Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XII. Kapitel.

Eine Bilanz und ein Stein; drei neue Menschen und eine banale Anmerkung.

Wenn Asmus also die Bilanz seiner Tätigkeit für die »Rostra« gezogen hätte, so wären auf die eine Seite gekommen: Schöne Erfolge, viel Freude und etwas sogenannte Ehre, auf die andere Seite: eine große Arbeitslast, ein schon ganz erklecklicher Neid, ferner Frau Kitty Krüger und die Herren Dr. Meckehorn, Baumblatt, Sauerbrand, Hübscher und eine unbestimmte Anzahl Personen, die bei der Gründung der Rostra gar nicht befragt, also bitter gekränkt worden waren. Wenn er diese Bilanz gezogen hätte – aber seine Naivetät in solchen Fragen war so grenzenlos, daß ihm eine solche Bilanz auch nicht von weitem in den Sinn kam. Auch nicht im Traum kam ihm der Gedanke, daß er von irgend jemandem auf der Welt etwas zu befürchten habe – hatte er doch nichts anderes getan als seine Pflicht. Er wußte ja gut genug, daß die Erde schlimme, neidische, rachsüchtige Menschen trage; aber er hatte ja keinem etwas getan. Keinem!

Er verstand auch nicht die symbolische Andeutung für die Zukunft, die ihm in dieser Zeit einmal das Schicksal machte. Es ging gegen Ostern, und dir Schulen entließen ihre Konfirmanden. Eines Tages, als Asmus von der Schule nach Hause ging und über einen freien Platz schritt, flog ihm sausend ein großer Stein so nah am Gesicht vorüber, daß er um ein Haar getroffen worden wäre. Er wandte sich und bemerkte in einem Winkel des Platzes eine Rotte von dreißig bis vierzig Konfirmanden, die sich, da er stehen blieb und sie ansah, langsam in eine Straße zurückzog. Er kannte keinen dieser Knaben; sie zu verfolgen, hätte keinen Sinn gehabt, da er keinen erwischt hätte, am wenigsten wahrscheinlich den Täter, und überdies waren die entlassenen Kinder der Schulzucht entzogen.

Ihm als Asmus Semper konnte der Stein nicht gegolten haben; denn er hatte mit diesen Zöglingen einer anderen Schule nie das Geringste zu tun gehabt. Der Stein galt dem Lehrer, dem Vertreter der Autorität und Schulgewalt, und das machte den Vorgang so traurig. Haß, Wut, Rachsucht, zum mindesten ein roher Frevelmut hatte diesen Stein geschleudert. Er litt noch lange unter diesem Stein, der ihm sein Weltbild zerfetzte; aber er ahnte nicht, daß es solche Steine auch regnen kann.

Wie hätte er auch allzulange trüben Gedanken nachhängen sollen – gönnte ihm das Leben doch immer noch so viel! Sein Weib, seine Kinder, seine Freunde beglückten ihn jeden Tag und jede Stunde durch Liebe, durch Frohsinn und Gedeihen, durch Beifall und Teilnahme und Aufmunterung! Auch eine Schwester seiner Gattin kam seit einiger Zeit öfter ins Haus, Gesa hieß sie, Gesina, und war so hübsch wie ihre Schwester; aber das war auch so ziemlich alles, was sie miteinander gemein hatten. Gesina spielte eine Soubrettenrolle im Welttheater; sie lachte mehr als sie sprach, und ihr Zünglein stand selten still. »Rappeltasche« hatte sie daheim geheißen; ihre Rede klang wie eine Staccato-Kadenz von Sarasate oder Burmester oder wie wenn zahllose Glasperlen aus einer Schale auf den Fußboden rieseln; sie hätte Schillers Glocke in drei Minuten hersagen können. Und eines Tages brachte sie plötzlich einen riesigen Seebären mit, einen Steuermann mit Namen Jan Bleicken, der fortan die Führung dieser flotten Rennjacht übernehmen sollte. Asmussen wurde immer im Innersten wohl, wenn er liebe Gäste an seinem Tische sah, und es waren warme, gütige Stunden, wenn das goldene Licht der blitzblanken Lampe auf den schneeweißen Tisch fiel, wenn Gesina mit kindlichem Geplauder den Tee einschenkte, wenn Jan bedächtig und schwer von See und Seefahrt erzählte, wenn er nach einer Weile mit verschmitztem Augenzwinkern ins Seemannslatein hinüberdrehte und Asmus mit ebensolchem Zwinkern sagte: »Das glaub' ich Ihnen gern!«

Den alten Freunden gesellten sich neue zu, und Asmus hielt seine Freunde fest, wie sie ihn festhielten. Zu den alten gehörte seit langem Dietrich Freiherr von Löwenclau, Hauptmann a. D. und Frontoffizier der Lyrik.

»Semper! Sempiternus! Sempervirens, Sempre avanti!« krähte es auch um diese Zeit wieder einmal vom Vorplatz herein, »wo stecken Sie?! Sünd Se to Huus?«

Asmus riß belustigt die Tür auf, und herein stapfte mit kurzen, adretten Schritten ein kleiner Mann von militärischer Haltung, an dem sogleich die Augen als sein Merkwürdigstes auffielen. Es waren die wasserhellen, ewig wechselnden Augen der Nixenkinder, wie man sie im meerumschlungenen Schleswig-Holstein auch sonst noch findet.

»Wie geht es Ihnen, mein herrlicher Poet, und Ihrer hochverehrten Gattin – Gott, ist das eine wundervolle Frau! Und Ihrer lieben alten prächtigen Frau Mama! Und Ihren entzückenden Kindern – Herrrrgott!!! was sind Sie für ein glücklicher Mensch!!! Asmus Semper, omnia sua secum portans! Sie ahnen nicht, was das bedeutet! Hören Sie, lieber Freund, ich komme nur, um Ihnen etwas Unglaublich-Köstliches zu erzählen! Sie werden lachen, lachen!!! Denken Sie: mein neuester Gerichtsvollzieher heißt Unverhofft! Un–verhofft!!! Stellen Sie sich vor, wie ich gebrüllt habe! Unverhofft kommt oft!!! Ist das nicht herrrrlich??!!!«

Asmus stimmte herzhaft in das Lachen des Barons ein und wollte ihn zum Sitzen nötigen, kam aber nicht dazu.

»Negen Mark föftig will de Kirl vun mi hebben«, krähte Löwenclau schon wieder, »könt Se mi negen Mark föftig pumpen?«

Das konnte Asmus zufällig.

»Tausend, tausend Dank, lieber Freund, am Dienstag haben Sie es wieder!«

Asmus wußte, daß er darauf bauen könne.

»Mein Gott, Semper, welche Schmach für unser Teutschland, daß es uns hungern läßt! Aber wir müssen kämpfen, käm–pfen!! Die Zähne zusammengebissen und drauf!! Pfeffer in Euren Schlund und meine Faust!! Und Sie werden sehen, wir dringen durch! Wir werden siegen. Sie, mein Herrlicher, und ich auch! Wir werden im Golde wühlen, mein Teurer! Hat man ka Göld, ist man wie a Sau!«

In diesem Augenblick trat Asmussens Mutter ein.

»Frau Semper, ich sagte soeben Ihrem Sohne: Wir müssen kämpfen; aber wir werden siegen! Herrgott, was haben Sie da wieder für ein Gedicht in der ›Gesellschaft‹ gehabt, mein Semper:

»Was ich dann, am Kreuz des Lebens hangend,
Schlimmes leide und noch Schlimmres lerne –
Nächtlich her in meiner Seele Schatten
Winkt ein stilles Licht aus dunkler Ferne.«

»›Am Kreuz des Lebens hangend!‹ – herrlich, herrlich! – ›Schlimmes leide und noch Schlimmres lerne!!!‹ Wunderbar!!! Unglaublich schön!!! Also, mein Semper, mein Titus Sempronius, Sie kommen jetzt mit mir nach Oldensund zu meiner Frau Sievers, die eine ganz vorzügliche Linsensuppe kocht; hinterher gibt es eine gebratene Ente und einen wundervollen Rotspohn. Zum Nachtisch bekommen Sie eine pechschwarze Yara-Kuba und meine neueste Novelle, die Ihnen ›gewidmet‹ sein soll. Ein scheußliches Wort: ›gewidmet‹, mir immer greulich gewesen; ich werd' es natürlich nicht brauchen, sondern einfach darüber setzen: ›An den Elite-Menschen Asmus Semper!‹ Apropos ›Elite-Mensch‹! Kennen Sie schon Leo Finstermünz? Das ist ein Riese, der in die Weltliteratur kommt, passen Sie auf! Ein kleines Kerlchen; aber ein Lassalle-Kopf!! Natürlich Jude und Sozialdemokrat. Sind Sie Antisemit?«

»Beinahe das Gegenteil,« rief Asmus.

»Nun, ein ganz klein wenig bin ich's schon, und ich hasse die Sozialdemokratie!!! Aber das ist mir ganz wurscht; für mich entscheidet der Mensch und der Künstler! Finstermünz wird auch mit von der Linsensuppe sein; Sie müssen sich kennen lernen, ein Elitemensch den andern; es wird köstlich werden!«

Asmussen war es bei diesen komischen Hyperbeln immer, als würde er unaufhörlich mit Kübeln heißen Wassers überschüttet; er fühlte, wie eine Schamröte nach der andern ihn vom Wirbel bis zu den Fußspitzen überlief und wand sich jedesmal wieder vor Verlegenheit wie ein Tertianer in der ersten Tanzstunde; aber es gab keine Rettung. Erstens ließ das Temperament dieses lyrischen Heißsporns gar keine Zeit zum Protestieren, und übelnehmen konnte man diesem seltsamen Bezauberer überhaupt nichts. Das Entscheidende aber war, daß diese ausgiebigen und geräuschvollen Ehrensalven in ihrem Kerne ehrlich empfunden waren. Dieser Offizier und Freiherr war vor allem andern darin ein Aristokrat, daß er über fremde Leistungen und fremdes Glück eine fast größere Freude empfand als über eigenen Gewinn, eine schier kindliche Freude, die nie etwas gehört zu haben schien von einem Scheusal mit grüngelbem Gifthauch, das man »den Neid« nennt. Es gab für ihn kein fremdes Glück und keine fremde Leistung.

Und dann machte es Asmussen Freude, daß seine Mutter diese Lobrede hörte und ohne Abzug glaubte. Sie hatte so viel Anspruch auf Sonne am Abend. Eigentlich war sie ja Anarchistin; aber was ein Baron sagte, das war doch zu beachten. Sie war überhaupt Loyalanarchistin.

Asmus sah mit dem kriechenden Blick eines Verbrechers nach der Arbeit, die auf seinem Schreibtisch wuchtete; aber auch er hatte des holden Leichtsinns zuviel, um solchen Lockungen wie Entenbraten und Elitemensch zu widerstehen; seine Seele setzte mit einem Grätschsprung über den Schreibtisch hinweg und ging mit. Man verabschiedete sich von Hilden, und Löwenclau nahm Gelegenheit, ihr dreimal auseinanderzusetzen, was für eine Qualität von Mann sie habe.

Und hier muß nun ein ebenso banaler wie wichtiger Passus über den Charakter Hildens eingeschoben werden. Sie hatte ihre eigene Suppe nahezu fertig und freute sich schon darauf, wie sie ihrem Liebsten munden werde, und doch ließ sie ihn lachenden Auges ziehen. Ihn erwartete ja ein Vergnügen. Ja, sie war insofern gar keine »deutsche Hausfrau«, als sie sich nicht einbildete, einen Sklaven gekauft zu haben, dessen Bewegungsfreiheit genau so weit reichte wie ihr Schürzenband. Sie würde verständnislos den Kopf geschüttelt haben, wenn man ihr gesagt hätte, ein Gatte habe weniger Bewegungsfreiheit als ein Junggeselle. Sie wußte, wenn er mit dem Baron ging, daß es voraussichtlich spät mit seiner Rückkehr werden würde. Aber sie wußte viel gewisser, daß dergleichen bei ihm nicht Gewohnheit werden könne, weil er einem stärkeren Herrn gehorchte als solchen Freuden. Sollte sie gegen ihn sein, wenn er fröhlich war? Sie beide wollten nichts gegeneinander; alles wollten sie miteinander und füreinander.


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