefallen hätten …«
»Na, was dann?«
»Das hätte mich traurig gemacht. Nun weißt du's.«
»... Warum nennst du ihn einen famosen Kerl?«
»Ja, das weiß ich selbst nicht recht. Ich sagte dir ja schon, daß ich ihn eigentlich kaum kenne. Das ist mehr so ein Vorgefühl. Ich hab die Empfindung, daß er sich für vieles interessiert, wofür meine Eltern sich nicht interessieren, und daß man mit ihm über alles sprechen kann. Kurz vor seiner Abreise war er mal bei uns zu Tisch. Während er sich mit meinem Vater unterhielt, merkte ich, daß er mich beständig ansah. Das begann mich zu genieren. Ich wollte hinausgehen –… wir waren im Eßzimmer und saßen noch beim Kaffee zusammen. Aber da fing er an, meinen Vater über mich auszufragen, und das genierte mich noch viel mehr. Plötzlich stand Papa auf, um ein Gedicht von mir zu holen, das ich gerade gemacht und ihm dummerweise zu lesen gegeben hatte.«
»Ein Gedicht von dir?«
»Ja doch. Du kennst es übrigens, dies Ding in Versen, von dem du fandest, es erinnere an Baudelaires › Balcon‹. Ich wußte, daß es nichts oder doch so gut wie nichts taugte, und war wütend darüber, daß Papa es aufs Tapet brachte. Nun, während Papa es holte, blieben Onkel Edouard und ich einen Augenblick allein im Zimmer. Ich fühlte, wie ich rot wurde. Ich wußte absolut nicht, was ich zu ihm sagen sollte, und sah anderswohin –… er übrigens auch. Er fing an, sich eine Zigarette zu drehen. Dann erhob er sich (wahrscheinlich, um mir die Situation zu erleichtern, denn ganz bestimmt hatte er mein Erröten bemerkt), ging ans Fenster und pfiff vor sich hin. Plötzlich sagte er zu mir: ›Ich bin noch viel verlegener als du.‹ Aber ich glaube, daß er das nur aus Höflichkeit gesagt hat. Endlich kam Papa zurück. Er gab Onkel Edouard mein Poem, und der machte sich daran, es zu lesen. Ich war entsetzlich nervös. Hätte er mir Komplimente gemacht, ich glaube, ich hätte mit Beleidigungen geantwortet. Papa erwartete offenbar Lobeshymnen. Da der Onkel kein Wort vernehmen ließ, fragte er: ›Nun, was hältst du davon?‹ Der Onkel antwortete lachend: ›Es geniert mich, in deiner Gegenwart mit ihm darüber zu sprechen.‹ Da mußte Papa auch lachen und ging wieder hinaus. Als wir von neuem allein waren, sagte Onkel Edouard zu mir, er finde mein Gedicht sehr schlecht. Komischerweise machte es mir Freude, ihn das sagen zu hören. Was mir aber noch weit mehr Freude machte, war, daß er plötzlich mit dem Finger auf zwei Zeilen wies, die beiden einzigen im ganzen Gedicht, die mir gefielen. Er sah mich lächelnd an und sagte: ›Die Stelle da, die ist gut.‹ War das nicht fein von ihm? Und wenn du wüßtest, in welchem Ton er das sagte! Ich hätte ihn umarmen mögen dafür! Darauf sagte er mir, mein Irrtum bestehe darin, daß ich von einer Idee ausginge und mich nicht genügend vom Gang der Worte führen ließe. Zunächst verstand ich ihn nicht ganz; aber jetzt fühle ich, was er damit gemeint hat und daß er recht hat. Ich erklär' dir das ein andermal.«
»Und ich versteh jetzt, warum du an die Bahn gehen und ihn sehen willst.«
»Oh, was ich dir erzählt habe, ist noch gar nichts, und ich weiß nicht, warum ich dir gerade das erzählt habe. Wir haben noch viel anderes zusammen gesprochen.«
»Um halb zwölf, sagst du? Woher weißt du denn, daß er mit diesem Zuge ankommt?«
»Er hat es Mama geschrieben, auf einer Postkarte, und ich hab' dann im Fahrplan nachgesehen, ob die Ankunftszeit stimmt.«
»O nein, ich muß zum Mittagessen wieder zu Haus sein. Ich hab nur gerade Zeit, ihm die Hand zu drücken. Aber das genügt mir auch … Doch nun sag mir, bevor wir einschlafen: wann sehen wir uns wieder?«
»Nicht vor einigen Tagen. Nicht, bevor ich aus dem Schlimmsten raus bin.«
»Aber sag … vielleicht kann ich dir doch irgendwie helfen?«
»Mir helfen? –… Nein. Das wäre kein ehrliches Spiel. Es käme mir vor, als ob ich mogelte. Schlaf gut.«