Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LVII. Kapitel.

Warum alle Semper sangen.

Und er bedurfte des stärkenden Schlafes; denn wenn er erwacht war, hieß es eine tägliche Last auf sich nehmen: die Bewältigung des Briefstapels, den jeder Tag ihm brachte. Da gab es oft genug ein stark vernehmbares Seufzen und Stöhnen; aber welch ein reiches, wunderlich-buntes Leben quoll doch aus diesen Briefumschlägen hervor! Da gab es nicht nur die üblichen Bettelbriefe, die selbstverständlichen Manuskripte und Bücher voll Gedichte, Romane und Dramen, die er prüfen, ausflicken und bei Verlegern und Redaktionen unterbringen sollte – nein, da kamen auch recht ungewöhnliche Dinge zum Vorschein. Da waren Jünglinge und Jungfrauen, die in ehrlicher Gewissensnot von ihm wissen wollten, was von jeder der bestehenden Religionen, von den Sittengesetzen, von den einander widerstreitenden politischen und ästhetischen Anschauungen der Menschen zu halten sei. Sie wollten von ihm die »einzig richtige Weltanschauung« (– »eine kann doch nur die richtige sein!« –) erfahren, und zwar bis ins einzelne wohl ausgearbeitet und begründet. Da waren bangende Mütter und Väter, Erzieher und Vormünder, die von ihm wissen wollten, wie sie ein mißratenes oder schwer zu leitendes Kind behandeln sollten, welchen Beruf sie es ergreifen lassen sollten. Asmus empfand es freilich als Pflicht, für solche Menschen, die er durch seine Bücher, Stücke und Reden an sich gezogen hatte, das, was er gesprochen und geschrieben hatte, zu erläutern, zu ergänzen und zu verbessern; aber wie unsäglich schwer war es, in die Ferne hinein wildfremden Menschen zu schreiben, was ihnen frommte! Angeklagte sandten ihm ihre Prozeßakten und wünschten, daß er ihnen beistehe; Beamten sollte er durch Fürsprache zu einer Beförderung oder zur Versetzung nach dem schönen Hamburg verhelfen; Insassen von Irrenhäusern setzten ihm in merkwürdig klaren Briefen auseinander, daß sie nur aus Bosheit im Irrenhause festgehalten würden und von ihm die nötigen Schritte zu ihrer Befreiung erhofften – kurzum: wenn er noch keinen Beruf gehabt hätte – hier gab es ihrer mehrere zur Auswahl. Auch Dinge zum hellen Lachen gab es, z. B. wenn Entrüstete ihm schrieben, daß es mit dem »Idealismus« (in Gänsefüßchen), den er in seinen Werken vertrete, in Wahrheit schlecht stehen müsse, wenn er ihnen nicht einmal die erbetenen lumpigen zwanzigtausend oder fünfzigtausend Mark »leihen« wolle, da er doch mit jedem Stück »Millionen« verdiene. Und Briefe zum Lachen und Weinen durcheinander gab es. Aus Honduras und Togo, aus Neu-Seeland und Japan, aus Kapland und Kalifornien, aus fernsten Winkeln der Welt schrieben ihm einsame Volksgenossen: In deinen Büchern haben wir die Heimat gefühlt. Das war Lohn. Lohn, wie er ihn mit tausend Werken nicht verdienen, den man überhaupt nicht durch Bücher, den man eigentlich nur durch Taten verdienen konnte. Als kostbarstes Juwel hob er in seiner Schatztruhe den Brief einer halbgelähmten Schweizerin auf, die schon 16 Jahre ihres Lebens im Lehnstuhl verbrachte und nur noch mühsam mit dem Bleistift schreiben konnte und nach und nach doch acht Seiten vollgeschrieben hatte! Dieser Asmus war ein wenig zu intelligent, um den »Allerweltsmundruhm«, der ihm, wie einst seinem großen Kollegen Byron, über Nacht angeflogen war, nicht binnen vierzehn Tagen bis in seine strohernen Eingeweide hinein zu durchschauen; aber war es ihm so sehr zu verargen, wenn ihm bei solchen Briefen ein sanfter Größenwahn übers Herz lief und er auf Augenblicke dachte: »Mein Gott, vielleicht bin ich doch etwas?«

Unter dem üppigen Postsegen eines Tages fand sich auch ein Brief des Herrn Dr. Kuno Kuntze, der um die Erlaubnis zu einem Besuche bat. Herr Dr. Kuntze pflegte mit sonnigem Lächeln zu grüßen, wenn er Asmussen auf der Straße traf. Asmus lachte vergnügt in sich hinein und schrieb, daß er Herrn Dr. K. erwarte.

Kuntze war knapp bei Gelde und wollte »als Dichter« eine Ehrengabe aus einer Stiftung haben, deren Vorstande Asmus angehörte. Da nun Herrn Sempers Stimme »sicherlich großes Gewicht habe und Herrn Sempers strenge Objektivität bekannt sei usw.«.

»Herr Doktor,« sagte Asmus lächelnd, »diesmal weiß ich, daß Sie mich – erst vor kurzem – verrissen haben!«

Kuntze wurde – das muß zu seiner Ehre gesagt werden – burgunderfarben im Gesicht.

»Nicht wahr, die Kritik in der ›Palästra‹, in der Sie eine Szene aus meinem ›Bureaukratius‹ als ›faustdicke Lüge‹ bezeichnen, ist doch von Ihnen?«

Kuntze stierte auf den Boden und schien wie Moses zu denken: »Wie ist das ruchbar geworden?«

»Nun ja,« fuhr Asmus fort, »es war nicht Ihre Absicht, daß ich diese Beschimpfung, die Sie sicherlich selbst nicht glauben, lesen sollte. Aber dergleichen geht mir jetzt lückenlos von anonymer Seite zu – mit hübschen Randbemerkungen – so daß ich die Ausgabe für ein Nachrichtenbureau spare. Herr Doktor, wenn ich Geschmack für Edelmutsattitüden hätte, so würde ich jetzt sagen: ›Ich werde Ihr Gesuch befürworten.‹ Aber dann würde ich die Literatur fälschen. Diese Ehrengaben sind nur für starke Talente, und zu denen gehören Sie meines unmaßgeblichen Erachtens nicht. Wie das die Regel ist, sollte man nach den Maßstäben, mit denen Sie andere messen, von Ihnen viel mehr erwarten, als Sie leisten. Also: befürworten kann ich Ihr Gesuch nicht; aber ich werde es selbstverständlich auch nicht bekämpfen, weil ich ja ›Partei‹ bin.«

Kuntze war schlau; er fühlte, daß die Situation nur noch auf eine Weise zu retten sei. Er erhob sich mit einem Ruck und sagte mit Krokodilsaugen:

»Herr Semper, Sie sehen mich ehrlich beschämt. Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen verspreche, daß Sie in Zukunft mit mir zufrieden sein sollen?« Er streckte die Hand aus.

Asmus übersah die Hand und sagte: »Ich werde mich freuen, wenn es so kommt. Ein Unrecht, das aufgehört hat, habe ich vergessen. Nur seien Sie um Gottes willen nicht der Meinung, daß Sie mich jetzt loben müßten. Bis jetzt lebt auf dem bewohnten Erdkreis kein Mensch, dem ich eine anständige Kritik übelgenommen oder gar nachgetragen hätte.«

Herr Kuntze verbeugte sich und ging rückwärts zur Tür. »Sie wohnen hier wundervoll!« sagte er.

»Ja,« sagte Asmus. –

Wenn er dann drei, auch vier Stunden am Schreibtisch gehockt hatte – bei Briefen aus Togo oder Neu-Seeland sprang er freilich auf und machte entsprechend weite Reisen durchs Zimmer – dann hatte er Verlangen nach Bewegung, und wenn er keinen Spaziergang machte, ging er in das Billardzimmer, das er sich auch hatte anbauen lassen. Dort pflog er dann mit sich allein dieses edlen Spiels, bei dem das dumme Glück und der grobe Zufall so vollkommen ausgeschaltet sind, das man nur mit sicherem Auge und mit einem empfindlichen Muskelgefühl gewinnt, das den ganzen Leib in mäßiger und wohltätiger Bewegung erhält, die Nerven in eine angenehme Spannung versetzt und bei dem man gleichzeitig noch sorgfältig gezielte Epigramme formen kann.

Aber mochte der Quartball noch so interessant und noch so schwierig zu berechnen sein und mochte das betreffende Epigramm noch so nahe der Vollendung sein: eines vermochte ihn sofort auf andere Wege zu locken, und das geschah, wenn im anstoßenden Wohnzimmer, zu dem ein paar Stufen hinunterführten, die Tasten des Flügels angeschlagen wurden. Die Semper hatten keinen prachtvollkalten »Musiksalon«; dazu war ihr Haus zu klein; die Musik hauste mit ihnen im Wohnzimmer. Und wenn er dann merkte, daß es eine Sonate von Beethoven oder Schubert gab, oder die Freischütz-Ouverture oder »Die weiße Dame« – die war ihm das lieblichste Meisterstück der Romantik in der Musik – dann schlich er sich mit dem Queue in der Hand an die Tür und horchte. Und wenn unten jemand zu singen begann, dann lehnte er das Queue leise an die Wand, schob leise die Schiebetür zurück und setzte sich auf die kleine Treppe zu seinem Freunde, dem ehrenfesten Dachshund Manne. Und dann sang Hilde mit, und dann Isolde, und dann Gesina, und dann er selbst, und zuletzt konnte sich Wolfram nicht mehr halten, obwohl in das mutierende Chaos seiner Stimme erst die ersten Lichtstrahlen eines musikalischen Gehörs herniederzuckten, und die Jüngste lag oben in ihrem Bettchen und hörte zu. Wie die Semper lachen mußten, so mußten sie auch singen; sie sangen eigentlich noch mehr, als sie lachten. Schon in Asmussens Vaterhause hatten alle, alle gesungen, auch in Zeiten, da es ihnen gar nicht sonderlich gut erging. Singen war ihnen nur eine andere Art des Atmens, ein tieferes, nachdrücklicheres, inbrünstigeres Atmen; sie mußten Luft hereinholen, wenn es drinnen zu eng war, und sie sangen oft, nicht weil ihr Herz sich frei fühlte, sondern weil es sich frei machen wollte. So hatte es denn in den winzigen Kammern des Vaterhauses gehallt und geklungen wie in den Käfigen eines Vogelhändlers, und wenn der Vater gesungen hatte:

»Tränen, vom Freunde getrocknet«,

dann hatte gleich darauf die Mutter begonnen:

»Nach Sevilla, nach Sevilla,
Wo die letzten Häuser stehen –«

und sie brauchte nur eine Pause zu machen, so begann Johannes:

»Die Verleumdung, sie ist ein Lüftchen«.

Asmus nun besaß ein leicht fassendes und treues musikalisches Gedächtnis, und so hatte sich in seinem Herzen ein wahres Musikalienlager von Melodien aufgehäuft. Sie hatten gar keinen Platz mehr da drinnen; sie drängten hinaus und traten ihm auf die Lippe, auch wenn ihm eigentlich gar nicht nach Singen zumute war. »Was fällt dir ein?« riefen sie. »Maulklemme? Laß uns hinaus!« Und die Weise, die gerade vorn war, sprang zuerst heraus. Vielleicht hatte ihm gerade jemand einen recht großen Stein ins Seelenfenster geworfen; dann sang er zehn Minuten später – kaum, daß er's wußte –:

»Der Odem der Liebe
Erquicket die Seele,
Ist Balsam, so wonnig,
So schmeichelnd und weich!«

Oder er war sich gerade des vollsten und innigsten Besitzes seiner Hilde bewußt geworden, dann sang er in seiner Freude:

»Ach, ich habe sie verloren,
All mein Glück ist nun dahin,
O, wär' ich nie geboren,
Weh, daß ich auf Erden bin!
Eurydike! Eurydike! –«

Oder ihm lag vielleicht nichts ferner als Kampf und Streit, und er hatte für den Augenblick nichts weiter vor, als sich eine möglichst gute Zigarre aus dem Schranke zu holen; dann schmetterte es jählings durch seine Zähne.

»Heraus zum Kampfe mit uns allen!«

Oder es war sein Hochzeitstag – da pflegte er mit seiner Hilde irgendwo am Elbufer zu speisen, er mit ihr ganz allein, ganz allein – und frühmorgens, wenn er sein Sturzbad nahm und sich auf dieses einsame Aug-in-Auge freute, trällerte er:

»Ich unterdessen,
Nach alter Weise,
Führe mein Liebchen
Trotz Sträuben und Ach
Ins Seitengemach,
Ins Seitengemach!
Blonde, Brünetten,
Wollen wir wetten,
Zählt mein Register
Morgen noch mehr!«

Er war sozusagen eine vom lieben Gott gebaute Spieluhr, die immer wieder von selbst anhub und sich selbst aufzog.

Und mit allem war er sogleich versöhnt, wenn er's in seinem Hause klingen hörte und er, das Ohr an der Tür, feststellen konnte, daß sein Weib oder eins seiner Kinder sang. Denn wenn er Musik hörte, dann sah er mit innerem Auge Dinge, die nie in seinem Leben gewesen waren, die keine Erinnerungsbilder waren, die gewiß nicht von außen, durch die Erfahrung in ihn eingedrungen waren und die ihn in seinem Glauben befestigten, daß hinten den Dingen ein Heiliges und Seliges ist, das unser wartet.

Und wenn er so auf den Stufen der Treppe saß oder auf der Ottomane im Winkel lag, wenn er mit den Seinen sang und ihre Züge und Gestalten mit liebkosenden Blicken umzog, dann verströmten alle Dinge des Tages in eine hundertstimmige Abendharmonie, und sein Herz hörte eine Symphonie des Glücks. Und in diese Symphonie zog er alles hinein, was Auge, Ohr und Herz in solcher Stunde gewahrten, auch den warmen Glanz der schönen Lampe, der auf Leonardas Laute und zarte Finger fiel, auch die schlanke Vase mit den gelben Narzissen, auch den Kopf des »sterbenden Sklaven«, der halb aus dem Dunkel tauchte, auch die tiefrote Tulpe, die durch das blendende Weiß der Gardinen brannte, auch den goldbraunen Glanz, der auf Hildens reichem Haare lag. Einer seiner Freunde hatte einmal gerufen: »Nur die Schufte haben Glück in der Welt; die Edlen müssen leiden!« Da hatte Asmus gefragt: »Haben die Schufte wirklich Glück? Ich glaube, der Schuft hat nicht einmal ein Organ für das Glück, hat es so wenig, wie der Taubstumme für Musik. Das Glück ist eine Musik. Es ist niemals in den Dingen; es ist immer über den Dingen. Es ist der reine Hauch, der aus allen schönen und guten Dingen emporsteigt und über ihnen fühlbar wird als ein seliger Einklang.« Er hatte ein glückliches Ohr für solche Symphonien des Glücks; er vernahm sie daheim und draußen, in Kammer, Flur und Feld, und er fühlte in ihnen mit frommer Gewißheit die vorbestimmte Harmonie des Weltalls. Wenn er den vierten Satz der Eroica hörte oder den Zwiegesang Florestans und Leonorens im Kerker, oder wenn er in einen Syringenstrauch blickte und den Duft einsog, oder die Elbe sah bei ruhigem Sonnenlicht, dann ging es wohl plötzlich wie ein Fieberbeben durch seinen Leib, und aus ihm hervor brach ein wildes, heißes, frohlockendes Bekenntnis. »Eine Welt, in der das ist, kann kein Betrug sein!«


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