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Die Gärten der Lebendigen und Asmussens Blütenträume.
Gar nicht seltsamer Weise begegnete er dabei fremder Art und Kunst mit dankbarster Empfänglichkeit und liebender Gerechtigkeit. Sicherlich war es einer der schönsten, frömmsten Tage seines Lebens, als er an einem unvergleichlichen Frühlings-Sonntagmorgen ganz einsam und allein die Friedhöfe des Montmartre und des Père la Chaise durchwanderte und Sonnenlicht und Vogellied aus allen Bäumen floß. Auch auf dem Grabe Théophile Gautiers sang ein Vöglein, ganz wie er's ersehnt:
»L'oiseau s'en va, la feuille tombe, L'amour s'etaint, car c'est l'hiver; Petit oiseau, viens sur ma tombe Chanter quand l'arbre sera vert.« |
Wie in einem viele Stunden langen Traume wanderte er durch diesen hohen, licht- und liederfüllten Ahnensaal eines gottbegnadeten Volkes und wurde nicht müde, die Namen derer zu lesen, die aus der Seele dieses Volkes geboren wurden oder in seiner Seele Gastfreundschaft gefunden hatten. Ein anmutvoll verschlungener Reigen von Gesängen und Sonnenstrahlen, von Gedanken und Vogelzwitschern, von Bildern und Blumenduft, von Heldentaten und Zypressenschatten durchwirbelte sein Herz. Im ganzen lauten, lärmenden Paris war nicht so viel Leben wie auf diesen Friedhöfen, wenigstens nicht für einen Menschen der Erinnerung, dem alles Große und Schöne der Vergangenheit lebendig war. Freilich: die Größten dieses Volkes ruhten im »Pantheon«; in diesen schweigend beredten Gärten aber las er: Berlioz und Murger, Jules Simon und Dumas fils, Zola und Vernet, Daudet und Thiers, Béranger und Renan, Musset und Massena, Balzac und Ney, Beaumarchais und Delacroix, Gautier und Rossini, Chopin und Talma, Marschall Lannes und Cherubini usw. usw. Mit einem dankbaren Lächeln aus fernen, fernen Tagen stand er am Grabe Aubers, der »Maurer und Schlosser« geschrieben hatte, die erste Oper, die er als sechsjähriger Knabe gehört, und »Die Stumme von Portici« und »Fra Diavolo« und »Des Teufels Anteil« und wie die klingenden Köstlichkeiten alle hießen, und ganz eingesponnen in Frohsinn und Wehmut, Dankbarkeit und Zauberklang, stand er im Musiker- und Dichterwinkel (mit dem raffiniert verwahrlosten Grabe Delilles) vor dem Grabstein Boieldieus. Hier also ruhte der Staub des Mannes, aus dessen Haupte »Die weiße Dame« entsprungen war, diese Musik, die wie Millionen klingender Maiglöckchen durch manchen Sonnentag seiner Kindheit gerieselt war. Wenn er solche Musik im Ohre hatte oder am Grabe Adams das Lied des »Postillons« hörte, dann sagte er sich als ehrlicher Deutscher: Das machen wir ihnen nicht nach. Warum denn auch? Sie machen uns andere, größere Dinge nicht nach. Eine Nation kann so wenig alles machen, wie ein Mensch alles machen kann. Wenn die Menschheit nicht so entsetzlich verblendet wäre, würde sie daraus schließen, daß nach dem Willen der Natur die Völker sich ergänzen, nicht aber einander zerfleischen sollen.
Die Franzosen konnten uns auch den Heinrich Heine nicht nachmachen, der hier unter den Großen des Montmartre ruhte, konnten es nicht, obwohl sie ihn halbwegs als einen der ihrigen beanspruchen. Es ist eine schöne Sitte geworden, daß man am Grabe des Atta Troll- und Bimini-Sängers seine Visitenkarte niederlegt. Auch Asmus legte eine Karte nieder und wußte. daß sein Besuch angenommen werde. Denn er verstand die Seele dieses Dichters besser als mancher andere und hatte redlich versucht, ihn aus einem wüsten Getümmel von Torheiten und Gehässigkeiten herauszuhauen. Dieser Heine hatte schon 1840 die Franzosen eindringlich gewarnt, die schlummernde Riesenkraft Deutschlands zu unterschätzen, und hatte eine Auferstehung der deutschen Volksseele prophezeit. In den Zeiten tiefster nationaler Trübsal das deutsche Wesen mit so sicherem Blick und mit so froher Hoffnung erkennen, dazu gehörte mehr deutsches Herz als zu einem patriotischen Trinkspruch nach 1870. Und wer einen beginnenden Hebbel verstand und von einem Hebbel verstanden wurde, wer sich so gründlich in die Herzen Franz Schuberts und Robert Schumanns hineinsingen konnte, der mußte deutsch und ein Mensch und – ein verteufelt guter Musikant gewesen sein.
Auch vor den Skulpturen des Luxembourg-Museums sagte sich Asmus: In allem, was Zartheit, Delikatesse, Anmut, Grazie in Heiterkeit und Ernst verlangt, sind sie unerreichbar, wenigstens unübertrefflich. Wie solch ein französischer Bildhauer zwei Geschwister Wang' an Wange schmiegt, wie die Muse des André Chénier das abgeschlagene Haupt des Dichters in ihre Locken hüllt und es küßt, wie ein Rodin den »Gedanken« aus der formlosen Masse heraus sich formen läßt, daß man, wie lange man auch davor stehen mag, immer ein Werden, immer ein Werden sieht und das Gesetz, daß die bildende Kunst nur ein Beharrendes darstellen könne, aufgehoben erscheint, das alles ist von einer Feinheit, die uns Deutschen bitter schwer wird, wenn wir sie überhaupt jemals erreichen. Aber was tut's? Dafür machen sie uns unsern Bismarck nicht nach, weder den von Fleisch und Bein, noch den steinernen von Lederer.
Er hielt aber auch Augen und Ohren weit genug offen, um die mannigfachen Beweise greulicher Unkultur in dieser »Stadt des Lichts« wahrzunehmen, z. B. die weit verbreitete Unsauberkeit, die millimeterdicke Bemalung der Damenangesichter, die einem Deutschen von Geschmack ganz unbegreiflich ist, die widerwärtigen Anpreisungen der Ärzte in den Anstandsorten, die einem deutschen Arzte auf der Stelle seine berufliche und gesellschaftliche Stellung kosten würden, den entsetzlichen Boulevard-Radau, von dem Asmus nicht verstehen konnte, daß ein gebildetes Volk sich ihn gefallen ließ. Dieser Höllenlärm bestand vor allem in dem tierischen Gebrüll der Zeitungsverkäufer, die offenbar eine Ehre darein setzen, sich nie zu waschen, und bei denen Asmus grundsätzlich nicht wechselte, weil er eine Heidenangst davor hatte, Geld aus ihren Händen entgegenzunehmen. Einer von diesen »Camelots« aber versöhnte ihn fast mit den andern. Es war ein junger Bursche mit einer Fripon-Visage, und er schrie mit dem spitzbübischsten Lächeln von der Welt in einem fort:
»L'Intransigeant! La Presse! Vive le Roi! Vive la Reine! Vive la République!«
In jenen Tagen nämlich waren das englische Königspaar und englische Diplomaten in Paris zum Besuch – vielleicht wurde eben in jenen Tagen das Schlußsiegel unter das schändlichste Bubenstück der Weltgeschichte gesetzt – und der muntere Junge mit dem jugendlichen Voltairegesicht verspottete mit seinem beißenden Epigramm diese »Republik«, die ihre eigenen Fürsten entthront hatte, um sich von fremden Königen und Russenkaisern regieren zu lassen.
»Vive la Reine!« rief auch ein eleganter Pariser, als König, Königin, Herr Poincaré und die sie umschwärmenden Kürassiere längst vorübergejagt waren und eine unzweifelhafte Kokotte, majestätisch in den Wagen zurückgelehnt, gefahren kam. »Vive la Reine!« rief der Symboliker und lachte, und die Gefeierte lachte, und die Menge lachte. Man nahm auch das auswärtige Königtum nicht pathetisch.
Man nahm auch die Kammerwahlen nicht pathetisch, die gerade in jener Zeit stattfanden. Zwar stand auf einigen Plakaten zu lesen, daß Bismarck gedroht habe, Frankreich in einem abermaligen Kriege zum Weißbluten zu bringen, und daß man deshalb natürlich einen Mann der Militärpartei wählen müsse; aber obwohl Asmus, der Prussien, sich immer wieder unter die Lesenden mischte, um die Wirkung festzustellen, bemerkte er nie ein Zeichen der Erregung. Auch am Tage der Wahl benahm sich das Paris der Boulevards nicht anders als sonst, und wenn die Zeitungsverkäufer, je nach ihrer »Überzeugung«, riefen: »Monsieur Cailleau élu!« oder »Monsieur Cailleau battu!«, so lachte man oder nahm keine Notiz davon. Überhaupt stellte Asmus fest, daß dieses temperamentvolle Volk sich unerhört ruhig benahm; vor einem Café in der Rue Royale sitzend, ließ er stundenlang die Bevölkerung von Paris, die die festliche Illumination besichtigte, sechs Mann tief an sich vorüberziehen, einen unabsehbaren Menschenstrom, und nirgends bemerkte er einen Lärm oder eine Ungebühr; überhaupt zeigten diese Pariser bei Ansammlungen außerordentlich viel Erziehung. Sie haben Zivilisation, fabelhaft viel Zivilisation; aber das Naturell ist ganz anders. Im Theater machte er eine seltsame Beobachtung. Die lieblichsten Schauspielerinnen, die die Verse Molières und Corneilles wirklich mit berückender Süße hervorflöteten und in Erscheinung und Spiel wahrhaft wie Engel waren – sobald sie den Zorn darstellten, waren sie sogleich, ohne allen Übergang, Megären! Was zwischen Engelsruhe und Furienwut liegt, schien ihnen unbekannt. Es fiel Asmussen ein, daß sie den Zorn colère nennen und daß das vom griechischen Chole oder Cholos. d. h. »Galle«, kommt. Gallisch ist gallig. Den edlen Zorn, den Herzzorn, der noch der Gerechtigkeit fähig bleibt, kennen sie nicht. Wer Mariannen mißfällt, dem springt sie mit langen Nägeln in die Augen. Das gute Kind ist jahrhundertelang gründlich verzogen worden, weil es so hübsch und so begabt war. Im Kloster hat sie dann ein gesittetes Betragen angenommen, und in Gesellschaft weiß sie sich scharmant und fein zu bewegen; aber wenn etwas nicht nach ihrem Kopfe geht, ist sie eben doch noch die alte, ungebärdige Range. Manchmal bedarf es harter Schicksalsschläge, bis in solchen Mädchen das Herz geweckt wird. –
Im Amphithéâtre Descartes der Sorbonne hielt Asmus seine beiden Vorträge. Es ging hochfeierlich her: ein Membre de l'Institut führte ihn auf das liebenswürdigste ein, und die deutsche Botschaft und das deutsche Konsulat hatten ihre Vertreter gesandt. Wohl sah Asmus einigen Gesichtern an, daß ihre Träger das Deutsche für zu leicht gehalten hatten und nicht folgen konnten; aber die überwältigende Mehrheit verstand ihn offenbar vorzüglich; man mußte wirklich im Deutschen sehr fleißig gewesen sein. Die Versammlung setzte sich aus Professoren, Studenten, Schulen, Pensionaten, Mitgliedern der deutschen Kolonie und anderen zusammen. Als er auf seine Gedanken und Bestrebungen zur Frage des internationalen Friedens zu sprechen kam, sagte er: »Ich bin noch immer der Meinung, daß die Völker von sich aus nicht daran denken, einander zu hassen und zu überfallen, daß der Nationalitätenhaß, wo er sich zeigt, immer das Erzeugnis interessierter Hetzer ist« – da brauste ein Sturm der Zustimmung durch den Saal, daß er minutenlang nicht weiterreden konnte, und Asmus Semper war tief, tief glücklich. Es konnte ihn in seinem Glauben an die langsame und endliche Aussöhnung der Völker auch nicht beirren, daß er, als er das Grab Napoleons im Invalidendom besuchte, ebendort am Sarkophag des Marschalls Turenne einen jüngst »von der Schuljugend« aufgehängten Kranz mit einem Ausspruch des Marschalls fand, der also lautete:
»Kein Krieger Frankreichs darf in Ruhe bleiben, solange es noch einen Deutschen im Elsaß gibt.«
Er mußte lächeln über die echt französische Naivetät, einen solchen Spruch von dem ersten Verwüster der Pfalz gerade in der Grabkirche desjenigen Franzosen aufzuhängen, der mit der Gewissenlosigkeit des Eroberers grenzenloses Elend und tiefste Erniedrigung über Deutschland gebracht hatte. Die Behauptung, daß das die Gesinnung »der Schuljugend Frankreichs« sei, nahm er für die großsprecherische Lüge einer hetzenden Minderheit, die nicht mehr die Oberhand gewinnen werde. Er wurde in diesem Gefühl noch bestärkt bei seiner zweiten Vorlesung. Wenn nämlich der Saal bei seiner ersten Vorlesung voll gewesen war, so war er bei seiner zweiten Vorlesung sozusagen zweimal voll, weil die Menschen schier aufeinander saßen und in allen Winkeln standen, und Asmus sah über dem Köpfegewimmel ein großes Völkererwachen gleich einem jungen Morgenrot heraufsteigen. Und im Herbst sollte er nach Amerika hinüberkommen, sollte den nach dort verschlagenen deutschen Brüdern deutsche Art und Dichtung ins Herz zurückrufen und im Lande des Dollars dazu helfen, daß auch übers Weltmeer hinaus die Seelen der Völker sich fanden! War es keine Lust, in solcher Zeit zu leben? War es nicht mehr als Lust, war es nicht Glück, Seligkeit, Triumph des Menschengeschlechts? –
Nach Asmussens Vorträgen hatte ein Franzose zu einem Deutschen gesagt: »Wenn dieser Herr Semper in Toulouse geboren wäre, so wäre er bei uns ein Jaurès geworden.«
Jean Jaurès war ein Mann, der über die Grenzen Frankreichs hinaussah, der das Recht liebte und Deutschland kannte und Frieden mit Deutschland wollte.
Jean Jaurès aber wurde zwei Monate darauf von einem Meuchelmörder erschossen, weil er den Meuchelmördern im Wege war.