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Durchs offene Fenster kommt die Sonne, die schon hoch steht, und wärmt Vincents nackten Fuß. Lilian, die nicht weiß, daß Vincent nicht mehr schläft, erhebt sich von dem breiten Lager, betrachtet ihren Freund und wundert sich über seine bekümmerte Miene.
Lady Griffith liebte Vincent vielleicht; aber sie liebte an ihm den Erfolg. Vincent war groß, schön, schlank, aber er hielt sich nicht gut und machte weder im Sitzen noch im Stehen einen eleganten Eindruck. Sein Gesicht war interessant, aber seine Haartracht nicht modern. Lilian bewunderte die Klarheit und Kühnheit seines Denkens; er wußte sicherlich viel, erschien ihr aber ohne Kultur. Mit einem Gefühl, in dem Sinnlichkeit und Mütterlichkeit sich mischten, neigte sie sich über dieses große Kind, das zu formen sie entschlossen war. Sie wollte ihr Werk, ihre Skulptur aus ihm machen. Sie lehrte ihn, seine Nägel zu pflegen und das Haar so zu tragen, daß die Stirn höher und bleicher erschien. Auch hatte sie seine elenden kleinen Vorbindeknoten durch kleidsame Krawatten ersetzt. Offenbar liebte Lady Griffith Vincent; aber sie wollte nicht, daß er düster und zergrübelt sei –… ›dumpf-moralisch‹, wie sie das nannte.
Leise führt sie die Hand über Vincents Stirn, als wolle sie eine Doppellinie von ihr wegwischen, die, von den Augenbrauen ausgehend, zwei steile Risse gräbt und fast schmerzlich erscheint.
»Wenn du mir Kummer und Sorgen und Gewissensbisse hierherbringen willst, so wär's besser, du kämst nicht wieder«, murmelt sie, über ihn gebeugt.
Vincent schließt die Augen, wie vor einem allzu hellen Licht. Lilians strahlender Blick hat etwas Blendendes.
»Hier ist's wie in einer Moschee: man zieht draußen die Schuhe aus, um den Schmerz nicht mitzubringen … Wenn du glaubst, ich wüßte nicht, was du denkst!«
Vincent will ihr die Hand vor den Mund halten. Sie sträubt sich eigensinnig:
»Nein, laß mich ernsthaft mit dir reden. Ich habe viel darüber nachgedacht, was du mir neulich sagtest. Es heißt, Frauen könnten nicht nachdenken, aber du wirst sehen, das gilt nicht für alle … Was du über die Kreuzungsprodukte sagtest … und daß man nichts Berühmtes durch Mischung, wohl aber durch Zuchtwahl erhalte … Hab' ich deine Lektion gut verstanden? … Nun, heute morgen scheinst du mir ein lächerliches, völlig lebensunfähiges Zwittergeschöpf aus Lust und Gewissen ausgeheckt zu haben –… hab ich nicht recht? … Du machst dir Vorwürfe, weil du Laura verlassen hast: ich merke es an der Falte auf deiner Stirn. Wenn du zu ihr zurückwillst, so sag es, bitte, gleich und geh: dann hätte ich mich in dir getäuscht und sähe dich ohne Bedauern scheiden. Falls du aber bei mir bleiben willst, so mußt du diese Leichenbittermiene abtun. Du erinnerst mich an gewisse Engländer: je ›freier‹ sie in ihrer Weltanschauung werden, desto mehr klammern sie sich an die Moral! Es gibt kaum schlimmere Puritaner als gewisse englische Freidenker … Du hältst mich für herzlos? Darin irrst du dich. Ich begreife sehr wohl, daß du Mitleid mit Laura hast. Nur: was willst du dann hier?«
Und, da Vincent sich abwendet:
»Hör zu. Du gehst jetzt ins Badezimmer und versuchst, deine Sorgen wegzuduschen. Und ich läute nach dem Tee. Wenn du wieder da bist, will ich dir etwas auseinandersetzen, was dir noch nicht klar geworden zu sein scheint.«
Er hatte sich erhoben. Lilian, ihm nachrufend:
»Und zieh dich nicht gleich richtig an! In dem Schrank rechts vom Badeofen findest du Burnusse, Haïcks, Pyjamas … da such dir was aus.«
Zwanzig Minuten später kam Vincent wieder zum Vorschein, bekleidet mit einer Djellabah aus pistaziengrüner Seide.
»Oh, warte, warte, daß ich dich zurechtmache!« rief Lilian entzückt. Aus einer orientalischen Truhe holte sie zwei lange, violette Schals, umgürtete Vincent mit dem einen, dunkleren, und schlang ihm den andern als Turban um den Kopf.
»Meine Gedanken haben immer die Farbe meines Kostüms« (sie trug jetzt ein purpurfarbenes, mit Silber durchwirktes Pyjama). »Ich erinnere mich an einen Tag in San Franzisko, als ich noch ganz klein war. Man zog mir ein schwarzes Kleid an, unter dem Vorwand, eine Schwester meiner Mutter sei gestorben, eine alte Tante, die ich nie gesehen hatte. Da hab ich den ganzen Tag bitterlich geweint, ich fühlte mich schrecklich traurig; ich bildete mir ein, durch den Tod meiner Tante im Innersten getroffen zu sein … und das alles nur wegen meines schwarzen Kleidchens. Wenn heutzutage die Männer so viel ernster sind als die Frauen, so nur, weil sie dunkler gekleidet sind. Ich wette, daß du schon nicht mehr dieselben Ideen hast wie vorhin. Setz dich da aufs Bett, und wenn du eine Tasse Tee, zwei oder drei Sandwichs und einen Schluck Wodka genommen hast, so will ich dir eine Geschichte erzählen. Sag, wann ich anfangen soll.«
Sie hockt auf dem Bettvorleger, zwischen Vincents Beinen hingekauert wie ein Mädchen von einem ägyptischen Relief, mit dem Kinn auf den Knien. Nachdem sie gegessen und getrunken, hebt sie an:
»Ich war auf der Bourgogne, weißt du, an dem Tage, wo sie Schiffbruch litt. Damals war ich siebzehn Jahre alt. (Damit verrate ich dir, wie alt ich heute bin.) Ich war eine vorzügliche Schwimmerin. Um dir zu beweisen, daß mein Sinn nicht ganz verhärtet ist, will ich dir sagen, daß nur mein erster Gedanke war, mich selbst zu retten, mein zweiter jedoch, irgend jemand anderes zu retten. Vielleicht war das sogar mein erster Gedanke; vielleicht habe ich auch an gar nichts gedacht –… jedenfalls ist mir nichts so unerträglich wie Menschen, die in solchen Augenblicken nur an sich selbst denken. Doch: Frauen, die Schreie ausstoßen –… die sind noch schlimmer. Man ließ ein erstes Rettungsboot hinab, das hauptsächlich mit Frauen und Kindern besetzt war. Einige von diesen Frauen stießen ein solches Geheul aus, daß man die Besinnung hätte verlieren können. Die Leute manövrierten so ungeschickt, daß das Boot, anstatt sich flach aufs Wasser zu legen, mit der Spitze eintauchte und, noch bevor es vollgelaufen war, alle seine Insassen auskippte. Das vollzog sich beim Licht von Fackeln, Signalen und Scheinwerfern. Du kannst dir denken, wie unheimlich es war. Die Wellen gingen ziemlich hoch, und alles, was nicht im grellen Lichtschein lag, verschwand auf der andern Seite des Wasserberges in Nacht und Finsternis. Niemals habe ich intensivere Minuten erlebt; aber zum Nachdenken war ich so unfähig wie ein Neufundländer, der sich ins Wasser stürzt. Ich erinnere mich nicht mehr recht, wie alles vor sich ging. Ich weiß nur noch, daß ich in dem Rettungsboot ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren bemerkt hatte, ein reizendes Kind, und im selben Moment, wo ich das Boot umschlagen sah, beschloß ich, das Kind zu retten. Es war zuerst mit seiner Mutter zusammen; aber die konnte nicht gut schwimmen und war außerdem, wie immer in solchen Fällen, durch ihre Röcke gehindert. Was mich betrifft, so muß ich mir die Kleider unbewußt vom Leibe gerissen haben. Man rief mir zu, ich solle im nächsten Boot Platz nehmen. Vermutlich bin ich auch eingestiegen, und dann bin ich wohl von diesem Boot aus ins Meer gesprungen. Ich weiß nur noch, daß ich, während das Kind mich fest umklammert hielt, ziemlich lange geschwommen bin. Die Kleine war in Todesangst und preßte mir die Kehle so krampfhaft zu, daß mir der Atem ausging. Glücklicherweise hatte man uns vom Boot aus beobachtet und auf uns gewartet, oder man kam auf uns zugerudert. –… Aber nicht deswegen erzähle ich dir diese Geschichte. Die Szene, an die ich mich am schärfsten erinnere und die mir stets unvergeßlich bleiben wird, war folgende: In unserem Rettungsboot befanden sich, nachdem noch mehrere verzweifelte Schwimmer –… wie auch ich selbst –… aufgefischt worden waren, eng zusammengepfercht ungefähr vierzig Menschen. Das Wasser ging fast bis an den Bootsrand. Ich saß hinten und hielt das kleine Mädchen, das ich gerettet hatte, dicht an mich gepreßt, um es zu wärmen, und auch, um es nicht sehen zu lassen, was ich meinerseits mit ansehen mußte … Da saßen zwei Matrosen, der eine mit einem Beil, der andere mit einem Küchenmesser, und weißt du, was sie taten? … Mit diesen Instrumenten hackten sie die Finger und Handgelenke einiger Schwimmer ab, die, sich an den Stricken festhaltend, in unser Boot klettern wollten. Der eine dieser beiden Matrosen (der andere war ein Neger) wandte sich zu mir, die ich zitterte vor Kälte und Entsetzen, und sagte: ›Kommt noch ein einziger zu uns rein, sind wir alle verloren –… das Boot ist voll.‹ Und er fügte hinzu, bei allen Schiffbrüchen sei man gezwungen, so zu handeln; aber man spreche natürlich nicht davon.
Da bin ich, glaube ich, ohnmächtig geworden. Jedenfalls erinnere ich mich an nichts mehr, wie man nach übergroßem Lärm ja auch einige Zeit taub bleibt. Als ich dann, an Bord des Dampfers, der uns aufgenommen hatte, wieder zu mir kam, da wurde mir klar, daß ich nicht mehr war (und nie wieder sein könnte), was ich gewesen war: das sentimentale junge Mädchen vor der Katastrophe; es wurde mir klar, daß ein Teil meines Wesens mit der Bourgogne untergegangen war und daß ich in Zukunft einer Menge schwächlicher Gefühle die Finger und Handgelenke abhacken würde, damit sie nicht zu mir ins Boot stiegen und mein Herz zum Sinken brächten.«
Sie sah Vincent von der Seite an und reckte sich:
»Eine empfehlenswerte Praxis.«
Das Haar war ihr aufgegangen und fiel über die Schultern. Sie erhob sich, trat vor den Toilettenspiegel und brachte, während sie weitersprach, ihre Frisur in Ordnung.
»Als ich kurze Zeit darauf von Amerika Abschied nahm, war es mir, als wäre ich das goldene Vließ und ginge auf die Suche nach dem Eroberer. Gewiß habe ich mich manchmal getäuscht, habe manchen Irrtum begangen –… und begehe vielleicht jetzt wieder einen, indem ich dir dies alles sage. Aber bilde dir, bitte, nicht etwa ein, du hättest mich erobert, weil ich deine Geliebte geworden bin. Eines laß dir gesagt sein: ich hasse die Mittelmäßigen, und lieben kann ich nur den Siegreichen. Wenn du mit mir sein willst, so nur, damit ich dir helfe zum Siege! Falls du aber von mir bedauert, getröstet, in Schlaf gelullt sein möchtest, dann will ich dir lieber gleich sagen, mein guter Vincent: nicht ich bin die rechte Frau für dich, sondern deine Laura.«
Sie sagte das, ohne sich umzuwenden, immer noch mit der eigenwilligen Haarflut beschäftigt; aber Vincent begegnete ihrem Blick im Spiegel.
»Erlaube, daß ich dir erst heute abend antworte«, sagte er und erhob sich, um seine orientalische Gewandung gegen den Straßenanzug zu vertauschen. »Ich muß schnell nach Haus, um meinen Bruder Olivier noch zu treffen, ich hab' ihm was Dringendes mitzuteilen.«
Er sagte das wie entschuldigend und um seinen Aufbruch zu erklären. Doch wie er sich Lilian näherte, wandte sich diese um, lächelnd und so verführerisch, daß er zögerte:
»–… Oder ich schreib ihm ein paar Worte auf, die er dann mittags findet.«
»Ihr beiden habt einander viel zu sagen?«
»Fast gar nichts. Nein, es ist eine Einladung für heute nachmittag, die ich ihm bestellen soll.«
»Von Robert … Oh, I see …«, sagte sie mit einem seltsamen Lächeln. »Über Robert müssen wir auch noch sprechen … Also geh rasch! Und sei um sechs zurück, denn um sieben holt uns sein Auto ab, wir wollen im Bois dinieren.«
Im Gehen überläßt sich Vincent seinen Gedanken. Er macht die Erfahrung, daß aus dem Sattwerden der Begierden, die Lust begleitend und sich hinter ihr versteckend, eine Art Verzweiflung erwachsen kann.