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Herr Semper hängt wieder am Perpendikel und pendelt zwischen Geburt und Tod.
Als wieder einmal der Sommer gekommen war, konnten die beiden Semper ein doppeltes Geburtsfest feiern, ein lautes und ein leises. Das laute verdankte man Sigrun, der jüngsten Zierde des Sempergeschlechts, die rosig und rund ins Leben gesprungen war und mindestens so gut strampelte und schrie wie ein Junge. Daß sie kein Junge war, wie man, nur der ergötzlichen Abwechselung halber, erwartet hatte, machte den Eltern im übrigen nichts aus. Sie hatten sich noch immer nicht zu der Auffassung entschließen können, daß ein Knabe etwas Wertvolleres sei als ein Mädchen. Für das Vaterland und alles Gute und Große der Welt kann das eine kämpfen wie das andere.
Das leise, ganz leise Geburtsfest begab sich einstweilen nur in der Seele Asmussens. Lust und Gedanke waren in ihr entkeimt, in einem Lustspiel die Befreiung der hoffnungsstarken deutschen Seele von fremdländischer Umklammerung zu zeigen. Denn seiner eigenen Seele war es des allesbekrittelnden, allesbezweifelnden, allesverneinenden, müden, krankhaften, weltverdrossenen und welteklen Getues im deutschen Geistesleben nun endlich zu viel geworden.
Mit hochwogenden Gefühlen eines neubeglückten Doppelvaters ging er im Zimmer der »hohen Wöchnerin« – jedes Weib ist in solchen Tagen eine Hoheit – ein und aus, bis er eines Mittags, als er sich wieder über das Bett der Geliebten neigte und ihr von seiner Hoffnung erzählen wollte, auf ihren blassen Zügen nur ein kümmerliches Lächeln fand, das schnell erlosch.
»Fehlt dir was?« fragte er bestürzt.
»Ach,« hauchte sie, »es wird ja nichts sein; ich habe so dumme Schmerzen hier,« und sie zeigte nach ihrem Herzen. Und dann schlug sie voll die Augen auf, und aus diesen Augen kam ein langer, trauriger Blick.
»Ich habe zum Arzt geschickt,« flüsterte sie, »es ist dir doch recht?«
»Du Närrin,« schluckte er, »was ist das für eine Frage!«
Er mußte seine Bestürzung hinunterschlucken, um ihr nicht unnötige Angst zu machen. Er wußte: wenn sie sich zu einem Leiden bekannte, dann war es ein schweres Leiden. Er sah ihre Ermattung, küßte sie mit leisesten Lippen auf Stirn und Augen und schlich hinaus.
Kaum hatte er die Tür lautlos hinter sich zugedrückt, so rannte er zum Arzt, um ihn zur Eile zu spornen. Der Arzt kam, untersuchte und sagte, als er mit Asmus allein war: »Ich kann noch nichts sagen. Es kann Brustfellentzündung sein; aber ich weiß es noch nicht. Ich komme heute abend wieder.«
»Halten Sie's für bedenklich?«
»Auch das läßt sich noch nicht sagen. Wir wollen hoffen, daß das Fieber nachläßt.«
Am Abend war das Fieber gestiegen. Die Ruhe und Umsicht, mit der der gute Dr. Cajus untersuchte, fragte und seine Schlüsse zog, waren Asmussens einziger Trost; er wußte sein Liebstes wenigstens in den treuen, gewissenhaften Händen eines Freundes.
Am zweiten Tage kam Cajus wieder zweimal, am nächsten Tage dreimal. Das Fieber stieg.
»Ich halte es für eine Embolie,« sagte der Arzt; »aber ich würde vorschlagen, noch einen Spezialisten zu Rate zu ziehen.«
»Tun Sie, ohne mich zu fragen, alles, was Sie für wünschenswert halten,« erwiderte Asmus.
Am folgenden Tage erschien Cajus in Begleitung des Spezialisten; sie verweilten lange bei der Kranken und hatten danach eine lange Unterredung im Wohnzimmer.
Der Frauenarzt bestätigte die Diagnose seines Kollegen; es war eine Embolie, die Brust, Rippen und Zwerchfell entzündet hatte.
Da hing nun Asmus, der in den letzten Wochen wieder freudig-festen Fußes den Erdboden getreten hatte, da hing er plötzlich an einem dünnen Faden mitten zwischen Himmel und Hölle. Jeden Augenblick konnte der Faden zerreißen; in jeder Minute, in jeder Sekunde bedrohte ein gottverdammter Blutpfropfen das Leben des Besten, was er auf Erden besaß!
Ach, wohin waren auf einmal alle Poetenpläne, wo waren alle pädagogischen Zukunftsträume! Seine Tage und Nächte waren ein unablässiges Harren und Hoffen, daß der heimtückische Embolus sich dennoch endlich zur Gutartigkeit bekehren und in dem Strom dieses starken, edlen, kostbaren Blutes zergehen möchte! Selbst an seine Kinder dachte er nicht; er überließ sie fast ganz der Pflege des treuen Dienstmädchens und der Wärterin. Aber aus dieser Stumpfheit sollte er aufgerüttelt werden.
Eines Morgens klagte sein achtjähriges Söhnchen über seinen Hals, und als der gute Cajus kam, stellte er Diphtheritis fest. Nun gab es ein großes Kunststück zu vollführen: wenn ihr Junge nicht mehr an ihrem Bette erschien, dann mußte die Mutter Verdacht schöpfen; man mußte ihr also sagen, daß er krank sei, ihr aber die wahre Natur der Krankheit verheimlichen. Man mußte mit möglichst glattem Gesicht »eine harmlose Angina« vorschwindeln und mußte ihr dabei sogar in die angstvollen Augen sehen können, ohne zu zucken. Und dann gab es ein anstrengendes Pendeln zwischen zwei Krankenzimmern, zwischen Angst und Angst.
In diesen Tagen erhielt Asmus von einer Zeitschrift ein Telegramm, in dem er gebeten wurde, doch recht bald wieder »etwas recht Humorvolles« zu schicken. Die Zeitschrift pflegte sehr anständig zu zahlen, und das konnte man jetzt brauchen. Am nächsten Morgen, als in keinem der beiden Krankenzimmer eine unmittelbare Gefahr vorzuliegen schien, begab er sich ans Werk. Er kam sich vor wie ein armer Komödiant, der mit einem Herzen voll Weh und Angst auf der Bühne den Lustigmacher spielen soll. Er hätte es trotz allem nicht vermocht, wenn er nicht schon seit einiger Zeit eine ausgereifte Frucht mit sich herumgetragen hätte; er brauchte eigentlich nur hinzuschreiben, was in seinem Innern schon Gestalt und Gesicht gewonnen hatte. Dennoch warf er wieder und wieder die Feder von sich und dachte: Es ist ein Frevel, was du treibst! und dachte dann wieder: Wenn du frevelst, so tust du's für Weib und Kind; es kann kein Verbrechen sein. Und mit ächzender Feder und ächzender Brust schrieb er weiter und horchte bald nach rechts und bald nach links und stand von Zeit zu Zeit auf, um seinem Jungen den Umschlag zu erneuern oder seiner Hilde ein Lächeln zu bringen und womöglich eines dafür einzutauschen. Aber solch ein Lächeln wurde immer seltener; sie konnte nicht lächeln, nicht weinen, nicht atmen und nicht schlucken ohne die grimmigsten Schmerzen. Sie schmachtete viele Stunden lang, bis ihr die Zunge am Gaumen klebte, und wagte nicht, die Wärterin um einen Trunk zu bitten, weil sie sich vor dem Schlucken fürchtete. Und da sie nicht essen und trinken konnte, ermattete sie mehr und mehr, und der hellste Tag schien ihren Augen eine immerwährende Dämmerung.
An einem Sonntag kam Salomon Freudenthal ganz leise zur glockenlosen Haustür herein.
»Du verdammter Kerl,« flüsterte er, »ich höre heute, daß deine liebe Frau krank ist, und du sagst mir kein Wort? Ich wollte dir nur sagen: wenn du Hilfe brauchst – du hast doch jedenfalls große Ausgaben – ich stehe natürlich zur Verfügung –«
»Du lieber Kerl,« rief Asmus, und es schoß ihm heiß in die Augen vor Glück, »ich danke dir tausendmal! Vorläufig geht's noch: wenn' s nottut, komm' ich. Ich will's meiner Frau sagen, daß du dich nach ihr erkundigst; sie wird sich freuen.«
Hilde schien ihm besser auszusehen als sonst; ihre Wangen waren leicht gerötet; die Augen hatten Glanz.
»Freudenthal ist da und wünscht dir alles Gute,« sagte Asmus.
Sie lächelte dankbar und hauchte an seinem Ohr:
»Wenn du mit ihm spazieren gehen willst, geh nur ruhig.«
»Wirklich? Geht's dir denn besser?«
»– Ganz gut. Wie geht's Wolfram?«
»Sehr gut; er darf wieder aufstehen. Ich will eine Stunde Luft schöpfen, dann bin ich wieder da.«
»Tu das, du Armer,« flüsterte sie.
»Ich arm? – So lange du mich liebst, bin ich der reichste Mann der Welt.« –
»Ich hab' dir auch 'ne feine ›Bock‹ mitgebracht,« sagte Freudenthal. Asmus dankte gerührt, und sie spazierten in die Felder hinaus. Er erzählte dem Freunde seinen Lustspielplan.
»Die Idee ist gut,« meinte Freudenthal, »das kann was werden.« –
Hilde hatte ihren Asmus gehen lassen, obwohl sie das Gefühl hatte, daß sie bald sterben müsse. Aber ein paar Stunden, dachte sie, werde sie wohl noch leben. Und wenn er zurückgekommen war, wollte sie mit ihm über die Kinder sprechen, ihm sagen, was er mit ihnen anfangen solle, wenn sie nicht mehr da sei.
Aber als er dann wieder daheim war, ließ sie ihn dennoch nicht rufen. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu erschrecken.
Und als dieser Sonntag sich dem Abend zuneigte und sie aus kurzem Schlummer erwacht war, da war es plötzlich viel heller in ihrem Zimmer.
»Wie spät ist es?« fragte sie die Wärterin.
»Sieben,« sagte die.
»Morgens?«
»Nein, abends!« lachte die Wärterin.
Da war am Abend der Morgen gekommen. Erleichterten Herzens schlief sie ein und schlief die ganze Nacht durch und erwachte am Morgen mit frischeren Sinnen. Die Wut der Krankheit war gebrochen. –
Einige Tage später, als sie wieder ein wenig plaudern konnte und ihre weiche Stimme wieder klang – »ein köstlich Ding bei Frauen«, sagt der alte Lear – da lächelte sie ihren Gatten schalkhaft an und sagte: »Du kluger Mann!«
»Wieso?« fragte Asmus, dessen Gesicht in diesem Augenblick allerdings nicht auf Klugheit schließen ließ.
»Du kluger Mann, der du dir einbildest, ich hätte an die Harmlosigkeit von Wolframs Krankheit geglaubt! Wenn es so harmlos war, konnte er doch zu mir kommen. Außerdem kenn' ich ja nachgerade meines Mannes Gesichter.«
Auch das hatte sie gelitten – und hatte geschwiegen.
»Du kluge Frau!«, sagte er ernst, in andächtiger Betrachtung ihrer edlen Züge. »Es gibt Frauen, die klug und doch mit aller Lieblichkeit und Anmut ihres Geschlechts umkleidet sind. Solch ein Weib will ich in mein Lustspiel stellen. Aber sie sind selten. Kannst du mir nicht ein Modell nachweisen?«
O selige Tage der Genesung!
Sie errötete und fragte:
»Hast du denn schon angefangen?«
»Ach, wo denkst du hin!« rief er. »Ich habe jetzt andere Dinge im Kopf. Ich muß den Friedenskongreß empfangen.«
Zum ersten Male sollte der Internationale Friedenskongreß auf deutschem Boden tagen, und zwar in Hamburg, und da Asmus der Hamburgischen Friedensgesellschaft vorstand, so hatte er für einen würdigen Empfang zu sorgen. Er machte sich also mit einem Vorstandsgenossen auf zum regierenden Bürgermeister Dr. Veldkamp.