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Ein Einschleicher.
»Im Hafen sollen Fälle von Cholera vorgekommen sein.«
»Ei was! Blinder Lärm. Sie kommen doch heut Abend in den Klub?«
»Natürlich.«
Am 22. August war ich mit einem Freunde 96 Stufen hinauf- und herabgeklettert, und es mochten etwa 25 Grad Réaumur sein. Also ein kühlender Trunk war verdient. Neben uns saßen acht biergewohnte Bürger bei ihrem Nachmittagstrunke. Und mitten in der behaglichsten Stimmung fiel es dem einen plötzlich heraus:
»Die Cholera ist wirklich da.«
»Unmöglich« – der eine. »Also doch« – der andere. Und während sich die Züge der Besorgnis schleichend auf allen Gesichtern eingruben, versuchte einer die lastende Stimmung durch einen gezwungenen Scherz zu durchschneiden.
»Also kein Bier mehr trinken – Kellner – Glas Grog.«
Als ich nach Hause kam, war ein Bekannter dagewesen. Im Krankenhause sei schon kein Platz mehr und die Leichenhalle am Holstentor sei überfüllt.
Und am nächsten Morgen kam die Zeitung: »Leider steht es jetzt außer allem Zweifel, daß in unserer Vaterstadt die asiatische Cholera –«
»Eine Proletarierkrankheit!« hieß es. Und der es sprach, ein stattlicher, brutal gesunder Mann, der an unseren Tischen saß, ist nach vierundzwanzig Stunden schon tot und blau.
Am andern Tage beginnt sich's seltsam zu regen in den Straßen. Wagen mit Koffern und reisegerüsteten Menschen rasen zum Bahnhof. »Nur erst fort, erst fort sein,« steht in den Gesichtern. »Es kommt hinter uns, das Gespenst; den Atem anhalten.«
In anderen Wagen sitzt immer ein Einzelner, meistens ein junger Mann, dem man sofort den Arzt ansieht. Ärzte, Ärzte und immer Ärzte. Sie halten sich nicht lange in den Häusern auf, in die sie selbstvergessen eindringen. Es muß schnell gehen, und die Diagnose ist heute leicht. Cholera, Cholera, alles Cholera.
Andere Wagen rollen vorüber. Man wirft einen Blick hinein. In den Ecken sitzen, nein liegen, hängen, in wollene Decken gehüllt, arme, elende Menschen mit blauem Gesicht und großen Augen, ein Wärter ihnen gegenüber. Viele sterben schon im Wagen. So geht's von einem Hause zum andern. Die Toten holen die Lebendigen ab.
Und andere Wagen kommen; sie sind geschlossen, man kann nicht hineinsehen. Aber man weiß, was darin ist. – Wie viele?
Nach Hause, nach Hause; wer weiß, ob du sie noch alle antriffst?
Wieder die Zeitung. Diese Zahlen, diese Zahlen! Zweihundert – dreihundert – vierhundert –! Wird noch jemand übrig bleiben?
Der Feind ist entdeckt, der heimtückische, furchtbare, allmächtige Feind: das Wasser. Aus den Röhren der Leitung tropft das Gift. Hunderte von Armen, Erwachsene und Kinder, trinken ahnungslos – leichtsinnig – verwegen den Tod.
Die Häuserwände, Zäune, Litfaßsäulen, Bäume bedecken sich mit roten, grünen, blauen, gelben, weißen Plakaten: Warnungen vor diesem, vor jenem, vor allem! – Desinfektionshallen – Notstandskomitees – Aufrufe – Sanitätswachen.
Indessen steigen die Zahlen – fünfhundert – sechshundert – siebenhundert – achthundert – gerechter Himmel! Und man weiß: die Zahlen sind falsch; Gräßlicheres steckt noch dahinter, geheim; es sind vielleicht doppelt so viel.
Die Männer versuchen der Panik zu widerstehen: Festes, ernstes, eisernes Schweigen. Ein Warten mit aufeinandergepreßten Zähnen: »Wie lange willst du noch?« Aber eine allgemeine Nervosität des Bauches. Man tut ihm Abbitte, dem guten Bauche, nachdem man so verächtlich von ihm gesprochen. Er ist so wichtig, wenn man gern leben möchte.
Man macht die Probe auf das kostbare Problem, ob es sich lohne, zu leben mit dem beständigen Gedanken an den Tod. Nein, nein, es lohnt sich nicht. Die stinkenden Makrelen des guten Sir John sind nicht so wegwerfenswert wie solch ein Leben. Ein Krankenwärter erhängt sich an einem Türpfosten des Lazaretts, weil ihm schwindelt vor Grausen – oder Wahnsinn? Es ist eine Angst zu leben, wenn die Leichen umher sich bergehoch häufen.
Man setzt sich zu Tisch und ißt und trinkt. Mißtrauen würzt jeden Schluck und Bissen, als wäre man ein Despot, auf den der Meuchelmord lauert. Plötzlich fällt es der Frau ein, daß sie eine Schüssel mit angekochtem Wasser gewaschen hat – Gift! Gift! Weg damit vom Tisch! – Ach, man hat keine Freude mehr am Leben.
Der peinigendste Gedanke sind die Kinder. Wie soll man sie hüten, da man sich selbst kaum zu helfen weiß? Was blühend und vollwangig und glücklich spielend unser Knie umfaßt, kann nach wenigen Stunden vor uns liegen, starr und gekrümmt, eine schwarze Masse Kot.
Die Kinder, scheint es, sterben vom bloßen Anhauch der Würgerin.
Und andern Kindern sterben die Eltern weg. Sie irren umher; man führt sie nach Hause zurück und findet in den Lumpen des Bettes Tote und Kranke nebeneinander, tote Mütter und lebendige Kinder daneben. Man erbricht Wohnungen, – denn seit Tagen hat man ihre Bewohner nicht gesehen – und findet Tod, Tod, Tod. Einsam gestorben – alles, alles.
Einzelne, die ihre Familien überleben, geben sich in der Angst der Einsamkeit, im Wahnsinn des plötzlichen Verlassenseins den Tod.
An der Straßenecke steht einer in Strümpfen und sucht in seinem Stiefel. »Die Bazillen, die Bazillen! Sie sind mir in den Stiefel gekrochen.«
Die Gänge und Winkel der Proletarierquartiere sehen den ganzen Tag den Krankenwagen. Schreiende, zappelnde Kinder werden den Müttern entrissen und in den Wagen gebracht. Die Transporteure sind betrunken; sie müssen trinken bei dem grausigen Geschäft. Der Alkohol ist ein resoluter Kerl; er packt die schlotternde Menschennatur beim Genick und hält sie steif. Und der Kognak macht aus der Not ein Vergnügen. Wer nicht gutwillig hineinwill in den Wagen, wird mit kräftiger Hand und einem kräftigen Wort hineinbugsiert. »Holl di man ni opp! Wi hebbt keen Tid!«
Und in der Tat, die Zeit ist knapp. Denn hinter dem Krankenwagen steht ein Leichenwagen und wartet.
Nie sah man so viel Betrunkene wie jetzt. Ein Schwerbetrunkener wird in den Krankenwagen gehoben. Er ermuntert sich und beginnt alsbald zu singen: »Europa hat Frieden, Europa hat Ruh.« Ein Toter stiert ihn aus verglasten Augen an.
Im Bureau des Krankenhauses wird am Schalter Auskunft gegeben über die Kranken.
»Wie geht es Nr. 874?«
»Nr. 1051?«
Ein altes Mütterchen fragt nach Nr. 915, einem Jüngling, »der ein einziger Sohn war seiner Mutter, und sie war eine Witwe«.
»Ihrem Sohn geht es leider schlechter.«
»Ach – – er war doch gestern in der Besserung?«
»Ja – ich will noch mal nachfragen.«
Dem guten Beamten will die Wahrheit nicht über die Zunge; er braucht einen Aufschub, um sich zu sammeln. Aber was hilft's? Er kommt zurück.
»Liebe Frau – ich muß Ihnen leider sagen, daß Ihr Sohn tot ist.«
Man muß sich abwenden. Schlimmer als die verzerrten Züge der Toten ist der Jammer der Lebenden.
In den Krankenhäusern, in den Leichenhallen, in den Möbelwagen liegen sie übereinandergeschichtet, die Toten. Gräßlich, gräßlich zu sehen. Männer, die in der Schlacht über klaffende Leiber und durch dampfendes Blut geritten sind, haben so Schreckliches nicht gesehen. Die blauschwarzen Gesichter, die stierglotzenden Augen; verkrampfte, verdrehte Glieder; die Arme erhoben wie zu entsetzter Abwehr, die Finger wie Krallen gekrümmt, eine Versteinerung der zuckenden Qual; ein Augenblicksbild der Höllenpein – – – –
Draußen, auf dem Friedhof, im Garten des Todes, erwacht ein reges Leben. Wagen auf Wagen hält vor der Pforte bei Tag und Nacht. Bei Sonnenschein und Fackellicht sinken sie hinab, »ohn' Nachtmahl, ohne Ölung«, ohne Sarg, in Säcken von grobem Leinen. Eine Schicht Kalk – eine Schicht Menschen – eine Schicht Kalk – eine Schicht Menschen – eine traurige Litanei, ein frostiger Kehrreim. Viele dem Namen nach unbekannt. Was soll der Name noch gelten, wo der Mensch nichts mehr gilt? Über siebenhundert in vierundzwanzig Stunden! Alle in eine »gemeinsame Gruft«!
»So traurig wohl keine wie diese Ist unter des Himmels Luft. – – Ein ungeheurer Knäuel, Zehntausend oder mehr. Es zieht sich über den Greuel Ein dünner Rasen her.« – |
So klein, so nichtig erscheint der Mensch, wenn der Tod ihn spielend zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt! Und so groß, wenn er lebengewappnet mit ihm um die Beute ringt.
Heiliger Ernst, heiliger Mut, heilige Liebe ringen mit dem Würgengel. In die Höhlen des Elends steigen sie hinauf und hinab. Man findet die Menschen in Kammern ohne Licht und Luft, auf Stroh liegend, mit Pappdeckel zugedeckt. – – –
Frische, gesunde, starke Leben werden gewagt an halb, an dreiviertel erloschene – an erlöschende.
Aus einer Elbinsel werden zwei Kranke von allen verlassen – gemieden wie die Pest. Keiner erbarmt sich ihrer. Aber ein Schulmeister macht sich daran und pflegt sie. Er allein, ohne Hilfe. Tage und Nächte hindurch. Er bricht fast zusammen, schon von der Krankheit erfaßt; aber er hält sich aufrecht. Er hat keine Zeit, müde zu sein. Erst als beide gestorben sind, nimmt er sich die Zeit, sich auch hinzulegen und zu sterben. –
Das Ungeheuer weicht. Langsam, langsam, wie Nebel aus tiefen Schluchten; aber es weicht. Gestern ertappte ich mich darauf, daß ich einen Artikel über das Militärbudget las, bevor ich nach der neuesten Choleraziffer sah. Und doch sterben noch fünfzig, sechzig, siebzig an einem Tage. Ein zu lange gedrückter Mensch will aufatmen, allem Unglück zum Trotz; die Lungen sind da und wollen sich bewegen. Und es ist ihm schon Erlösung, wenn die den Hals umklammernde Faust sich um die Breite eines Strohhalms weitet.
Sonntag. Tausende pilgern an die schönen Elbufer von Övelgönne und Nienstedten hinaus, in lachenden Toiletten.
Man tauscht die Erlebnisse der Woche aus.
»Auch der?«
»Die auch?«
Links und rechts sind sie gefallen, wie in einer Schlacht.
Im übrigen Trinken, Plaudern, Lachen.
Vor meinem Fenster rast eine lustige Fuhre vorüber. Es sind Cholerawaisen, die man in der Nähe untergebracht hat. Sie vergnügen sich mit einem kleinen Wagen und jagen eilends davon. Rote Backen, glänzende Augen.
Die weite Wiese vor meinem Fenster liegt im lichten Morgennebel. Einzelne Sonnengoldfäden blitzen auf und verlöschen im bläulichen Schleier. Eine Riesengestalt, unkenntlich, rätselhaft, stapft durch den Nebel: Ein einsamer Mäher; zu seinen Füßen fährt es blinkend hin und her.
Und kleiner und kleiner wird die schattenhafte Gestalt.
Und leise – fern – verrauscht der Ährenschnitt. –