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III

Obwohl sich alles leidlich anzulassen schien und jeder »sein Bestes tat«, ging die Sache zwischen Onkel Edouard und Bernard doch nur zur Hälfte gut. Auch Laura fühlte sich nicht eben behaglich. Und wie hätte sie es auch können? Die Umstände drängten ihr eine Rolle auf, für die sie keineswegs geschaffen war: die Ehrbarkeit ihres Charakters war ihr durchaus im Wege. Wie alle diese liebenden und anschmiegsamen Geschöpfe, die vorzügliche Ehefrauen abgeben, brauchte sie zu ihrer Selbstbehauptung eine konventionelle Luft, äußerfalb deren sie jegliche Kraft einbüßte. Ihre Situation gegenüber Edouard kam ihr von Tag zu Tag unnatürlicher vor. Worunter sie besonders litt und was ihr, je mehr sie darüber nachdachte, immer unerträglicher wurde, war, daß sie völlig auf Kosten ihres Beschützers lebte; oder, besser: daß sie ihm keinerlei Gegenleistung bot; oder, noch genauer: daß Edouard keinerlei Gegenleistung von ihr verlangte, während sie sich doch bereit gefühlt hätte, ihm alles zu gewähren. »Wohltaten« –… sagt Montaigne, frei nach Tacitus –… »sind nur dann angenehm, wenn man sich für sie erkenntlich zeigen kann.« Das gilt freilich nur für edle Seelen; aber Laura war unbedingt eine solche. Während sie hätte geben mögen, mußte sie ohne Unterlaß nehmen, und das reizte sie gegen Edouard auf. Außerdem hatte sie, Früheres sich vergegenwärtigend, die Empfindung, als ob Edouard sie betrogen habe, indem er einen Liebesdrang, der noch längst nicht erloschen war, in ihr entfacht und dann, achselzuckend, ohne Verwendung gelassen habe. Lag darin nicht die geheime Ursache aller ihrer Verwirrungen, ihrer Heirat mit Douviers, zu der sie sich herbeigelassen, zu der Edouard sie hingeleitet hatte; und dann, so bald darauf, ihres Erliegens vor den Lockungen des südlichen Frühlings? Denn noch in den Armen Vincents –… das mußte sie sich nunmehr eingestehen –… war es Edouard gewesen, nach dem sie sich gesehnt hatte. Und da sie sich die Zurückhaltung dessen, den sie liebte, nicht zu erklären vermochte, so schob sie sich selbst die Verantwortung zu und kam zu dem Schlusse, daß sie, wäre sie nur schöner oder mutiger gewesen, über diese Zurückhaltung hätte triumphieren können; und da es ihr nicht gelang, Edouard zu hassen, so beschuldigte sie sich selbst, sprach sich allen Reiz und Wert ab, ja, leistete innerlich auf jegliche Glücksfähigkeit und Daseinsberechtigung Verzicht.

Hinzugefügt sei noch: der etwas zigeunerhafte Anstrich des Kampierens im Hotel, wie er sich aus Beschaffenheit und Lage der beiden Zimmer ergab und wie er ihren Gefährten vielleicht amüsant erscheinen mochte, verletzte Lauras Zartgefühl des öftern. Und aus dieser kaum noch haltbaren Situation sah sie keinen Ausweg.

Etliche Ermutigung und Freude schöpfte Laura nur daraus, daß sie sich gegenüber Bernard immer neue Mutter- und Schwesternpflichten ausdachte. Sie war keineswegs unempfänglich für den Kultus, den der liebenswürdige junge Mann mit ihr trieb; und die Anbetung, die ihr von dieser Seite zuteil wurde, bewahrte sie vielleicht vor den letzten Stadien eines Überdrusses, einer Selbstverachtung, wie sie gerade schwankende Naturen zu den äußersten Entschlüssen führen können. Jeden Vormittag verbrachte Bernard, falls nicht ein Ausflug in die Berge ihn vor Tagesanbruch entführte (er stand gern früh auf), zwei volle Stunden bei ihr. Sie beschäftigten sich mit englischer Lektüre. Das Examen, das Bernard im Oktober machen sollte, bot einen bequemen Vorwand.

Daß seine Stellung als Edouards Sekretär ihm viel Zeit geraubt hätte, konnte man beim besten Willen nicht behaupten. Seine Funktionen waren ganz ungenügend präzisiert. Als Bernard diesen Posten übernahm, sah er sich im Geiste schon an einem großen Schreibtisch sitzen, an dem er allerhand Manuskripte ins reine zu bringen oder Edouards Diktate entgegenzunehmen hätte. Aber Edouard diktierte gar nichts; die Manuskripte (falls überhaupt welche vorhanden waren) blieben im Koffer, und zu jeder Tagesstunde durfte Bernard sich seiner Freiheit uneingeschränkt erfreuen. Doch da es nur an Edouard gelegen hätte, einen Eifer, der sich recht gern betätigen wollte, besser auszunutzen, so ließ Bernard es sich nicht übertrieben zu Herzen gehen, daß er so unbeschäftigt blieb und den angenehmen Aufenthalt, den Edouards Freigebigkeit ihm bot, in keiner Weise »verdiente«. Er war fest entschlossen, sich durch bängliche Zweifel nicht beirren zu lassen. Er glaubte, wenn nicht an die Vorsehung, so doch an seinen Stern und wie jeder Atmende sein Quantum Luft beanspruchen darf –… an sein Recht auf ein Quantum Glück. Edouard war dieses Glückes Spender, wie, nach Bossuet, der Kanzelredner ein Spender göttlicher Weisheit ist. Übrigens sagte sich Bernard, daß der gegenwärtige Zustand der Dinge kaum von langer Dauer sein werde; und er glaubte durchaus, eines Tages seine Schuld abtragen zu können, sowie nur erst die Fülle seines inneren Reichtums sich in klingende Münze umgewandelt haben werde. Was ihn hingegen ernstlich verdroß, war, daß Edouard niemals an gewisse Gaben appellierte, die er –… Bernard –… ebenso deutlich in sich fühlte, wie er sie bei Edouard vermißte. »Er weiß mich nicht zu verwenden«, sagte Bernard zu sich. Und, eine aufkeimende Bitterkeit schnell bezwingend, fügte er hinzu: »Dumm genug von ihm!«

Aber woher stammte eigentlich das Mißbehagen zwischen Edouard und Bernard? Bernard scheint mir zu jenen Naturen zu gehören, die ihren geistigen Halt nur in der Opposition finden. Er konnte es nicht ertragen, daß Edouard Einfluß auf ihn zu gewinnen begann, und so nahm er bald ein trotziges, widerspenstiges Wesen an. Edouard, der gar nicht daran dachte, ihn irgendwie beugen zu wollen, ward über diese hartnäckige Verteidigungs- und Abwehrstellung seines Sekretärs allmählich ganz verzweifelt. Und schließlich vermochte er sich der Überlegung nicht mehr zu entziehen, daß er vielleicht eine eminente Ungeschicklichkeit begangen habe, indem er zwei Geschöpfe mit auf Reisen nahm, die nur darauf gewartet zu haben schienen, sich gegen ihn zu verbünden. Unfähig, Lauras geheimes Fühlen zu erkennen, nahm er ihre scheue Einsilbigkeit für Kälte. Er wäre äußerst betreten gewesen, wenn er hätte klar sehen können. Und das begriff Laura. Und ihre verschmähte Liebe verzehrte sich nur noch mehr im Verheimlichen und Entsagen.

Die Teestunde vereinigte sie gewöhnlich alle drei im großen Zimmer. Häufig (besonders wenn Boris und Bronja zusammen ausgegangen waren) fand sich, auf ihre Einladung, auch Madame Sophroniska zu ihnen. Die Kinder genossen, so jung sie waren, viel Freiheit. Madame Sophroniska setzte volles Vertrauen in ihre Bronja, die es denn auch, als Hüterin des ihr gegenüber besonders fügsamen Boris, niemals an der nötigen Umsicht fehlen ließ. Das Land war sicher. Natürlich durften die Kinder sich nicht bis in die Berge wagen, ja, nicht einmal auf den Felsen beim Hotel herumklettern. Eines Tages (die Kinder hatten die Erlaubnis erhalten, bis an den Fuß des Gletschers zu gehen, unter der Bedingung, sich auf keinen Fall von der Landstraße zu entfernen) –… an diesem Nachmittage faßte sich, beim Tee, Madame Sophroniska, von Bernard und Laura ermutigt, ein Herz und bat Edouard, falls es ihm nicht unangenehm wäre, ihnen etwas von seinem in der Entstehung begriffenen Roman mitzuteilen.

»Unangenehm? Durchaus nicht! Aber ich kann Ihnen den Inhalt nicht erzählen.«

Jedoch schien er fast böse zu werden, als Laura (eine offenbar ungeschickte Frage) sich erkundigte, »womit sein neues Buch denn Ähnlichkeit haben werde«.

»Mit nichts!« schrie er. Und fuhr, als habe er auf diese Gelegenheit nur gewartet, aufgeregt fort: »Warum sollte ich noch einmal machen, was andere schon gemacht haben, oder was ich selbst schon gemacht habe, oder was andere ebensogut machen könnten wie ich?«

Kaum hatte Edouard dies gesagt, als ihm zum Bewußtsein kam, wie unpassend, übertrieben und abgeschmackt seine Worte wirken konnten. Auf ihn selbst jedenfalls wirkten sie leider so. Und er fürchtete, daß sie auch dem Urteile Bernards so erscheinen müßten.

Edouard war sehr reizbar. Wenn man zu ihm über seine Arbeit sprach (oder wenn man ihn gar verleitete, sich selbst darüber zu äußern), so schien er plötzlich alle Besinnung zu verlieren.

Gewiß, er verachtete die herkömmliche Selbstgefälligkeit der Literaten, er unterdrückte die seinige nach bestem Vermögen; aber er suchte gern einen Halt für seine Bescheidenheit in der Achtung der andern, fehlte es einmal an dieser Achtung, so war es auch mit der Bescheidenheit schnell vorbei. Nun, an Bernards guter Meinung war ihm außerordentlich viel gelegen. Um diese zu gewinnen, gab er also seinem Pegasus die Sporen, sowie nur Bernard in der Nähe war? Das wäre gerade das sicherste Mittel gewesen, um dieser guten Meinung ein für allemal verlustig zu gehen! Das fühlte Edouard durchaus und sagte sich's immer wieder. Doch allen Vorsätzen zum Trotz handelte er, sobald Bernard anwesend war, ganz anders, als er gewollt hätte, und sprach auf eine Weise, die er schon während des Sprechens als lächerlich empfand (und die es in der Tat war). Woraus man hätte schließen können, daß er ihn liebte? … Aber nein; das glaube ich nicht. Um erkünstelte Manieren von uns zu erreichen, genügt, wie große Liebe, auch schon ein wenig Eitelkeit.

»Von allen literarischen Gattungen«, so ließ Edouard sich vernehmen, »bietet der Roman die freieste, am wenigsten durch Regeln eingeengte Form. Ist nun vielleicht gerade das –… oder am Ende gar die Furcht vor dieser Freiheit selbst (denn die Künstler, so sehr sie nach Freiheit gieren, wissen meistens nichts mit ihr anzufangen) –… der Grund, warum der Roman sich stets so ängstlich an die Wirklichkeit geklammert hat? Ich spreche nicht nur vom französischen Roman, auch der englische, selbst der russische Roman, so zwanglos er sich gebärdet, dient der Realität. Sein ganzes Streben geht ja auf eine immer größere Annäherung an das Natürliche. Doch niemals hat der Roman jene gewaltige Verwitterung der Konturen gekannt, von der Nietzsche spricht, niemals jene gewollte Abkehr vom Leben, die dem griechischen Drama oder den Tragödien des französischen siebzehnten Jahrhunderts ihren erhabenen Stil verliehen haben! Gibt es etwas Vollkommeneres, etwas Seelischeres als diese Schöpfungen? Menschlich allerdings sind sie nur in ihrer Tiefe: sie wollen es nicht scheinen, und noch weniger wollen sie realistisch sein. Denn es sind Werke der Kunst.«

Edouard hatte sich erhoben. Um nicht den Anschein zu erwecken, als gefalle er sich darin, eine akademische Vorlesung zu halten, ging er, während des Sprechens hin und her, goß Tee ein, träufelte sich Zitronensaft in die Tasse und fuhr indessen fort:

»Weil Balzac ein Genie war, und weil jedes Genie eine endgültige, maßgebende Lösung seiner Kunstform zu bringen scheint, so hat man proklamiert, das Wesen des Romans bestehe darin, ›den Zivilstandsregistern Konkurrenz zu machen‹. Gewiß, Balzac hatte sein Werk errichtet. Doch niemals hat er den Anspruch erhoben, dem Roman damit unabänderliche Gesetze gegeben zu haben. Das ergibt sich aus seinem Artikel über Stendhal mit hinreichender Deutlichkeit. Den Zivilstandsregistern Konkurrenz machen! Als gäbe es nicht schon genug aufgeblasene Hohlköpfe auf Erden! Was habe ich mit den Zivilstandsregistern der Staatsschreibereien zu tun? Der Staat: das bin ich, der Künstler! Und zivil oder nicht: mein Werk zieht andere Register auf und macht keinem erdenklichen Stande Konkurrenz!«

Edouard hatte sich in eine vielleicht etwas künstliche Hitze hineingeredet. Jetzt nahm er seinen Platz am Teetisch wieder ein. Auf Bernard schien er gar nicht zu achten. In Wirklichkeit aber sprach er nur für ihn. Wäre er mit ihm allein gewesen, so hätte er nichts zu sagen gewußt: er war den beiden Damen dankbar für ihre Anwesenheit.

»Manchmal glaube ich, daß ich in der gesamten Literatur nichts so sehr bewundere wie zum Beispiel bei Racine die Auseinandersetzung zwischen Mithridates und seinen Söhnen. Gewiß haben niemals irgendwelche Väter und Söhne so miteinander sprechen können –… und trotzdem (oder: gerade um deswillen) werden alle Väter, alle Söhne sich in dieser Szene wiedererkennen. Wer lokalisiert und spezifiziert, der engt ein. Allerdings gibt es psychologische Wahrheiten nur im Einzelfall, doch die Kunst formt sie ins Allgemeine. Und das ganze Problem besteht darin, das Allgemeine durch das Besondere auszudrücken, durch das Besondere das Allgemeine aussprechen zu lassen. Darf ich mir meine Pfeife anzünden?«

»Aber bitte, gern«, sagte Sophroniska.

»Nun, ich möchte einen Roman, der so wirklich und zugleich so wirklichkeitsfern, so besonders und zugleich so allgemein, so menschlich und zugleich so erdichtet wäre wie Athalie, Tartuffe oder Cinna

»Und … das Thema dieses Romans?«

»Er hat keins«, antwortete Edouard brüsk. »Ja, das ist vielleicht das Merkwürdigste: mein Roman hat kein Thema. Oh, ich weiß wohl, es klingt töricht, was ich da sage. Also präzisieren wir: es handelt sich in ihm nicht um ein einziges, spezielles Thema … Einen ›Ausschnitt aus dem Leben‹ wollte der naturalistische Roman geben. Der große Fehler dieser Schule bestand darin, diese programmatische Schnitte vom Brote der Realität in einer stets gleichbleibenden Dimension, nämlich der Zeit nach, der Länge nach, schneiden zu wollen. Warum nicht auch einmal der Breite nach? Oder der Tiefe nach? Was mich betrifft, ich möchte überhaupt nicht schneiden! Verstehen Sie mich: ich möchte eine Totalität von Erscheinungen in meinen Roman eintreten lassen; nichts soll weggeschnitten, der andrängenden Fülle nirgends Einhalt geboten werden! Seit mehr als einem Jahre arbeite ich daran, und alles, was mir seitdem begegnet ist, alles, was ich sehe und erkenne, alles, was das Leben der andern und mein eigenes mich lehrt: das alles möchte ich in dieses Buch hineingießen …«

»Und all das mit der Tendenz zu einer höheren Bedeutsamkeit?« fragte Sophroniska mit scheinbar liebenswürdigstem, aber vielleicht doch etwas ironisch gefärbtem Interesse. Laura vermochte ein Lächeln kaum zu unterdrücken. Edouard antwortete achselzuckend:

»Nicht eigentlich so. Was mir vorschwebt, ist, einerseits die Realität zu schildern und andererseits jene formende Anspannung darzustellen, mittels welcher sie universelle Geltung gewinnt, jene Stilisierung, von der ich vorhin gesprochen habe.«

»Mein armer Freund, dabei werden Ihre Leser sterben vor Langeweile!« rief Laura aus. Sie konnte ihr Lächeln nicht mehr verbergen und zog es vor, richtig zu lachen.

»Keineswegs. –… Um diesen Zweck zu erreichen, erfinde ich die Person eines Romanschriftstellers, den ich als Zentralfigur des Buches hinstelle. Und das Thema des Romans, wenn Sie wollen, besteht nun in dem Kampfe zwischen dem, was die Wirklichkeit diesem Romancier bietet, und dem, was er seinerseits daraus zu machen bestrebt ist.«

»Oh, ich glaube zu verstehen«, sagte Sophroniska höflich, obwohl Lauras Gelächter sie beinahe angesteckt hätte. »Das könnte vielleicht, als Idee, ganz nett sein. Aber, wissen Sie, es ist doch immer sehr bedenklich, in einem Roman Literaten auftreten zu lassen! Diese Leute infizieren das Publikum mit ihrer eigenen Unbehaglichkeit. Es scheint unmöglich zu sein, ihnen etwas anderes als Flachheiten in den Mund zu legen, und sie verdünnen alles, was mit ihnen in Berührung kommt, zu nebelhafter Abstraktion.«

»Und außerdem sehe ich ganz deutlich, wie es kommen wird«, sagte Laura: »in der Gestalt dieses Romanschreibers müssen Sie notgedrungen sich selbst darstellen!«

Seit einiger Zeit hatte sie, wenn sie zu Edouard sprach, einen spöttischen Ton angenommen, über den sie sich selbst zu wundern schien und dem Edouard um so wehrloser gegenüberstand, als er in Bernards boshaftem Blick eine Gutheißung dieses Spottes zu entdecken glaubte. Edouard beteuerte:

»Nein, wirklich nicht! Ich werde mich bemühen, diese Figur recht unsympathisch zu machen.«

Laura war im Zuge:

»Ja, eben: jedermann wird Sie darin erkennen!« rief sie mit einem so aufrichtigen Lachen, daß die drei andern mit einstimmen mußten.

»Und der Plan dieses Buches steht bereits fest?« fragte, mit einem Versuch, wieder ernst zu werden, Sophroniska.

»Natürlich nicht!«

»Wie das: ›natürlich nicht‹?«

»Sie müssen doch einsehen, daß bei einem solchen Buche ein Plan ganz undenkbar wäre! Alles würde ja falsch werden, wenn ich irgend etwas von vornherein festlegen wollte! Ich warte, daß die Wirklichkeit mir einen Plan diktiere.«

»Aber ich dachte, Sie wollten sich von der Wirklichkeit entfernen?«

»Mein Romanschreiber möchte sich von ihr entfernen; ich aber stoße ihn immer wieder darauf zurück. Und dieses wird das eigentliche Thema des Romans sein: der Widerstreit zwischen den Tatsachen, die von der Realität vorgeschlagen werden, und der idealen Realität.«

Das Unlogische dieser Darlegungen war unverkennbar, ja, es sprang auf eine geradezu peinliche Art in die Augen. Und klar zu Tage trat, daß Edouard zwei unvereinbare Absichten in seinem Hirne barg und sich damit zermarterte, sie in Einklang bringen zu wollen.

»Und es ist schon weit gediehen?« fragte Sophroniska höflich.

»Das kommt darauf an, was Sie darunter verstehen! Von dem Buche selbst habe ich noch keine Zeile geschrieben. Aber ich habe schon sehr viel daran gearbeitet. Ich denke beständig daran. Ich arbeite an diesem Buch auf eine ziemlich sonderbare Manier, die ich Ihnen verraten will: in einem Heft notiere ich mir täglich den Stand des Romans in meinem Geiste … Es ist eine Art professionelles Tagebuch, das ich führe, so, wie eine Mutter das Tagebuch ihres kleinen Kindes führen mag … Das bedeutet, daß ich mich nicht damit begnüge, jede Schwierigkeit, je nachdem wie sie auftaucht, zu lösen (und jedes Kunstwerk ist nur die Summe oder das Produkt der Lösungen einer Menge kleiner, aufeinanderfolgender Schwierigkeiten), sondern daß ich jede einzelne Schwierigkeit in ihrem besonderen Wesen ausführlich darstelle und analysiere. Dieses Heft enthält somit, wenn Sie wollen, die fortlaufende Kritik meines Romans; oder besser, des Romans im allgemeinen. Stellen Sie sich vor, wie interessant es für uns sein müßte, wenn Dickens oder Balzac solche Tagebücher geführt hätten; oder wenn Tagebücher der Education sentimentale oder der Brüder Karamasow vorhanden wären: Entstehungsgeschichten dieser Werke, Notizkalender ihres Reifwerdens! Das müßte aufregend interessant sein …, interessanter als die Werke selbst …«

Edouard hoffte im stillen, man werde ihn bitten, seine Notizblätter vorzulesen. Aber niemand von den dreien bekundete die geringste Neugier. Statt dessen äußerte Laura, in fast schmerzlichem Tone:

»Mein armer Freund, ich sehe schon, daß Sie diesen Roman nie schreiben werden!«

»Nun, ich will Ihnen etwas sagen«, erwiderte Edouard heftig, »das ist mir egal! Falls ich nicht dazu komme, es zu schreiben, dies Buch, so wird es deswegen sein, weil die Geschichte des Buches mich mehr interessiert haben wird als das Buch selbst; weil sie seinen Platz eingenommen haben wird; –… und das sollte mir nur lieb sein!«

»Fürchten Sie denn nicht, daß Sie sich, bei solcher Abwendung vom wirklichen Leben, in die Eisregionen der Abstraktion verlieren und einen Roman zustandebringen werden nicht realer Wesen, sondern erklügelter Begriffe?« fragte Sophroniska etwas bekümmert.

»Und wenn dem so wäre!« rief Edouard mit verdoppeltem Ungestüm. »Sollen wir den Ideen-Roman in Bausch und Bogen verdammen, weil einige Tölpel sich an dieser Gattung die Finger verbrannt haben? Unter der Firma des Ideen-Romans hat man uns bisher nur erbärmliche Thesen-Romane serviert! … Aber darum handelt es sich natürlich nicht. Ideen …, ja, Ideen, ich gestehe es, interessieren mich mehr als Menschen; interessieren mich über alles. Ideen leben, kämpfen und sterben, ganz wie die Menschen. Freilich kann man sagen, daß wir sie nur durch die Menschen kennenlernen, gleicherweise wie man das Wehen des Windes an der Bewegung des Schilfrohrs erkennt, das er niederbeugt; aber der Wind ist von größerer Bedeutung als das Schilf.«

»Der Wind existiert unabhängig vom Schilf«, warf Bernard ein.

Diese längst erwartete Intervention ließ Edouard auffahren: »Ja, ich weiß –…, und die Ideen existieren nur durch die Menschen. Aber gerade darin liegt das Pathetische: sie leben auf Kosten der Menschen, durch die sie existieren.«

Bernard hatte alles aufmerksam mit angehört. Doch in seinem Innern erhoben sich tausend Zweifel und Einwände, und fast wäre ihm Edouard als ein widerspruchsvoller Phantast und Spintisierer erschienen. Immerhin, in den letzten Momenten hatte Edouards Beredsamkeit ihn mitgerissen. Unter dem Hauche dieser Beredsamkeit fühlte er seinen widerstrebenden Sinn sich beugen. »Aber« –… dachte er schnell –… »mein Sinn richtet sich sofort wieder auf, wie das Schilf, wenn der Wind vorbei ist!« Und er rief sich die Schulweisheit zurück: ›Leidenschaften, nicht Ideen lenken den Menschen‹. Inzwischen fuhr Edouard fort:

»Was ich machen möchte, verstehen Sie, wäre so etwas wie die Kunst der Fuge. Ich sehe nicht ein, warum, was in der Musik möglich gewesen ist, in der Literatur nicht möglich sein sollte!«

Darauf erwiderte Sophroniska, die Musik sei eine mathematische Kunst, und überdies habe Bach, alles Pathos, alles Menschliche aus diesen Kompositionen verbannend und nur noch die Zahl gelten lassend, höchstens das abstrakte Meisterwerk der Langenweile geschaffen, eine Art astronomischen Tempel, in dem sich nur wenige Adepten zurechtfänden. Umsonst beteuerte Edouard, er finde diesen Tempel bewundernswert und sehe in ihm Ziel und Gipfel allen Schaffens von Johann Sebastian Bach. –… Jetzt war es Laura, die ihm opponierte:

»Inzwischen ist die Menschheit von der Kunst der Fuge geheilt worden, und hoffentlich dauernd! Die menschliche Seele, die in jenem Tempel keine Zuflucht mehr fand, hat sich andere Wohnstätten gesucht.«

Das Gespräch verlor sich in Spitzfindigkeiten. Bernard, der bis jetzt geschwiegen hatte, begann auf seinem Stuhle ungeduldig zu werden, und schließlich konnte er sich nicht länger halten. Mit jener äußersten, ja übertriebenen Ehrerbietung, die er jedesmal, wenn er das Wort an Edouard richtete, zur Schau trug, der er jedoch einen Unterton des Spielerischen und Fragwürdigen beizumischen liebte, sagte er:

»Rechnen Sie mir's, bitte, nicht übel an, mein Herr, daß ich –… infolge einer Indiskretion, über die Sie, glaube ich, gütigerweise den Schleier der Vergessenheit gebreitet haben –… den Titel Ihres Buches kenne. Dieser Titel schien aber doch auf eine Handlung hinzudeuten …?«

»Oh, sagen Sie uns den Titel!« bat Laura.

»Wenn Sie es wünschen, liebe Freundin … Aber ich sage Ihnen gleich dabei, daß ich ihn vielleicht noch ändern werde. Ich fürchte, er ist ein bißchen trügerisch … Na, sagen Sie unsern Freundinnen den Titel, Bernard!«

»Sie erlauben es? … Die Falschmünzer«, sagte Bernard. »Doch nun sagen Sie uns Ihrerseits: wer sind diese Falschmünzer?«

»Davon weiß ich nichts«, antwortete Edouard.

Bernard und Laura sahen sich an. Dann sahen beide Sophroniska an. Man hörte einen langen Seufzer. Ich glaube, es war Laura, die ihn ausstieß.

Die Sache verhielt sich so, daß Edouard, bei dem Begriff »Falschmünzer«, zunächst an gewisse Kollegen gedacht hatte, und zwar in erster Linie an den Vicomte de Passavant. Doch alsbald hatte sich ihm der Sinn des Wortes beträchtlich erweitert; und je nachdem der geistige Wind von Rom oder anderswoher blies, wurden seine Helden abwechselnd Priester oder Freimaurer. Sein Hirn, nur einen Augenblick sich selbst überlassen, geriet unaufhaltsam ins Relative, ins Abstrakte. Ideen über Wechselkurse, Geldentwertung, Inflation überfluteten allmählich sein Buch, wie Theorien über das Bekleidungswesen den Sartor resartus von Carlyle –… und diese Ideen usurpierten den Platz der Personen. Da Edouard hiervon nicht sprechen konnte, so schwieg er auf die ungeschickteste Art, und sein Schweigen, das ein Geständnis der Armut zu sein schien, begann den drei andern peinlich zu werden.

»Haben Sie schon einmal falsches Geld in Händen gehabt?« fragte er endlich.

»Ja«, sagte Bernard. Aber das »nein« der beiden Frauen übertönte seine Stimme.

»Nun, so denken Sie sich ein goldenes Zehnfrankenstück, das falsch wäre. In Wirklichkeit ist es nur zwei Sous wert. Aber solange man nicht merkt, daß es gefälscht ist, wird es überall für zehn Franken angenommen werden. Gehe ich also von der Idee aus, daß …«

»Aber warum von einer Idee ausgehen?« unterbrach ihn Bernard ungeduldig. »Wenn Sie von einer anschaulichen Tatsache ausgingen, so käme die Idee von selbst und erfüllte den Tatbestand mit ihrem Sinn. Wenn ich Falschmünzer zu schreiben hätte, ich finge damit an, das falsche Goldstück zu präsentieren, dieses kleine Goldstück, von dem Sie eben sprachen … und das hier zur Stelle ist!«

Mit diesen Worten zog er ein goldenes Zehnfrankenstück aus seiner Westentasche hervor und warf es auf den Tisch.

»Hören Sie, wie gut es klingt? Fast genau so wie die echten Goldmünzen! Man möchte darauf schwören, daß es aus Gold wäre! Ich bin heute morgen selbst darauf hereingefallen, und auch der Krämer, der es mir gegeben hat, hatte sich täuschen lassen, wie er sagt. Es hat nicht ganz das Gewicht, glaube ich; aber es hat den Glanz und annähernd den Ton eines echten Stückes; seine Hülle ist aus Gold, so daß es immerhin etwas mehr wert ist als zwei Sous; aber es ist aus Quarz. Im Gebrauch würde es durchscheinend werden … Nein, reiben Sie es nicht so; Sie machen es mir noch schlecht! Man kann ja schon beinahe hindurchsehen.«

Edouard hatte das Goldstück genommen und betrachtete es mit neugierigem Interesse.

»Aber von wem hat es denn der Krämer bekommen?«

»Das weiß er selbst nicht mehr. Er meint, es müsse sich schon mehrere Tage in seiner Ladenkasse befunden haben. Es machte ihm Spaß, es mir beim Herausgeben hinzuschieben, um zu sehen, ob ich wohl darauf hineinfiele. Und wirklich, ich wollte es schon annehmen! Da er aber ein ehrlicher Kerl ist, so hat er mir dann gesagt, daß es falsch sei; und dann hat er es mir für fünf Franken überlassen. Eigentlich hatte er's behalten wollen, um es gelegentlich einem ›Liebhaber‹, wie er sich ausdrückte, zu zeigen. Doch ich dachte mir, es könne in aller Welt keinen würdigeren Liebhaber dafür geben als den Mann, der die Falschmünzer schreibt! Und um es Ihnen zu zeigen, hab ich es also erworben. Aber jetzt, wo Sie es untersucht haben: geben Sie es mir wieder! Denn ich sehe ja leider, daß die Wirklichkeit Sie nicht interessiert!«

»Doch!« sagte Edouard; »aber sie geniert mich.«

»Schade«, meinte Bernard.

 

Aus Edouards Tagebuch:

»(Am selben Abend.) –… Sophroniska, Bernard und Laura haben mich über meinen Roman ausgefragt. Ich habe nichts als Dummheiten vorgebracht, und es wäre viel besser gewesen, wenn ich den Mund gehalten hätte. Dann wurden wir glücklicherweise durch die Rückkehr der Kinder unterbrochen. Mit geröteten Gesichtern und ganz außer Atem kamen sie an. Bronja warf sich gleich stürmisch in die Arme ihrer Mutter; sie schien in Weinen ausbrechen zu wollen.

»Mama«, rief sie, »du mußt Boris schelten! Er wollte sich nackt in den Schnee legen!«

Sophroniska sah Boris an, der, mit gesenktem Kopf und einem starren, fast feindseligen Blick, an der Tür stehen geblieben war. Sie schien das sonderbare Wesen des Kindes nicht bemerken zu wollen, sondern sagte mit bewunderungswürdiger Ruhe:

»Hör, Boris, des Abends darf man so etwas auf keinen Fall tun! Wenn du willst, gehen wir morgen früh wieder dorthin. Und dann kannst du erst einmal versuchen, ein bißchen barfuß im Schnee zu gehen …«

Sie streichelte ihrer Tochter sanft das Haar. Doch plötzlich fiel Bronja zu Boden und wälzte sich in Zuckungen. Wir erschraken sehr. Sophroniska hob sie auf und bettete sie auf den Diwan. Regungslos, mit großen, leeren Augen sah Boris alles mit an.

 

Ich halte Sophroniskas Erziehungsmethode in der Theorie für ausgezeichnet, aber vielleicht zieht sie den Widerstandsgeist der Kinder nicht genügend in Betracht.

»Sie handeln, als ob das Gute stets über das Böse triumphieren müßte«, sagte ich zu ihr, als ich mich nach dem Abendessen mit ihr allein befand. (Ich hatte mich nach dem Befinden Bronjas, die früh zu Bett gegangen war, erkundigen wollen.)

»Allerdings«, antwortete sie; »ich glaube fest daran, daß das Gute in der Welt triumphieren muß. Dies Vertrauen lasse ich mir nicht nehmen.«

»Immerhin könnten Sie, aus übertriebenem Vertrauen, vielleicht einmal einen Fehler begehen …«

»Fehler begangen habe ich immer nur dann, wenn mein Vertrauen nicht groß genug war! Als ich heute die Kinder allein Spazierengehen ließ, vermochte ich eine gewisse innere Unruhe nicht ganz zu unterdrücken. Das haben sie gemerkt. Und davon ist alles gekommen!«

Sie nahm meine Hand:

»Sie allerdings erwecken nicht den Eindruck, als ob Sie an die schöpferische Macht des Vertrauens glaubten!«

»In der Tat«, sagte ich lachend, »ich bin kein Mystiker.«

»Ich aber glaube von ganzer Seele«, rief sie leidenschaftlich, »daß hienieden nichts Schönes und Großes geschehen kann ohne das Wirken mystischer Kräfte!«

 

Im Fremdenbuch den Namen ›Victor Strouvilhou‹ entdeckt. Nach den Angaben des Wirtes muß er Saas-Fee ein paar Tage nach unserer Ankunft verlassen haben. Er scheint ungefähr einen Monat hier gewesen zu sein. Es hätte mich interessiert, ihn wiederzusehen. Ich will Sophroniska fragen, ob sie mit ihm bekannt geworden ist.«


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