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XV

Edouard hat es so eingerichtet, daß er in der Pension ankam, bevor die Kinder vom Schulunterricht zurück waren. Er möchte zunächst mit La Pérouse sprechen, den er seit dessen Übersiedelung in die Pension noch nicht wiedergesehen hat. Der greise Musikprofessor erfüllt seine neuen Obliegenheiten als Studienaufseher so gut es eben gehen will, das heißt, sehr schlecht. In den ersten Tagen hat er versucht, sich die Liebe der Schüler zu erwerben, aber es gebricht ihm an Autorität. Die Kinder nutzen das aus. Sie nehmen seine Milde für Schwäche und entziehen sich jeglicher Botmäßigkeit. Nun versucht La Pérouse es mit der Strenge: aber zu spät; seine Ermahnungen, Drohungen, Verweise nehmen die Kinder vollends gegen ihn ein. Läßt er seine Stimme dumpf anschwellen, so grinsen sie; schlägt er mit der Faust aufs Pult, daß es dröhnt, so stoßen sie komisch übertriebene Entsetzensschreie aus; sie kopieren ihn; sie nennen ihn den ›Père Lapère‹; von Bank zu Bank wandern Karikaturen, die ihn, den so Gutmütigen, als einen Tobsüchtigen darstellen, bewaffnet mit einer riesigen Pistole (mit eben jener Pistole, die Ghéridanisol, Georges und Phiphi bei einer indiskreten Durchstöberung seines Zimmers entdeckt haben) und dieses Instrument zu einem wahrhaft bethlehemitischen Schülermord mißbrauchend; oder auch, mit gefalteten Händen vor den Schülern niederkniend und sie, wie er's anfänglich zu tun pflegte, um ›ein ganz klein bißchen Ruhe‹ anflehend, ›bei Christi Gnade und Barmherzigkeit!‹ … Eine erbarmungslose Meute hat sich hier auf jemand gestürzt, der zum Opfer prädestiniert ist, auf einen armen alten Hirsch, der sich nicht mehr retten kann … Von alledem weiß Edouard nichts.

 

Aus Edouards Tagebuch:

»La Pérouse empfing mich in einem kleinen Parterresaal, den ich als den unbehaglichsten der ganzen Pension kannte. An ›Möbeln‹ befanden sich darin nur vier Schulbänke und eine Wandtafel, ferner ein Korbstuhl, in dem La Pérouse mich Platz nehmen hieß. Er selbst setzte sich quer seitlich auf eine der Schulbänke, nach dem er vergeblich versucht hatte, seine allzulangen Beine unter das dazugehörige Pult zu zwängen.

»Nein, nein, bleiben Sie nur, wo Sie sind: ich sitze hier sehr gut.«

Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck aber besagten:

»Ich sitze hier jämmerlich, und ich fühle mich hier überhaupt todeselend, und ich hoffe, daß Ihnen das genügend in die Augen springt … Aber so ist es mir gerade recht; und je bemitleidenswürdiger es mir ergeht, desto weniger sollen Sie mich klagen hören!«

Ich versuchte ein Scherzwort anzubringen, aber der Alte ließ sich kein noch so kleines Lächeln abnötigen. Er trug ein feierlich-steifes Wesen zur Schau, das wohl einen gewissen Abstand zwischen uns wahren und mir zu verstehen geben sollte: ›Sie sind schuld daran, daß ich hier bin!‹

Dabei erklärte er, es gefalle ihm in der Pension in jeder Beziehung gut. Meinen Fragen wich er aus, und mein teilnehmendes Interesse schien ihn fast zu erbittern. Doch als ich ihn fragte, wo sein Zimmer gelegen sei, brachte er plötzlich hervor:

»Etwas zu weit von der Küche entfernt!« –… Und als ich mich über diese Antwort wunderte: »Manchmal, wenn ich des Nachts nicht schlafen kann, packt mich eine so wütende Lust zu essen.«

Ich hatte meinen Korbstuhl näher an ihn herangerückt und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. In natürlicherem Tone fuhr er fort:

»Ich muß Ihnen sagen, daß alle meine Nächte sehr schlimm sind. Gelingt es mir einmal, Schlaf zu finden, so bleibe ich mir doch immer bewußt, daß ich schlafe. Das ist nicht das richtige, meinen Sie nicht auch? Wer wirklich schläft, der weiß nicht, daß er schläft; erst beim Erwachen merkt er, daß er geschlafen hat.«

Sich zu mir hinbeugend, mit tüftelnder Beharrlichkeit:

»Manchmal bin ich versucht, zu glauben, daß meine Empfindungen imaginärer Natur sind und daß ich doch wirklich schlafe, während ich nicht zu schlafen glaube. Aber der Beweis dafür, daß ich nicht wirklich schlafe, liegt darin, daß ich, wenn ich die Augen aufmachen will, diese Absicht auch sofort verwirklichen kann. Gewöhnlich will ich es nicht: denn welches Interesse sollte ich wohl daran haben, die Augen aufmachen zu wollen? Warum sollte ich mir selbst beweisen wollen, daß ich nicht schlafe? Wenn ich mir dagegen einzureden suche, daß ich schon wirklich im Schlafe befangen sei, so behalte ich doch immer noch einige Hoffnung, nun auch in Wirklichkeit einzuschlafen …«

Noch näher zu mir geneigt, mit leiserer Stimme:

»–… Außerdem ist da etwas, was mich stört … Sagen Sie es aber um Himmels willen nicht weiter … Ich habe mich nicht darüber beschwert, weil ja doch nichts dabei zu machen ist: wozu könnte es dienen, sich über Unabänderliches zu beschweren? … Also denken Sie sich: ganz nahe an meinem Bett, im Innern der Wand, gerade neben meinem Kopfkissen –… da ist etwas, was Geräusch macht.«

Er war ziemlich erregt geworden. Ich bat ihn, mich in sein Zimmer zu führen.

»Ja, gern«, antwortete er und erhob sich sofort. »Sie können mir vielleicht sagen, was es ist … Mir selbst bleibt es unerklärlich. Kommen Sie mit.«

Wir stiegen zwei Treppen hinauf. Dann tasteten wir uns durch einen finstern Korridor. In diesem Teile des Hauses war ich noch nie gewesen.

Das Zimmer des alten Klavierlehrers ging nach der Straße zu. Es war klein, aber nicht unfreundlich. Auf dem Nachttisch bemerkte ich, neben einem Gebetbuch, jenen Pistolenkasten, den der Alte bei seinem Umzug absolut hatte mitnehmen wollen. Er hatte mich am Arm gefaßt und, das Bett etwas beiseite schiebend:

»Da! Geben Sie genau acht … Legen Sie das Ohr an die Wand! Hören Sie's?«

Ich lauschte mehrere Minuten lang mit gespannter Aufmerksamkeit. Aber ich vermochte mit dem besten Willen nichts Besonderes zu erkennen. La Pérouse ward ärgerlich. Draußen fuhr ein schwerer Lastwagen vorbei, der das ganze Haus erschütterte und die Fensterscheiben zittern ließ.

»Um diese Tageszeit«, sagte ich, in der Hoffnung, ihn zu besänftigen, »übertäubt offenbar der Straßenlärm jenes kleine Geräusch, von dem Sie irritiert werden …« »Er übertäubt es für Sie, der Sie nicht imstande sind, es von andern Geräuschen zu unterscheiden!« rief er mit Heftigkeit. »Ich aber, ich höre es trotzdem! Ich höre es auch am Tage, trotz allen ›Übertäubens‹! … Manchmal erregt mich die Sache so, daß ich es doch für unumgänglich halte, mit Azaïs oder mit dem Hausbesitzer darüber zu sprechen … Oh, ich bilde mir ja nicht ein, es abstellen zu können, das Geräusch; aber ich möchte doch wenigstens wissen, was es ist!«

Er schien in Nachdenklichkeit zu verfallen. Nach einiger Zeit fuhr er fort:

»Man könnte es für ein Nagen oder Knabbern halten. Ich habe alles versucht, um es nicht mehr hören zu müssen. Ich habe mein Bett von der Wand abgerückt. Ich habe mir Watte in die Ohren gestopft. Ich habe meine Taschenuhr an die Wand gehängt (Sie sehen den kleinen Nagel, den ich da eingeschlagen habe), an einer Stelle, wo vermutlich der Rauchfang vorbeigeht, damit das Ticktack möglichst laut sei und das andere Geräusch übertöne … Aber dann quält mich alles nur noch viel mehr, weil es nun einer gewissen Anstrengung bedarf, um das andere, das eigentliche Geräusch zu erkennen … Das ist lächerlich, nicht wahr? Aber es ist mir immer noch das liebste, es offen und ehrlich zu hören, da ich ja doch einmal weiß, daß es da ist! … Oh, ich sollte Ihnen das alles vielleicht gar nicht sagen. Sie sehen, ich bin nur noch ein elender Greis!«

Er setzte sich auf den Bettrand und verharrte lange in dumpfem Schweigen. Die Degradation des Alters hat es bei La Pérouse weniger auf die Intelligenz, als. auf den Urgrund des Charakters abgesehen. Der Wurm hat sich eingenistet im Kerne der Frucht, dachte ich, wie ich ihn, den einst so stolzen und selbstbewußten Mann, dasitzen sah als Beute kindischer Verzweiflung. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, begann ich, von dem kleinen Boris zu sprechen.

»Ja, sein Zimmer ist gleich neben dem meinigen«, sagte er und erhob sich. »Ich will es Ihnen zeigen. Folgen Sie mir.«

Er ging mir voran und öffnete im Korridor eine benachbarte Tür.

»In dem andern Bett, das Sie da sehen, schläft der junge Profitendieu.« (Ich hielt es nicht für geraten, ihm mitzuteilen, daß Bernard gerade von heute an nicht mehr darin schlafen würde. Er fuhr fort:) »Boris ist froh, ihn zum Stubengenossen zu haben. Ich glaube, er versteht sich gut mit ihm. Aber mit mir, wissen Sie, mit mir spricht er nur sehr wenig. Es ist doch ein recht verschlossener Knabe … Ich fürchte, er ist von Natur ziemlich kalt.«

Er sagte das so traurig, daß ich protestieren und mich für die Gefühle des Enkels verbürgen zu sollen glaubte.

»Aber dann könnte er diese liebevollen Gefühle wohl etwas deutlicher zur Schau tragen!« meinte La Pérouse. »Hören Sie zum Beispiel dies: Wenn er morgens mit den andern den Weg zur Schule antritt, so lehne ich mich jedesmal weit zum Fenster hinaus, um ihn unten auf der Straße vorbeigehen zu sehen. Das weiß er auch ganz genau … Nun, er hat mir noch nicht ein einziges Mal einen Blick zugeworfen!«

Ich wollte ihm zu verstehen geben, Boris fürchte offenbar, seinen Kameraden Anlaß zu Spöttereien zu bieten; aber in diesem Augenblick erscholl, vom Hofe her, ein lärmendes Getöse.

La Pérouse packte mich am Arm und rief ängstlich:

»Hören Sie! Hören Sie! Da kommen sie zurück!«

Ich sah ihn an. Er zitterte am ganzen Körper.

»Diese dummen Jungens machen Ihnen doch nicht etwa Angst?« fragte ich.

»Oh, nein, oh nein!« antwortete er verwirrt: »wie kommen Sie nur auf einen solchen Gedanken? …« Dann, hastig: »Ich muß sogleich hinunter! Die Spielzeit dauert nur ein paar Minuten, und Sie wissen, daß ich im Arbeitssaal die Aufsicht führen muß. Also adieu!«

Er stürzte in den Korridor hinaus, ohne mir auch nur noch die Hand gegeben zu haben. Gleich darauf hörte ich ihn die Treppe hinunterstolpern. Ich blieb noch einige Augenblicke im Zimmer, denn ich wollte nicht in den Schwarm der Kinder hineingeraten. Man hörte sie schreien, lachen und toben. Dann ein Glockenzeichen, und mit einem Male ward alles still.

Ich begab mich zum alten Azaïs und erhielt von ihm die Ermächtigung, Georges aus dem Arbeitssaal herausrufen zu lassen. Und alsbald erschien der Knabe in demselben kleinen Räume, in dem vorhin La Pérouse mich empfangen hatte.

 

Kaum ward der kleine Georges meiner ansichtig, als er es, wie instinktiv, für gut befand, eine spöttische Miene anzunehmen. Damit gedachte er wohl, seine Verlegenheit zu verbergen. Aber ich hätte keinen Eid darauf schwören können, wer von uns beiden der am meisten Verlegene war. Georges hielt sich in der Defensive; er schien auf einen Angriff von meiner Seite gefaßt zu sein. Es kam mir vor, als raffe er in seinem Innern eiligst alle Waffen zusammen, über die er gegen mich verfügen mochte, denn bevor ich noch den Mund geöffnet hatte, fragte er mich in so höhnischem Tone nach Olivier, daß ich ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte. Dieser Knabe bot mir Trotz. »Damit Sie's nur wissen, ich habe keine Furcht vor Ihnen!« –… das war es, was seine ironischen Blicke, die boshaft zusammengekniffenen Lippen und der dreiste Klang seiner Stimme besagten. Ich verlor sofort jede Sicherheit und war hinfort nur noch bemüht, wenigstens äußerlich meine Haltung zu bewahren. Die Strafpredigt, die zu halten ich mich vorbereitet hatte, erschien mir plötzlich ganz unangebracht. Ich verfügte nicht über das Prestige, dessen man bedarf, um den Sittenrichter zu spielen. Auch amüsierte mich der kleine Georges im Grunde viel zu sehr.

»Ich komme nicht, um dich zu schelten«, sagte ich schließlich, »ich wollte dich nur warnen.« (Dabei lächelte, ohne daß ich's beabsichtigt hätte, mein ganzes Gesicht.)

»Sagen Sie mir doch zuerst, ob es Mama ist, die Sie schickt.«

»Ja und nein. Deine Mutter hat mit mir über dich gesprochen: aber das ist schon ein paar Tage her. Doch gestern habe ich in bezug auf dich eine sehr wichtige Unterredung gehabt mit einer sehr wichtigen Persönlichkeit, die du nicht kennst und die extra zu mir gekommen war, um mit mir über dich zu sprechen. Ein Untersuchungsrichter. In dessen Auftrag komme ich heute zu dir … Weißt du, was ein Untersuchungsrichter ist?«

Georges war blaß geworden, und offenbar durchfuhr ihn ein böser Schrecken. Er suchte seine Erregung unter forcierter Keckheit zu verbergen, aber seine Stimme zitterte doch etwas, als er sagte:

»Na, dann rücken Sie mal raus mit dem, was Papa Profitendieu Ihnen auf die Seele gebunden hat!«

Das zuversichtliche Benehmen dieses Kindes verwirrte mich. Offenbar wäre es in meiner Lage die einfachste Sache von der Welt gewesen, direkt auf mein Ziel loszugehen; aber mein Geist hat von jeher allem Einfachen widerstrebt: er zieht unweigerlich einen Umweg vor. Um nun ein Verhalten verständlich zu machen, das aus der Eingebung des Moments entsprang, mir selbst aber schon im nächsten Augenblick ganz absurd erschien, muß ich vorausschicken, daß meine letzte Unterhaltung mit Pauline mir einen ungewöhnlichen Eindruck hinterlassen hatte. Die Betrachtungen, die aus diesem Gespräch hervorgegangen waren, hatten sich mir zu einem Dialog geformt, den ich alsogleich in meinen Roman eingefügt hatte, weil dieser Dialog genau zu gewissen Figuren meines Buches paßte. Es kommt selten vor, daß ich etwas, was die Wirklichkeit mir zuträgt, ohne weiteres benutzen kann: das Abenteuer des kleinen Georges bildete einen solchen Ausnahmefall. Auf dieses Abenteuer schien mein Roman geradezu gewartet zu haben, so ausgezeichnet paßte es in den Zusammenhang hinein; kaum ein paar Einzelheiten hatte ich ändern müssen. Allerdings stellte ich dieses Abenteuer (ich meine die Affäre der Diebereien) dem Leser nicht unmittelbar vor Augen: man mußte es sich aus Gesprächen, die geführt wurden, zusammenreimen. Den Wortlaut dieser Gespräche hatte ich in einem Hefte niedergeschrieben, das ich eben jetzt bei mir trug. Dagegen schien mir die Goldstück-Affäre in der Gestalt, wie Profitendieu sie mir mitgeteilt hatte, für meine Zwecke durchaus nicht verwendbar zu sein. Und wohl deshalb begann ich mit der Taktik des Lavierens, anstatt sofort auf diese letzte Affäre, den eigentlichen Grund meines Besuches, loszugehen.

»Ich möchte dich zunächst bitten, ein paar Seiten zu lesen, die ich geschrieben habe«, sagte ich zu dem Knaben; »du wirst gleich sehen, warum!«

Und ich reichte ihm das Heft, das ich an der betreffenden Stelle aufgeschlagen hatte.

Ich wiederhole: meine Handlungsweise erscheint mir jetzt völlig absurd. Aber in meinem Roman sollte die jüngste der Hauptpersonen durch eine ebensolche Lektüre vor den Folgen ihres Tuns gewarnt werden. Es war mir also wichtig, zu sehen, wie Georges auf diese Lektüre reagieren würde: diese Reaktion sollte mir Anhaltspunkte liefern für meine weitere Arbeit; ja, sogar über die Qualität des bereits Geschriebenen sollte sie mir ein Urteil ermöglichen …

Im folgenden kopiere ich die Seiten, die ich Georges zu lesen gab:

 

In dieses Kindes Seele gab es eine ganze Provinz des Düstern, über welche Audiberts besorgte Aufmerksamkeit sich neigte. Es war ihm nicht genug, zu wissen, daß der junge Eudolfe gestohlen hatte: es wäre auch sein Wunsch gewesen, daß Eudolfe ihm erzählt hätte, wie er dazu gekommen war und was er bei seinem ersten Diebstahl empfunden hatte. Übrigens hätte das Kind es ihm mit dem besten Willen kaum zu sagen vermocht. Und Audibert wagte nicht, es auszufragen, aus Furcht, lügenhafte Beteuerungen zu provozieren.

Eines Abends, als Audibert mit Hildebrant dinierte, erzählte er diesem von der Sache des jungen Eudolfe –… übrigens, ohne dessen Namen zu nennen, und die Tatsachen so darstellend, daß der andere den Knaben, von dem die Rede war, nicht hätte identifizieren können.

»Haben Sie auch schon bemerkt«, sagte da Hildebrant, »daß die entscheidendsten Handlungen unseres Lebens, ich meine: die, die am leichtesten über unser ganzes ferneres Dasein bestimmen können, meistens unüberlegte Handlungen sind?«

»Ich will es gerne glauben«, antwortete Audibert. »Es ist, als stiege man in einen D-Zug, ohne sich vorher irgendeinen Gedanken darüber gemacht zu haben, wohin er fährt. Daß der Zug einen mitnimmt, das merkt man häufig überhaupt erst dann, wenn es schon zu spät ist, wieder auszusteigen.«

»Aber vielleicht möchte der betreffende Knabe gar nicht so gern wieder aussteigen?«

»Sicherlich ist ihm jetzt noch nichts daran gelegen, auszusteigen. Vorläufig läßt er sich gern mitnehmen. Die Landschaft ist ihm interessant, und er überlegt nicht viel, wohin die Reise gehen mag.«

»Werden Sie diesem Kinde eine Moralpredigt halten?«

»Ganz gewiß nicht! Damit würde man nur das Gegenteil des Gewollten erreichen. Dieser Knabe ist mit Moral übersättigt worden, bis zum Ekel.«

»Warum hat er gestohlen?«

»Ich weiß es nicht recht. Keinesfalls aus wirklicher Not. Vielleicht, um sich gewisse Vorteile zu verschaffen; um hinter einigen Kameraden, die aus reicherem Hause sind als er, nicht zurückzubleiben … was weiß ich? Oder einfach aus Neigung und angeborener Lust am Stehlen.«

»Dieser Fall wäre der schlimmste.«

»Zum Teufel, ja! Denn er würde besagen, daß das Kind immer wieder rückfällig werden wird.«

»Ist der Knabe intelligent?«

»Ich habe lange Zeit geglaubt, er sei es in geringerem Maße als seine Brüder. Doch darin kann ich mich getäuscht haben, und mein ungünstiger Eindruck rührt vielleicht daher, daß Eudolfe den Umfang seiner eigenen Fähigkeiten noch nicht genügend kennt. Seine Wißbegier hat bisher falsche Wege eingeschlagen; oder vielmehr: sie ist unentwickelt geblieben und befindet sich noch im Stadium der Indiskretion.«

»Wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Ich habe mir vorgenommen, ihm einen Vergleich nahezulegen zwischen dem geringen Nutzeffekt seiner Diebstähle und dem großen Verlust, der sich aus seiner Unehrenhaftigkeit ergeben muß: er verliert das Vertrauen seiner Mitmenschen, ihre Achtung (zum Beispiel die meinige) … gewiß etwas durchaus Imponderabiles, in Ziffern nicht Ausdrückbares, dessen Wert man jedoch an der ungeheuren Anstrengung ermessen kann, die ein späterer Versuch der Zurückgewinnung erfordern würde. Manche Unglückliche haben ihr ganzes ferneres Leben an solch einen Rehabilitierungsversuch gewandt … Ich werde ihm sagen (was er bei seiner Jugend noch gar nicht bedacht haben kann), daß, wenn in seiner Umgebung künftighin jemals etwas Bedenkliches oder Verdächtiges vorkommt, der Argwohn sich unbedingt sofort auf ihn lenken wird. Er wird vielleicht ungerechterweise schwerer Verbrechen bezichtigt werden, und seine Unschuldsbeteuerungen werden wirkungslos sein. Denn das, was er früher getan hat, weist allzu deutlich auf ihn hin. Und so bleibt er, ein für alle Male, ein Gebrandmarkter‹. Endlich möchte ich ihm noch sagen … Doch ich fürchte sein unwilliges Abschütteln jeglichen Zuspruchs …«

»Was möchten Sie ihm noch sagen?«

»Daß das, was er getan hat, auch für seinen eigenen Charakter einen psychologischen Präzedenzfall schafft. Bedurfte es für den ersten Diebstahl einer gewissen Selbstüberwindung, eines Entschlusses, so braucht man sich für die späteren nur noch der Schwerkraft des Triebes zu überlassen. Alles Folgende ist eben nur noch ein Geschehen- und Sich-gehen-lassen … Ich möchte ihm sagen, daß oft eine erste, vielleicht halb unbewußte Handlung unser Antlitz mit einem unverwischbaren Zeichen versieht, daß sie in unser Bildnis eine Linie einträgt, die kein späteres Bemühen wieder wegzuwischen vermag. Ich möchte … Aber ich werde ja überhaupt nicht den rechten Ton finden, um mit ihm zu sprechen!«

»Warum schreiben Sie dann nicht alles auf, was wir soeben miteinander gesprochen haben? Sie könnten es ihm zu lesen geben.«

»Das ist eine Idee«, sagte Audibert. »Ja, warum eigentlich nicht?«

 

Während der ganzen Zeit, die Georges zum Lesen brauchte, hatte ich ihn aufmerksam beobachtet. Aber sein Gesicht verriet nichts von dem, was er denken mochte.

»Soll ich weiterlesen?« fragte er und schickte sich an, das Blatt umzuwenden.

»Nicht nötig: das Gespräch ist da zu Ende.«

»Sehr schade!«

Er gab mir das Heft zurück und sagte, in fast neckischem Tone:

»Ich möchte wissen, was Eudolfe sagt, nachdem er das Gespräch gelesen hat.«

»Aber darauf warte ich ja eben selbst! …«

»Eudolfe ist ein lächerlicher Name. Hätten Sie diesen Jungen nicht anders nennen können?«

»Das hat keine Bedeutung.«

»Und das, was er antworten könnte, ebensowenig! Was wird übrigens späterhin aus ihm?«

»Ich weiß noch nicht. Das kommt auf dich an. Wir werden sehen.«

»Wenn ich recht verstehe, soll ich Ihnen also helfen, Ihr Buch weiterzuschreiben! … Aber sagen Sie mal selbst, ob …«

Er hielt inne, als hätte er einige Mühe, seinen Gedanken zu formulieren.

»Ob was?« fragte ich, um ihm Mut zu machen.

»Sagen Sie selbst, ob Sie nicht mit Ihrer ganzen Indianergeschichte in die Brüche gerieten, wenn Eudolfe …«

Er unterbrach sich abermals. Ich glaubte zu wissen, was er sagen wollte, und fuhr an seiner Stelle fort:

»–… Wenn Eudolfe wieder ein ehrlicher Knabe würde? … Nein, mein Junge!« und plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Doch er, sich losmachend:

»Denn wenn er überhaupt nicht gestohlen hätte, so hätten Sie sich das alles gar nicht ausdenken und noch viel weniger niederschreiben können!«

Erst jetzt erkannte ich meinen Irrtum. Der kleine Georges fühlte sich im Grunde geschmeichelt, weil er mein Denken so lange beschäftigt hatte! Er fand sich interessant …

Mittlerweile hatte ich Monsieur Profitendieu ganz vergessen. Georges selbst war es, der mich an ihn erinnerte:

»Und was hat er Ihnen denn nun vorgeplaudert, Ihr lieber Herr Untersuchungsrichter?«

»Er hat mich beauftragt, dir zu sagen, er wisse, daß du falsches Geld in Umlauf setzest …«

Von neuem wechselte Georges die Farbe. Er sah augenblicklich ein, daß es keinen Sinn hätte zu leugnen und bemerkte nur kleinlaut:

»Ich bin nicht der einzige …«

»... und wenn ihr nicht sofort mit diesem Treiben aufhörtet, du mitsamt deinen braven Spießgesellen, so werde er sich gezwungen sehen, euch verhaften zu lassen!«

Georges war totenbleich. Dann schoß ihm das Blut feuerrot in die Wangen. Er starrte vor sich hin, zog die Augenbrauen hoch, und zwei Furchen erschienen auf seiner Stirn.

»Adieu«, sagte ich und gab ihm die Hand. »Es wird angebracht sein, daß du auch deinen Kameraden Mitteilung machst. Und laß dir die Sache zur Warnung dienen!«

Schweigend drückte er mir die Hand und ging in den Arbeitssaal zurück, ohne sich noch einmal umzuwenden.

 

Als ich die Seiten aus den »Falschmünzern«, die ich Georges zu lesen gegeben habe, selbst noch einmal durchlas, fand ich sie ziemlich schlecht. Ich habe sie hier genau so abgeschrieben, wie Georges sie zu sehen bekommen hat; aber ich muß dieses ganze Kapitel umarbeiten. Sicherlich wird es besser sein, sich mündlich mit dem Knaben auseinanderzusetzen. Es muß mir doch gelingen, irgendwelche Töne anzuschlagen, die ihm zu Herzen gehen! Allerdings wird sich Eudolfe (diesen Namen werde ich ändern, Georges hat recht), nachdem es einmal so weit mit ihm gekommen ist, nicht gleich auf den ersten Anhieb als besserungsfähig erweisen. Aber ich will ihn trotzdem zur Ehrbarkeit zurückführen; und was Georges auch darüber denken möge: gerade solch innere Wandlung ist das Interessanteste, weil ihre Darstellung das Schwierigste ist. (In diesem Punkte scheine ich fast so zu denken wie Monsieur Douviers!) Überlassen wir es den realistischen Romanciers, die These von der unwiderruflichen Wirkung gegebener Umstände aufrecht zu erhalten.«

 

Kaum wieder im Arbeitssaal angelangt, setzte Georges seine beiden Freunde von Edouards Warnung in Kenntnis. Alles, was dieser ihm in bezug auf seine Diebereien gesagt hatte, war an dem Kinde abgeglitten wie Wasser an einem Ölmantel. Mit den falschen Goldstücken aber war es eine andere Sache, diese Affäre schien brenzlich zu werden, und somit beschlossen die drei Komplizen, sich der corpora delicti schleunigst zu entledigen. Jeder von ihnen hatte einige Goldstücke bei sich, die am nächsten freien Nachmittag hätten ausgegeben werden sollen. Ghéridanisol sammelte sie ein, schlich sich dann beim Dunkelwerden auf die Straße und ließ sie in einem unterirdischen Kanal verschwinden. Noch selbigen Abends benachrichtigte er Strouvilhou, der sofort die nötigen Maßnahmen traf.


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